Klaus Mann - Das literarische Werk

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Was ich Sie fragen will und muß, meine Damen und Herren, ist nur dies: Hatte der Vortrag, den Fräulein von Kammer uns geboten hat, irgend etwas, auch nur das allermindeste mit Rußland zu tun? Ist dieses komplexe und schwierige Problem nicht an den Haaren herbeigezogen worden? – Fräulein von Kammer hat uns gezeigt, was Deutschland war, und was es wieder werden könnte. Sie mußte das gegenwärtige Deutschland anklagen, da sie das Deutschland einer großen geistigen Vergangenheit und einer großen geistigen wie realen Zukunft feiern wollte.

Die Rednerin hat keinen Anlaß zu der Vermutung gegeben, daß sie mit irgendeiner Diktatur sympathisiere. Welche aber wird sie am stärksten hassen? Diejenige, natürlich, die sie am besten kennt – und die ihr eigenes Volk, ihre Heimat erniedrigt. Es ist die Tyrannis im Herzen Europas – die Gefahr und die Schande der Welt; es ist der Nationalsozialismus!«

Nun war er es, der heftig atmete und die tief gerötete Stirne zeigte, wie vorhin der Jüngling mit dem adretten Scheitel. Der saß jetzt ziemlich kläglich in sich zusammengesunken.

Mrs. Piggins, auf dem Podium, raunte Marion ins Ohr:

»Einen besseren Advokaten hätten Sie gar nicht finden können! Professor Abel genießt hier das größte Ansehen. Sicher haben Sie schon von ihm gehört – Professor Benjamin Abel, aus Bonn …«

13

Dank Professor Abels energischem Eingreifen hatte das Meeting einen harmonischen Abschluß gefunden. Marion empfing die herzlichsten Komplimente von Herren und Damen, Professoren, Studenten und jungen Mädchen; es war der gewohnte Triumph. Der gewählte Kreis, den Mrs. Piggins zu einer kleinen »party« in ihr Haus geladen hatte, befand sich in feierlich-animierter Laune.

Das Heim der Dame Piggins lag ein wenig außerhalb des Städtchens; die Gäste wurden in mehreren Automobilen befördert. Ein weißhaariger Kavalier mit Knebelbart und feiner, pfiffiger Miene bat Marion scherzhaft-artig, mit seinem bescheidenen Ford vorlieb zu nehmen. Es war ein reizender alter Herr, sowohl schalkhaft als würdig. »Ihr Vortrag war ganz vortrefflich«, sagte er seiner Dame, wobei er ihr in den Wagen half. »In der Tat: Sie haben mir große Lust gegeben.« – Er redete deutsch, gewandt, wenn auch mit drolligem Akzent; zuweilen ging es ein bißchen daneben – so die Wendung über die »Lust«, die Marions Darbietung ihm gegeben hatte.

Sie mußte lachen, weil es komisch war; schämte sich gleich und war erst wieder beruhigt, als sie ihn heiter reagieren sah. Er drohte ihr mit dem Finger; hinter der goldumrandeten Brille blitzten die blauen Augen, lustig und gescheit. »Lachen Sie nur, gnädiges Fräulein – es steht Ihnen gut zu Gesicht, und ich mag Personen, die sich amüsieren können! Habe ich vorhin etwas Dummes gesagt? Ja, ja, ich vergesse die schöne, komplizierte deutsche Sprache! Sie müssen wissen, ich bin seit dem Jahre 1912 nicht in Europa gewesen. – Das ist lange her«, sprach der alte Herr. Dabei füllte sein Blick sich mit Wehmut. Erinnerungen enthalten immer auch Traurigkeit; sie erfreuen und betrüben das Herz. Der alte Herr lächelte, selig und melancholisch, weil er an Heidelberg dachte. Dort hatte er studiert. – »Wie schön ist Deutschland gewesen!« meinte er sinnend.

Er hieß Franklin P. Schneider und leitete das Germanistische Department der Universität. Seine Eltern stammten aus Hamburg. Er liebte Heines »Buch der Lieder«, Goethes »Faust« – aus dem er Partien ins Englische übersetzt hatte – Wagners »Lohengrin« und den »Grünen Heinrich« von Gottfried Keller. Er besaß eine Kollektion von Bierseideln aus Bayern und Tirol. Bei festlichen Gelegenheiten spielte er Wiener Walzer auf dem Pianoforte – alles sprach dafür, daß er sich heute abend dazu bereit finden würde. Er hatte in Berlin den jungen Kaiser bei der Parade und die Uraufführung von Hauptmanns »Webern« gesehen.

