Klaus Mann - Das literarische Werk

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In einer stilleren Ecke sagte Marion zu Benjamin: »Komisch – jetzt ist es in Zürich sieben Uhr morgens. Mama schläft noch. Aber es ist schon hell.«

Marion und Benjamin hatten nur noch ein paar Tage für ihr Beisammensein und für die vielen Gespräche. »Dann soll ich dich sechs Wochen lang nicht sehen«, sagte er. »Es ist schlimm.«

Wenn er nichts in der Universität zu tun hatte, war er fast immer mit ihr. Sie saßen zusammen, in ihrer Hotelstube oder im Bibliothekszimmer seiner Wohnung oder in einem Lokal. Bei angenehmem Wetter gingen sie spazieren und freuten sich der bescheidenen Reize einer flachen Landschaft. Einmal schlug Marion plötzlich vor, sie wollten Kaffee im Restaurant des Bahnhofes trinken. Abel mochte nicht recht. »Ich hasse Bahnhöfe …« Sie bestand darauf. – »Bahnhöfe sind scheußlich; aber ich bin an sie gewöhnt wie das Kind an die Schule. Ab und zu muß ich einfach Bahnhofsluft riechen …« – Er tadelte sie: »Eine miserable Gewohnheit!« Sie machte ihr trotziges Gesicht: »Kann schon sein …« und jubelte, als sie die vertrauten Träger mit den roten Mützen sah und die Pullman-Wagen und das kümmerliche Buffet, wo die Leute schalen Orangensaft und lauen Milchkaffee schlürften.

Sie behauptete: »Es ist reizend hier!« Er schüttelte mißbilligend das Haupt. Sie erkundigte sich, ob er auch die Neger in den Schlafwagen so sehr liebe. Er antwortete ausweichend; sie sagte: »Es sind lauter herzensgute Menschen! Ich fühle mich bei ihnen geborgen wie in Abrahams Schoß. Sie behandeln mich so väterlich: das ist wohltuend. Wenn ich im Pullman car Zigaretten rauche – was doch eigentlich verboten ist – lächeln sie mir mild und schelmisch zu – ich könnte ihnen um den Hals fallen.«

Später wurde sie ernster. »Ich werde das Reisen nie ganz aufgeben können«, erklärte sie kummervoll, aber entschieden – als setzte sie dem Bräutigam auseinander: Auf mir liegt ein kleiner Fluch, ich bin eine Reisende, es läßt sich leider nicht ändern. »Ich bin auch ehrgeizig«, gab sie zu. »Benjamin – du erwartest doch nicht, daß ich Schluß mit meiner Karriere mache? – Es ist eine so alte Gewohnheit von mir, mich den Leuten für Geld zu zeigen!«

Er versetzte: »Du sollst später entscheiden, ob du weiter auftreten und reisen willst. Zunächst wirst du wohl etwas stiller leben müssen – wegen des Kindes.«

Sie senkte das Gesicht und blieb still, für mehrere Sekunden. Schließlich sagte sie – aus was für Gedankengängen heraus?: »Es gibt noch soviel zu tun.« Benjamin nickte ernst. Sie schaute ihn an: »Für uns beide. Sehr viel zu tun – für dich und für mich …«

Dann wendete sie sich von ihm ab, um einen Träger mit roter Kappe zu beobachten; er verlud Handgepäck auf einen Karren. In einer Viertelstunde ging der Zug nach Chicago.

Marion sagte: »Als der brave alte Schneider uns neulich prophezeite, wir würden nach Deutschland zurückkehren – es kam mir so sonderbar vor. Wollen wir denn zurückkehren?«

»Ich weiß nicht«, sagte Benjamin. »Ich muß oft darüber nachdenken. Natürlich hängt es von tausend Umständen ab, die sich gar nicht voraussehen lassen. Aber alles in allem glaube ich doch eher: ich will nicht zurück …«

Sie schaute sinnend dem Rauch ihrer Zigarette nach. »Ich glaube, alles in allem will ich doch zurück …« Dabei schien sie plötzlich zu frösteln. Sie zog den Mantel enger um ihre Schultern. »Es wird schrecklich sein …« sagte sie und lächelte angstvoll.