Er war Benjamin Abels Vorgesetzter. »I like Ben«, erklärte Professor Schneider mit warmem Nachdruck. »As a matter of fact, I am very fond of him. He is a grand fellow. Have you met him before?« – Nein, Marion hatte erst heute das Vergnügen gehabt. »Er macht einen sehr guten Eindruck«, sagte sie und sah plötzlich zerstreut aus.

Bei Mrs. Piggins gab es Bier und Sandwiches mit einem Käse, der »Liederkranz« hieß – alles zu Ehren des deutschen Gastes. Später wurde Whisky und Soda gereicht. Mr. Piggins, der Hausherr, war ein lustiger Onkel, er betonte: »Zu Vorträgen gehe ich niemals. Sie machen mich schläfrig.« Er interessierte sich für sein Geschäft, das genug Sorgen und Probleme mit sich brachte. »Was gehen die europäischen troubles mich an?« fragte er Marion. Er unterhielt sich glänzend mit ihr. – »Wir haben unsere eigenen Schwierigkeiten«, erklärte Mr. Piggins. Er sprach von den Arbeitslosen in den USA und von den gefährlichen Konsequenzen des »New Deal«. – »Eines muß man unserem Präsidenten lassen«, gab Piggins zu. »Er hat Courage. Ich bewundere ihn, weil er Courage hat. Aber als Geschäftsmann muß ich doch konstatieren …«

Seine Ansichten und Spekulationen waren für Marion lehrreich und unterhaltend. Mr. Piggins war realistisch, dabei nicht ohne Neigung zum Philosophischen. Er verstand: Die Welt verändert sich, das neunzehnte Jahrhundert ist vorbei – mit ihm die Epoche des unbegrenzten Liberalismus. »Wenn wir unsere Freiheit bewahren und verteidigen wollen, müssen wir sie vernünftig begrenzen.« Dies begriff und billigte Mr. Piggins. Er sagte: »Ich bin nicht reaktionär. Alles Neue hat meinen Beifall, sogar wenn es Opfer kostet. Gewerkschaften müssen wohl sein; die Leute wollen ihre Interessen kollektiv vertreten.« – Andererseits mochte er sich das Geschäft nicht verderben lassen. »Und wenn ich meine Bude nun zumache wegen der hohen Steuern?« Er fragte es etwas drohend. »Wer hätte etwas davon? Es gäbe noch ein paar Dutzend neuer Arbeitsloser …«

Marion hütete sich, Einwände zu machen. Sie hätte es als unschicklich empfunden, sich in Angelegenheiten zu mischen, von denen sie nicht genug wußte; und übrigens war sie müde. Es tat ihr wohl, zu lauschen, anstatt zu reden. Wie angenehm – in einer Sofaecke zu ruhen, vor sich das Whiskyglas, zwischen den Fingern die Lucky-Strike-Zigarette, und sich von einem nachdenklichen Businessman in die Details der amerikanischen Verwaltung einweihen zu lassen! Er sprach von Spannungen und Hoffnungen; von Leistung und von Versagen. Er vertiefte sich in den Personalklatsch von Washington, nachdem er die großen Prinzipien und ihre Auswirkungen in der Praxis humorvoll-gründlich untersucht hatte. Er war sorgenvoll, aber im Grund optimistisch. Er meinte: »Wir sind ein großes und gesundes Volk – auch ein reiches – warum sollte es mit uns schiefgehen? Wir sind jung. Das sind alles nur Kinderkrankheiten.«

Marion bemerkte plötzlich – mit leichtem Schrecken – daß sie nicht mehr aufmerksam zuhören konnte. Die Stimme des Mr. Piggins ward undeutlich; umso eindringlicher klang die des Professors Abel. Er saß am Kaminfeuer, mit Mrs. Piggins, dem wohlwollenden Kollegen Schneider und einem jungen Mann, der ein intelligentes, ziemlich hübsches, sehr braungebranntes Gesicht zeigte. Abel sagte: »Das war eine heikle Diskussion heute abend. Wahrscheinlich habe ich meinen Ruf ruiniert. Mein charmanter Kompatriot, gegen den ich polemisieren mußte, wird verbreiten, ich sei Kommunist. Manche werden es glauben …« – Mrs. Piggins lachte entsetzt – während Benjamin abschließend konstatierte: »Dabei bin ich keiner.«

Er sprach zu dem Kreis am Kamin; seine Blicke aber gingen in die andere Ecke des Zimmers. Dort saß Marion mit Mr. Piggins. Sie dachte: ›Warum starrt er mich so an? Es ist unangenehm. Seine Augen passen nicht in sein Gesicht. Figur und Miene sind die eines behäbigen Familienvaters; der Blick aber wirkt sowohl dumpf als auch feurig. Ein enorm eigensinniger Blick … Die Mischung aus Pedanterie und Leidenschaft ist gefährlich.‹

Sie erkundigte sich: »Wer ist der junge Mann mit dem braunen Gesicht?« – nur aus dem Bedürfnis, irgend etwas zu äußern. Ihre Frage kam überraschend; Mr. Piggins hatte von der Arbeitslosenunterstützung gesprochen. »Man soll mit Frauen niemals über ernste Dinge reden«, meinte er bitter. »Noch die gescheitesten sind nicht dazu imstande, sich länger als zehn Minuten zu konzentrieren.« – Dann gab er Auskunft. Der junge Mann war Direktor eines kleinen Museums, das zur Universität gehörte. Außerdem hielt er Vorträge über Kunstgeschichte. »Ich hatte ihn für einen Studenten gehalten«, sagte Marion und zerknickte Streichhölzer zwischen ihren Fingern. »Er sieht wie ein Neunzehnjähriger aus …« Dabei überlegte sie sich: ›Habe ich mich bei Abel schon für seine ritterliche Hilfe bedankt? Es war besonders nett von ihm und sehr anständig. Das sollte ich ihm doch sagen …‹

Sie sagte es nicht. Sie ging langsam durchs Zimmer, von Mr. Piggins weg, der enttäuscht zurückblieb. Sie näherte sich der Gruppe am Kamin. Ihre Schritte waren sonderbar steif und stelzend. Das Lächeln auf ihrem großen, leuchtenden Mund schien erfroren. Sie bewegte ein wenig das leichte und edle Haupt, während sie stelzend schritt. Was machte sie so erstaunt, daß sie solcherart den Kopf zu schütteln hatte? Die Purpurfülle des Haars tanzte lockig über einem Gesicht, das sehr blaß war.

In der Nähe des Kamins blieb sie stehen. Sie schien verlegen und war sonst doch die Sicherheit selbst. Sie konnte die Hände nicht stillhalten. Es gelang ihr, einen Aschenbecher umzustoßen. – »Wie dumm!« Ihr Lachen klang mühsam. Sie ließ sich in einen Stuhl fallen – so plötzlich, als hätte jähe Erschöpftheit sie hingeworfen. »Ich bin etwas müde …«

Sie hatte es zur Hausfrau gesagt, als Entschuldigung für das Malheur mit dem Aschenbecher. Indessen war es Abel, der antwortete. »Das glaube ich wohl. Sie verbrauchen Ihre Kraft auf dem Podium – man kann es sehen. Ein schönes und beunruhigendes Schauspiel …«

 

»Es freut mich, daß Ihnen mein Vortrag gefallen hat.« Marion sprach konventionell, beinah hart; sie selber wunderte sich über den abweisenden Ton ihrer Worte. War dies ihre Stimme? – ›Mein Gott, ich rede ja, wie Mama es zu tun pflegte – ehe sie durch großes Leid verändert und weich gemacht ward.‹ Marion empfand es mit leichtem Schauder. Übrigens begriff sie, daß ihre Äußerung nicht nur kalt gewesen war, sondern auch unpassend. Abel hatte keineswegs sein Gefallen an Marions künstlerischer Leistung ausgedrückt. Das Wort »beunruhigend«, das er benutzt hatte, war vielleicht in einem ablehnenden oder sogar kränkenden Sinn gemeint.

Die kurze Pause, die entstand, war peinlich. Abel schaute verdüstert; umso enthusiastischer verhielt sich der junge Braungebrannte. Er erklärte: ihm, jedenfalls, habe es kolossal gut gefallen – über alle Maßen gut, er sei ganz entzückt. Ob Fräulein von Kammer morgen noch in der Stadt sein werde? Es würde ihm eine Ehre sein, ihr die Ausstellung zu zeigen, die es jetzt hier im Museum gab. Eine außerordentliche Kollektion von Bildern; höchst eindrucksvoll: wenn man ihm glauben durfte. »Es ist eine Kriegsausstellung«, erzählte er eifrig, »eine Antikriegspropaganda; die meisten Werke stammen von solchen, die es selber mitgemacht haben, in den Schützengräben … Schauerliche Dinge darunter, aber alles sehr stark … Auch die Deutschen sind glänzend vertreten … Nun, Sie werden ja sehen …«

Marion wendete ein: »Aber wahrscheinlich werde ich morgen doch gar nicht mehr hier sein …« Sie lächelte, seltsam hilflos – hilflos unter Abels starrem, forschendem, pedantisch-glühendem Blick.