»Was?« fragte er. Sie erwiderte – die Augen beim Gepäckträger, der seinen Karren zum Perron schob, wo der Chicago-Zug stand: »Die Heimkehr. – Man wird nichts mehr erkennen!« Dies sagte sie hastig, hatte dabei auch wieder die fröstelnde Bewegung der Schultern. »Alles wird total verändert sein – unheimlich fremd geworden … Die Straßen, die Gesichter – alles … Vor allem die Gesichter, natürlich.« Der Gepäckträger war verschwunden. Mehrere Reisende drängten zum Perron. Der Zug nach Chicago mußte bald fahren. »Ich fürchte mich davor, in Deutschland Menschen wiederzusehen, die ich früher gekannt habe«, sagte Marion.

»Ich auch«, sagte Benjamin. »Deshalb möchte ich nicht zurück.«

Sie redete weiter: »Wir sind so sehr abgeschnitten von Deutschland – es beunruhigt mich oft. Natürlich, wir bekommen Berichte; wir haben Freunde, Verbindungsleute, die uns alles erzählen, was drinnen vorgeht. Aber genügt es? – Ich weiß doch nicht, ob es völlig genügt … Vielleicht entgeht uns das Wesentliche. Wir können uns vielleicht die Atmosphäre im Reich gar nicht mehr vorstellen. Unter dem Druck dieser Atmosphäre bilden sich dort vielleicht Charaktere, die wir kaum begreifen; formieren sich Fronten, von denen wir ausgeschlossen bleiben …«

»Ich glaube nicht«, sagte er. »Ich glaube nicht, daß wir viel versäumen. Wir kennen doch Menschen, die noch jahrelang im Dritten Reich gelebt haben. Sind sie um eine bedeutende innere Erfahrung reicher als wir? Ich habe die meisten seelisch ausgehöhlt, geschwächt, fast erledigt gefunden. – Das Dritte Reich hat eigentlich keine Realität. Ihm fehlen alle Elemente der Größe – selbst im Negativen. Es ist durch und durch journalistisch. Seine Basis ist das Schlagwort; die Propaganda – die für sein Entstehen die Voraussetzung war. Das Leben verödet, es verliert seine Inhalte, seine Substanz. – Es wird niemals ein großes Epos über Nazideutschland geschrieben werden«, versicherte er mit überraschender Dezidiertheit. »Nicht einmal ein großes Epos der Anklage – wenn alles vorüber ist. Dieser monströse Staat ist hohl wie die Köpfe derer, die ihn dirigieren. Das Hohle haßt oder bewundert man nur, solange es Macht hat. Wenn es gestürzt ist, vergißt man es möglichst schnell, wie einen Alptraum.«

Marion erinnerte sich an ein paar Zeilen, die sie oft rezitiert hatte: »Nicht gedacht soll seiner werden …« Es war eine ihrer wirkungsvollsten Nummern gewesen. Sie begann, fast mechanisch, das schauerliche Fluchgedicht aufzusagen; unterbrach sich aber, und wiederholte eigensinnig: »Wir müssen zurück. – Ungeheure Aufgaben werden sich stellen, wenn der Alptraum ausgeträumt ist. Wer soll sie denn bewältigen – wenn wir uns drücken?! Die alten Gruppierungen und Gegensätze – ›rechts und links‹, ›bürgerlich und proletarisch‹ – werden keine Geltung mehr haben. Die Menschen, die guten Willens sind – die anständigen Menschen finden sich, vereinigen sich, arbeiten miteinander. Wir gehören doch zu ihnen! – Wollen wir uns denn ausschließen?!« Sie packte Abel am Arm. Sie rief ihm zu: »Komm mit mir!« – als führe der Zug dort draußen auf dem Geleise nicht nach Chicago, sondern nach Berlin, und sie müßten sich sputen, um ihn noch zu erreichen.

»Aber ich bin so gerne in Amerika!« sagte er, etwas schläfrig. »Und ich mag Professor Besenkolb nicht wiedersehen.« – »Den lassen wir hinrichten!« entschied Marion. Sie lauschte, schräg gehaltenen Kopfes. Dies war das Geräusch des Zuges, der sich langsam in Bewegung setzte. Der Gepäckträger kehrte mit leerem Karren in die Bahnhofshalle zurück.

Marion sank ein wenig in sich zusammen. Sie wandte Benjamin ihr Gesicht zu – ein erschöpftes Gesicht, mit kleinen Falten um die schrägen Augen und den üppigen Mund. Die Hände hoben sich von ihrem Schoß; bewegten sich matt, mit einer ratlosen Geste, und senkten sich wieder – zu kraftlos jetzt, um auszudrücken, was dies Herz verwirrte. Ihr Haupt glitt ein wenig zur Seite, als wollte es ausruhen auf der Schulter des Mannes.