»Natürlich werden Sie bleiben!« rief temperamentvoll der sportliche Kunsthistoriker. Marion dachte – müde und etwas wirr: ›Sicher ist er ein guter Skiläufer; er sieht mir ganz so aus, als ob er gerade aus den Bergen käme. Ein netter Kerl … Daß mir immer wieder diese Jungens gefallen … Immer diese Leichtfüßigen, mit den schmalen Hüften und den kindlichen Stirnen … Immer diese Läufer; erst laufen sie hinter uns her, dann laufen sie vor uns davon … Nicht ganz der richtige Geschmack für eine schwergeprüfte Dame in mittleren Jahren …‹

Abels bohrender Blick war sehr wohl dazu imstande, die Gedanken hinter dieser Frauenstirn zu lesen. Er wußte: der junge Braungebrannte gefiel ihr – der ewige Boy, der schwärmerische kleine Museumsdirektor. Übrigens mochte Abel ihn gern, er war beinah mit ihm befreundet. Der ewige Boy war dreiunddreißig Jahre alt und hieß Jonny Clark. Benjamin kannte seinen Charme und seine Zuverlässigkeit, seine Intelligenz und das schöne Talent zur Begeisterung. Ein junger Mann mit feinen Qualitäten; aber nichts für Marion. Abel war sehr geneigt, mit gehobener Stimme vorzubringen: Verehrtes Fräulein von Kammer, ich verbiete Ihnen ausdrücklich, sich mit Mr. Clark intellektuell oder gefühlsmäßig weiter abzugeben. – Schluß mit dem Unsinn! – hätte Benjamin gern gerufen.

Statt dessen bemerkte er, mit einer gewissen Schärfe: »Fräulein von Kammers Rezitationen sind aufregend – soviel steht fest. Aufregung ist niemals ein reiner Genuß. – Sie sind eine Agitatorin, gnädiges Fräulein.«

Wollte er sie verletzen? Die amerikanischen Freunde mußten diesen Eindruck bekommen; es berührte sie nicht angenehm. Sollte es Zank geben, am Kaminfeuer der Mrs. Piggins, zwischen Landsleuten und Gesinnungsgenossen – zwischen zwei Exilierten? Marion aber fragte gelassen: »Agitatorin – für was?«

»Für das Gute«, gab Benjamin zu. »Für das Richtige und das Schöne. Gerade deshalb stört die agitatorische Geste. Sie paßt besser zu unseren Feinden. – Vergessen Sie doch nicht: wir sind immer in Gefahr, beim Kampf unser Niveau dem des Gegners anzugleichen. Wir imitieren, nur halb bewußt, Taktik und Gebärde des Feindes, in der Meinung, dies vergrößere unsere Sieges-Chancen. – Falsch!« rief Professor Abel – und jetzt hatte er die Aufmerksamkeit des ganzen Kreises für sich. »Durchaus falsch! Stark sind wir nur, wenn wir ganz wir selber bleiben. Wäre der Kampf nicht sinnlos, wenn er uns dahin brächte, Werte und Gesinnungen aufzugeben, um derentwillen er doch eben geführt werden muß?«

»Danke für die Belehrung!« – Marion schien nun doch ziemlich enerviert zu sein. Sie zuckte böse die Achseln. »Sie finden also, daß ich mich mit meinem Vortrag auf Naziniveau begebe!« – Mrs. Piggins lachte – ebenso entsetzt wie vorhin, als Abel angekündigt hatte, man werde ihn für einen Kommunisten halten.

Benjamin versetzte: »Das habe ich niemals andeuten wollen. Wie können Sie glauben, ich verfiele auf solche Absurdität?!« Die Frage klang heftig; indessen blieb der Blick forschend, zärtlich und ernst. – »Aber gewisse Symptome machen mich bedenklich«, sagte er.

Marion schwieg – zu verärgert, um sich zu erkundigen, von welcher Art die Symptome seien. Professor Schneider stellte die naheliegende Frage.

Abel redete strenge und pedantische Worte – was ihn keineswegs daran hinderte, die Dame, welche er attackierte, mit gierigem, verzücktem Blick zu betrachten. Er sagte: »Für jeden Agitator werden die großen Werte und Namen, auf die er sich beruft, Mittel zum Zweck. Er liebt sie nicht mehr um ihrer selbst willen – oder nicht mehr nur um ihrer selbst willen – er nennt und preist sie, weil sie seiner Sache dienen. Ruhm und Reichtum eines dichterischen Werkes werden solcherart ›in den Dienst der Sache‹ gestellt. Das bedeutet: aus der Vision wird das Schlagwort; das höchst Komplexe erscheint vereinfacht; das Niveau ist gesenkt, dem Demagogenniveau des Feindes angepaßt. – Was hassen wir denn vor allem an der falschen Ideologie und bösartigen Praxis des totalitären Faschismus? Die Vergewaltigung der Wahrheit; die Entwürdigung des Geistes – die nichts anderes als die Entwürdigung des Menschen ist. Vom Geist verlangt der Faschismus, er müsse immer und mit allen seinen Kräften den propagandistischen Absichten des Staates dienen. Der Geist als ein Propaganda-Instrument der Tyrannis – dies ist seine letzte Entwürdigung. Machen wir uns nicht mitschuldig an ihrer Vorbereitung, wenn wir unsererseits die geistigen Werte rhetorisch ›benutzen‹, in der Auseinandersetzung des Tages – anstatt sie zu lieben, gerade weil sie dem Tage entrückt sind und das Unvergängliche, Unverlierbare, das schöne Menschliche repräsentieren?«