Sie lächelte zaghaft, um Verzeihung bittend – wegen ihrer Reiselust und wegen ihrer gar zu großen Müdigkeit. Das verschwimmende Lächeln gestand: Mein Bedürfnis nach immer neuen Strapazen ist ebenso stark wie meine Angst vor ihnen. Du hast dir eine sonderbare Frau genommen, lieber Benjamin. – Dies sagte sie nicht. Vielmehr bemerkte sie nur, mit einem entgleitenden Lächeln und einem entgleitenden Blick – als ließen alle Not und alle Hoffnung in den paar vagen Worten sich zusammenfassen – »Ich bin so lange unterwegs gewesen …«

14

Im Februar und März 1938 durfte manch deutscher Emigrant, wehmütig und stolz, sich besinnen: Fünf Jahre Exil – das wäre also geschafft. Ist es wirklich schon fünf ganze Jahre her, seit wir in einer deutschen Stadt unseren Koffer packten? Es scheint gestern gewesen zu sein … Damals meinten wir: Es ist wohl nur für eine kleine Weile, in ein paar Monaten kehren wir zurück … Ist es wirklich erst fünf Jahre her? Was haben wir inzwischen alles mitgemacht! Enttäuschungen, Hoffnungen, noch einmal Enttäuschungen, ohne Ende … Das Gedächtnis hat eine seltsam launenhafte Manier, mit der Zeit – dieser nur scheinbaren, nur vorgestellten Realität – spielerisch umzuspringen. Wir erinnern uns – und fünf Jahre sind wie ein Tag; sind aber auch wie die Ewigkeit.

Sonderbare fünf Jahre – ob sie euch lang geworden sind oder kurz – sie haben euer Leben verändert; sie sind ein Teil eures Lebens, auch wenn ihr anfangs den neuen Zustand nur für provisorisch, abenteuerlich und unverbindlich halten wolltet. Das Abenteuer hat sich stabilisiert, das Provisorium wird zum Alltag – so sehr zum Alltag, daß viele schon darauf verzichtet haben, sich des abenteuerlichen Anfangs noch zu erinnern oder seinem Ende entgegenzuträumen. Irgendwo, in der geheimen Gegend des Herzens, bleibt freilich die Hoffnung wach: Dies alles wird eines Tages überstanden sein und vorüber – plötzlich, wie es begonnen hat. Das Exil war nur Episode, der Tag der Heimkehr wird kommen – ein gereinigtes, erholtes, wieder schön gewordenes Vaterland empfängt uns; wir werden zu Hause sein, und die Fremde versinkt, ganz ähnlich, wie jetzt die Heimat für uns versunken ist …

Die Hoffnung bleibt wach – aber nur im geheimen, in der tiefen, verborgenen Schicht. Immer seltener gestatten sich die Verbannten, sich das heimlich-innig Gewünschte bewußt zu machen. In ihren Gesprächen kommt das Wort »Heimkehr« kaum noch vor, und selbst in Gedanken vermeiden sie die süße und gefährliche Vokabel. Auf die Dauer ist kein Mensch geneigt, alles, was er tut oder läßt, auf eine Zukunft zu beziehen, von der niemand Genaues weiß – weder was den Termin ihres Kommens noch was irgendwelche andere Details betrifft. Der Alltag versteht keinen Spaß und duldet nicht, daß du ihm mit vagen Wunschträumen ausweichst. Geduldig und wachsam tue deinen Dienst – deinen Lebensdienst! Er ist überall gleich streng, gleich ermüdend, gleich beglückend, in der Fremde oder in der Gegend, die du Heimat nanntest.

 

Reale Freuden und Sorgen bringt auch das Exil. Ein Transitvisum durch Belgien wird zum großen Problem, ein Affidavit für die Vereinigten Staaten zum erregenden Thema, die Arbeitserlaubnis in der Schweiz zur ersehnten Gabe des Himmels. Berliner Geschäftsleute fassen den Plan, eine gewisse Sorte von Manschettenknöpfen in Mexiko zu lancieren, Frankfurter Rechtsanwälte lassen sich in Australien nieder, Schriftsteller aus Wien versuchen, Artikel in holländischen oder dänischen Publikationen unterzubringen. »Die Forderung des Tages – deine Pflicht!« Deutsche Ärzte bemühen sich um Assistentenstellungen in kalifornischen oder türkischen Hospitälern; deutsche Schauspieler bieten sich in Hollywood an; die Gattinnen vertriebener deutscher Professoren wollen Wiener Cafés in Argentinien eröffnen. Wird es ein Erfolg oder ein Fiasko? Langt das Geld und wer könnte noch etwas zur Verfügung stellen? Bekomme ich die Aufenthaltserlaubnis? – Dies sind lebendige Fragen, Lebensfragen, dies ist Alltag, für Wunschträume und geheime Hoffnungen bleibt wenig Zeit.