Das war ja ein richtiges kleines Kolleg – übrigens innig vorgetragen. Abel machte Eindruck, wenngleich seine Eloquenz auch befremdete: man war sie von ihm nicht gewohnt. – Marion überlegte sich: ›Will er mich kränken? Oder ist dieses seine Façon, mir den Hof zu machen? Ach, diese Professoren! Ach, diese Deutschen …!‹

Da er so ernst und innig bei der Sache war, fand sie es angebracht, etwas Vernünftiges zu erwidern, anstatt nur die Empfindliche zu spielen. Sie sagte: »›Das schöne Menschliche‹ – hübsch und poetisch formuliert! Fraglich scheint nur, ob wir es auch ›das Unvergängliche‹ und ›das Unverlierbare‹ nennen dürfen. Gerade jetzt sieht es doch ziemlich bedroht und gefährdet aus; in Deutschland, zum Beispiel – wo es so besonders zu Hause schien – hat man es zur Zeit ganz verloren. Der Faschismus und ›das schöne Menschliche‹ vertragen sich nicht. – Sie haben es selber betont, Herr Professor! Deshalb bekämpfen wir den Faschismus. Man sollte nicht gar zu wählerisch sein in kriegerischen Zeiten; die Dinge vereinfachen sich. ’s ist Krieg, ’s ist leider Krieg – um noch einen deutschen Dichter zu zitieren, den frommen Matthias Claudius. Hoffentlich finden Sie nicht, daß ich ihn ›demagogisch benutze‹ und ›entwürdige‹ … Entwürdige ich die Großen, wenn ich sie als Zeugen anrufe für unseren Zorn und für unsere Hoffnung? Wenn ich ihre Worte klingen lasse, zur Verteidigung des ›schönen Menschlichen‹?«

Es war ein kompletter Sieg. Mrs. Piggins weinte fast vor Rührung, sogar Mr. Piggins schmunzelte, Professor Schneider hob die feinen alten Hände und rührte sie Beifall klatschend, wobei er, fast zirpend vor Wohlgefallen, »Bravo! Bravo!« rief. Jonny, der Braungebrannte, konnte sich nicht beherrschen, er warf Marion eine Kußhand zu – wodurch Benjamin Abel zu neuem Widerspruch gereizt wurde. Während Marion geredet hatte, war Verklärung auf seinem Antlitz gewesen. Er schien ihre Worte mit halb geöffneten Lippen zu trinken. Er lauschte ihrem Wort, als wäre es eine Liebeserklärung – und sie galt ihm, er empfing sie mit innigem Blick und benommenem Lächeln. Gleich aber wurde er wieder streitsüchtig. Mochte der braune Jonny schwärmerisch sein und sich durch kleine Koketterien beliebt machen! Er – Benjamin – zog es vor, geistvoll zu hadern.

Er insistierte: Die Tendenz zur Vereinfachung ist das Charakteristikum der Barbaren. Uns jedoch sei nicht gestattet, dem Komplizierten aus dem Weg zu gehen durch rhetorische Tricks. Im Gegenteil: gerade die kämpferische Situation verpflichtet uns zu einer Gewissenhaftigkeit – die Leidenschaft keineswegs ausschließt. »Wenn wir uns an Schlagworten berauschen, sind wir nicht besser als der nationalistische Pöbel!« rief drohend Professor Abel. »Die großen Werte bleiben nur lebendig, wenn wir sie immer wieder in Frage stellen, sie immer wieder prüfen, revidieren, mit neuem Leben füllen. Der Wert der Freiheit zum Beispiel – um den es vor allem geht …«

Das Gespräch dauerte lang. Marion blieb bei ihrem militanten Standpunkt: Nicht Analyse unserer moralischen und intellektuellen Begriffe sei das Gebot der Stunde; vielmehr: aktive Verteidigung unserer Position – »womit ich nicht nur die moralische, sondern auch die physische Position meine!« – Benjamin, geistvoll hadernd, bestätigte: Gewiß, um unsere Position gehe es, sie sei vielfach bedroht. Wir verteidigen sie am besten, wenn wir sie befestigen, sie neu unterbauen. Gegen die geistig inhaltslose Aggressivität der Barbarei haben wir als stärkste, edelste und wirkungsvollste Waffe unser konstruktives, substantielles Denken; unsere Leistung, unseren moralischen Ernst, die hohe kulturelle Ambition.

Mrs. Piggins wurde ein wenig schläfrig, während ihr Gatte wach und munter blieb. »The continental troubles« waren nicht seine Sache; aber er zog doch gewisse Schlüsse – ein nachdenklicher Realist. Professor Schneider und der junge Museumsdirektor suchten, sich ins Gespräch zu mischen: Jonny, stets temperamentvoll zu Marions Gunsten; der Gelehrte sanft und vermittelnd, manchmal auch humoristisch. Einige der Gäste hatten sich schon zurückgezogen; es wurde auch kein Whisky mehr angeboten. Schließlich brach Marion auf.

Professor Schneider, natürlich, war etwas enttäuscht, weil man ihm keine Gelegenheit gewährt hatte, Walzer auf dem Pianoforte zu spielen. Indessen war er selbstbeherrscht genug, galant und schalkhaft zu bleiben; er erbot sich, Marion in seinem Wagen zum Hotel zu bringen – »wenn Sie sich nicht davor fürchten, mit mir altem Schwerenöter durch die Nacht zu fahren!« scherzte er, mit etwas müdem Fingerdrohen. Museumsdirektor Jonny – unternehmungslustig, trotz der vorgerückten Stunde – erklärte: nein, es würde ungerecht sein. Kollege Schneider habe Fräulein von Kammer schon einmal befördern dürfen; nun sei er – der Braungebrannte – an der Reihe. Benjamin schwieg verbissen; seine Blicke wurden leidvoll und drohend. Marion bedankte sich bei der total erschöpften Mrs. Piggins für den »most delightful evening« und verschwand in Jonny Clarks kleiner Limousine.

Der gelehrte Skiläufer erzählte lustige Dinge; seine Dame blieb schweigsam, lachte kaum und refüsierte sogar den Drink, den er in der Hotelbar für sie bestellen wollte. Jonny fühlte sich etwas enttäuscht; doch er küßte ihr zum Abschied ausführlich die Hand – einerseits, weil er es für »continental« hielt; andererseits, weil es ihm sehr angenehm war, seine Lippen mit ihrem Fleisch in Berührung zu bringen. – »Darf ich Ihnen morgen das Museum zeigen?« fragte er, das Gesicht über Marions lange, unruhige Finger geneigt. Sie sagte: »Ja … natürlich … es wird mich interessieren …« Sie hatte vergessen, daß es ihre Absicht gewesen war, den nächsten Zug nach New York zu nehmen. Was sollte sie in New York? Tullio war auf und davon, hatte Abschied genommen mit hochtrabenden und konfusen Worten.

»Thank you«, sagte Jonny Clark. »Sleep well. See you tomorrow.«

Marion konnte lang nicht schlafen. Sie dachte an den tückischen jungen Deutschen. ›Er wollte mich aufs Glatteis locken und blamieren. Es ist ihm nicht geglückt. Ein Kavalier war zur Stelle – der hat sich ritterlich meiner angenommen. Später polemisierte er gegen mich, geistvoll hadernd. Welch seltsamer Kavalier! Stämmig und zart von Erscheinung; mit dem behäbigen Gesicht eines Familienvaters, einem frauenhaft kleinen Mund und mit erstaunlichen Augen … Ein höchst kurioser Mann, dieser Benjamin Abel …‹

Sie dachte auch an Jonny, den Braungebrannten; aber nur flüchtig. What a charming boy – very attractive, indeed! Aber es war nicht mehr die Stunde für solche Spiele. ›Ich lasse mich nicht mehr ein‹, beschloß Marion – und dann war es Tullio, der göttliche Fensterputzer, der ihre Gedanken noch einmal beherrschte. Ach, diese Jünglinge, diese Knaben – wie leicht, wie vergänglich sind ihre schnellen Triumphe! Sie treten ins Zimmer, ausgerüstet mit ihrem Charme, mit einem Kübel und diversen Lappen, sie lächeln, sie renommieren, sie siegen, und die erste Umarmung ist fast schon der Abschied: Leb wohl, und vergiß mich nicht! – Wie sollte sie ihn vergessen? Das mehrfach verwundete Herz verhärtet sich nicht; es wird doppelt empfindlich. Übrigens könnte Marion noch sehr realen Anlaß haben, sich an Tullio zu erinnern – mit Schmerz und Glück, Zärtlichkeit und Gram. ›Ich werde seiner gedenken – die Stunde kommt.‹ Sie ahnte es, sie wußte es schon fast. Indessen verdrängte sie noch die Ahnung und gestattete dem Wissen nicht, bewußt zu werden.

 

Am nächsten Morgen, ziemlich früh, erschien Abel. Er brachte Blumen; er entschuldigte sich. »Ich war dumm, gestern abend. Alles, was ich vorgebracht habe, war schierer Unsinn.« – Marion widersprach – es war nun schon ihre Gewohnheit, ihm nicht recht zu geben: »Doch nicht schierer Unsinn! Zwischen übertriebenen, schiefen Behauptungen ist auch Kluges, Richtiges vorgekommen. Einiges habe ich mir genau überlegt und will es beherzigen.« Er lächelte dankbar.

Während er bei ihr saß, klingelte das Telefon: Jonny Clark erkundigte sich, wann er mit dem Wagen kommen dürfe. Abel erklärte schnell: »Der Wagen ist überflüssig. Ich begleite Sie ins Museum.« Marion, ohne ihn anzuschauen, sprach in den Apparat: »Der Wagen ist überflüssig. Professor Abel wird die Freundlichkeit haben, mich zu begleiten.«

Benjamin Abel warb um Marion von Kammer. Noch hatte er ihr nicht gesagt, daß er sie liebte. Sie wußte es schon, obwohl er, innig und pedantisch, nur von hohen, schwierigen Dingen sprach. Er liebte sie, sein Herz war ergriffen, noch niemals war es solcherart ergriffen gewesen; er gestand sich, mit einem Schauder von Wonne und von Entsetzen: ›Ich liebe zum ersten Mal. Sonderbar: man ist beinah fünfzig, man wird kahl und fett – da packt es einen wie nie zuvor. Alles, was bis jetzt gewesen ist, war nur Vorbereitung und lange Übung; die brave Annette, das süße Stinchen und die wenigen anderen – ich habe sie ganz vergessen. Ich liebe Marion. Ich will sie heiraten. Sie gehört zu mir. Unsere Leben werden sich verbinden. Verbunden und vereinigt werden sie sinnvoll sein – mein verworrenes Leben und ihres. Das Glück wird kommen, nach so langem Warten.‹ – Welch kühne, einfache Worte – noch nicht ausgesprochen, aber insistent und innig gedacht! Welche Naivität! Wieviel kindliche Verwegenheit! Das Glück – ein Alternder spürt es plötzlich in seiner Nähe. Er greift danach – aber nicht mehr mit der zuckenden Gebärde der Jugend; vielmehr mit zähem Griff, geduldig bei allem Überschwang. Die gediegene Passion des Alternden wird Marion überzeugen, überwältigen, gewinnen. Ist sie schon fast gewonnen? – Marion reiste nicht ab.

Die amerikanischen Freunde zeigten sich erfreut und leicht verwundert: Fräulein von Kammer blieb in der kleinen Universitätsstadt. Sie erklärte: »Es ist ruhig und hübsch hier. Ich habe jetzt Ferien, erst Mitte Januar fängt meine Tournee wieder an … Nach New York zieht mich beinah nichts.«

Mrs. Piggins führte die interessante junge Deutsche in den Damenklub ein; Professor Schneider zeigte ihr seine Kollektion süddeutscher Trinkgefäße und ließ sich gern dazu überreden, auf dem Klavier die lieben alten Walzer vorzutragen. Jonny Clark hoffte zunächst: Sie bleibt meinetwegen … Indessen war er nicht schwer von Begriff – ein heller Kopf, und übrigens ein anständiger Kerl. Er verzichtete auf jeden Flirt mit Marion, als er verstanden hatte, was Kollege Abel empfand und sich erhoffte. Keine Handküsse und flotten Komplimente mehr von seiten des Braungebrannten. Er redete nur noch von Politik, erwog die Chancen des Spanischen Bürgerkriegs, der sozialen Entwicklung in Frankreich und des italienischen Imperialismus. Er war ein gescheiter und gebildeter Junge; jetzt erst stellte es sich so richtig heraus.

»Es sind Typen von seiner Art, die mich hoffnungsvoll für Amerika machen«, erklärte Benjamin. Er war sehr erleichtert, weil der hübsche Jonny nicht mehr mit Marion kokettierte. »Ein prachtvoller Kerl!« stellte er fest – und konnte es sogar ertragen, daß Marion ihm ausnahmsweise recht gab. »Junge Leute von seiner Sorte kommen in Europa selten vor. In diesem Lande trifft man sie ziemlich oft. Sie haben einen gut entwickelten, gut trainierten Verstand und sind dabei einfach geblieben, frisch, herzlich, naiv. Sie gefallen mir sehr. Sie sind weder verkrampft noch dogmatisch noch größenwahnsinnig noch manisch depressiv wie die meisten unserer europäischen Intellektuellen. In Europa gibt es eine Jugend, die am Geist leidet wie an einer Krankheit – und eine andere, die alles Geistige verachtet und bekämpft. Die jungen Leute bei uns fallen auf den ideologischen Schwindel des Faschismus herein, weil sie entweder gar nicht denken, oder weil ihre Gedanken starr und überspitzt geworden sind. Die hysterischen Intellektuellen und die Blöden sind das Menschenmaterial, aus dem der Faschismus seine aggressive Armee rekrutiert. In den Vereinigten Staaten habe ich junge Intellektuelle gefunden, die nicht hysterisch sind und weder physisch noch moralisch verkrüppelt. Es ist doch erfreulich, einen Jungen wie diesen Jonny Clark anzusehen!« Benjamin fühlte sich schon so sicher, daß er sogar diese Bemerkung riskierte. »Ein hübscher, sportlicher Kerl – appetitlich vom Scheitel bis zu den Zehen – und dabei Hirn im Kopf! So was Angenehmes, Nettes! Dieser Typus hat Zukunft – und eine Zukunft, die von diesem Typus repräsentiert wird, möchte ich wohl noch erleben!«

Marion mußte ein bißchen lachen. »Sie sind ja ganz verliebt in den Burschen …« Er versetzte ernst: »Weil Sie nicht mehr in ihn verliebt sind, Marion!«

Hierauf ging sie nicht ein. Er ward gleich verlegen – er errötete, wie sie mit Rührung bemerkte – und erging sich wieder in eifrigen Betrachtungen, eine Menschheitszukunft betreffend, die vom Typus des braungebrannten und gescheiten Jonny beherrscht sein sollte. Der philosophische Liebhaber unterhielt seine Dame, die lächelnd lauschte. »Was ist unser letzter, definitiver Einwand gegen den Faschismus in all seinen finsteren Variationen? Daß er die Entwürdigung des Menschen bedeutet! Eine Horde dekadenter Barbaren sollte uns, mittels einiger infamer Tricks, stehlen dürfen, was wir uns erworben haben, in einer Geschichte von Jahrtausenden? – Hoho!« rief der Professor – seinerseits grimmig munter und aggressiv. »So geschwind geht das nicht! Unsere Kraftreserven sind bei weitem noch nicht verbraucht. Die besseren Menschen scheinen eine Weile gelähmt; umso heftiger wird plötzlich ihr Widerstand. Der Humanismus wird aggressiv auf der ganzen Linie werden – wartet es nur ab!« Benjamin prophezeite es mit zornigem Behagen. »Der Sozialismus ist nur ein Teil seines Programms – welches umfassend sein muß. Ziel und schöne Perspektive ist die totale Wiederherstellung, die totale Erneuerung, die Steigerung und Erhöhung der Menschenwürde – vom Ökonomischen bis zum Religiösen. Mit neuem Stolz wird der Mensch sich der Schönheit seines Leibes, der Gaben seines Geistes bewußt. Er organisiert die Erde, deren Herr er ist – dank seiner schönen, stolzen Eigenschaften. Endlich siegt die Vernunft. Überwunden sind Haß und Angst, samt dem nationalen Vorurteil – Pest und Betrug unserer Epoche. Auch der Dünkel der weißen Rasse ist dahin: in der Weltrepublik hat gleiche Würde und gleiches Recht, wer das schöne, stolze Menschenantlitz trägt. Das Leben wird leichter und bequemer; die Technik nimmt uns die niedrige Arbeit ab. Die Epoche der wirklichen, der fundamentalen Probleme bricht an. Der Mensch – entlastet von den ökonomischen und politischen Sorgen – findet Zeit und Kraft für das Wesentliche, Große; es sind endlich seine Angelegenheiten, denen er sich zuwendet. – Ich sehe ein Jahrtausend der enormen inneren Abenteuer!« Der Professor dämpfte die bewegte Stimme. Die utopische Vision, die er im Herzen trug und mit Worten andeutete – weil er wünschte, seine Dame zu unterhalten und sich zu gewinnen – hatte die Kraft, ihn beinah bis zu Tränen zu erschüttern. Sein zärtlich-dringlicher Blick war feucht. Er sagte leise: »Alles dieses ist vorstellbar – und also wird es geschehen. Der Mensch ist zäh; er verwirklicht, was er sich vorstellen kann. Geschichte ist erfüllte Utopie. Die technischen Vorbedingungen zu einem Zeitalter, das fast das Goldene wäre, sind durchaus gegeben. Es fehlen noch die moralischen. Die werden sich entwickeln – ich bin voll Vertrauen. Inmitten des sittlichen Absturzes, dessen Zeugen wir sein müssen, bereitet der sittliche Aufschwung sich vor. Die Menschheit ist jung, sie tritt gerade erst ins Mannesalter ein. Ihre Pubertätskrankheiten sind besorgniserregend, wir konstatieren garstige Symptome. Das soll uns nicht mutlos machen.«