Gar zu viele und zu lang ertragene Sorgen können den Charakter verderben: mancher nimmt Schaden an seiner Seele, wenn er schier ununterbrochen über Transitvisen und Geldbeschaffung grübeln muß. Auch das intellektuelle Niveau senkt sich – gesetzt den Fall, daß es jemals eine Höhe hatte, von der sich hinabgleiten ließ – das Interesse für alles Feinere, alles Schwierig-Zarte hört auf, auch das Mitgefühl wird erstickt von der permanenten Angst um die eigene Zukunft, und schließlich bleibt nur noch ein Egoismus übrig, der stumpfsinnig und völlig lieblos werden läßt.

Ach – nicht alle, nicht die meisten unter den Exilierten zeigten sich leidenschaftlich, widerstandsfähig, stark genug, um sich einen offenen Sinn und ein fühlendes Herz zu bewahren! Sie bekamen manches von der weiten Welt zu sehen während dieser fünf Wanderjahre. Aber waren ihnen die Augen nicht schon blind geworden für Schönheit und Jammer der bewohnten Erde? Hatten sie Anteil genommen? Hatte man sie Anteil nehmen lassen?

Überall blieben sie am Rand der Gesellschaft. Es war Gnade, wenn sie irgendwo verweilen durften – bis auf Widerruf und bis neue, strengere Gesetze gegen sie, die Fremden, erfunden waren. Sie vereinsamten, wurden asozial, weil sie an nichts denken, über nichts reden konnten, was nicht das eigene Elend betraf. Die Monotonie ihrer Gespräche ward lähmend – »Wird Mussolini Ausnahmegesetze gegen die Juden machen? Werden die Handelsbeziehungen zwischen Mexiko und dem Reich sich gegen uns Emigranten auswirken?«

Anderen freilich war die harte, angespannte Existenzform gut bekommen. Die Fremde hatte sie kühner, klüger und besser gemacht. Ihre mitleidende Phantasie, ihr prüfender Verstand, ihr Glaube und ihr Zweifel hatten sich entwickelt. Früher waren sie vielleicht weichlich und faul, unwissend und sentimental gewesen. Das Exil – die harte Schule, durch die sie gingen – hatte sie zu Menschen geformt. Ihre veränderten, geprüften Herzen waren sowohl empfindlicher als auch entschlossener geworden.

Helmut Kündinger – um nur irgendeinen zu nennen – wäre in Deutschland ein pedantischer Schwärmer, ein provinzieller Schöngeist geblieben. Zur Emigration zwang ihn niemand – nur der Schmerz um seinen Göttinger Freund. Als wir ihn kennenlernten – Frühling 1933, auf der Terrasse des »Café Select« – wußte der arme Junge noch nichts von den Härten und den großen Möglichkeiten dessen, was ihm bevorstand. Er war schüchtern und ahnungslos – das Gesicht durch Pickel entstellt; den Kopf voller Stefan-George-Zitate. Jetzt sendet er aus China exzellente Berichte an sein Pariser Blatt. Alles, was er schreibt, ist sachlich, präzis, dabei mit journalistischem Schwung formuliert. Kündingers französischer Stil ist klarer und eleganter, als sein deutscher es in Göttingen je geworden wäre. Bei all dem ist ihm nichts von bleichem Ehrgeiz anzumerken. Die Kollegen mögen ihn: er ist ein guter Zechkumpan, anspruchsloser Causeur, liebenswürdiger Zuhörer. In Shanghai trinkt er Whisky und Soda mit den Jungens von der amerikanischen Presse. Wer aber ist der soignierte Weißhaarige, der sich, mit der Miene des Hausherren und Gastgebers, zu ihnen gesellt? Mit Vergnügen erkennen wir ihn: Bobby Sedelmayer, den charmanten Unverwüstlichen!

Es ist nicht Bobbys Art, zu klagen oder zu renommieren; eher möchte er den Eindruck des stets Leichtsinnigen machen, dem kein Schicksalsschlag etwas anhaben kann. Er erzählt nicht, oder nur ungern, von der ersten schweren Zeit in Shanghai. Hat er wieder Geschirr waschen müssen, wie auch früher schon? Man erfährt kaum etwas darüber. Doch läßt sich nicht verheimlichen, daß eben jenes Hotel, in dem sein Nachtlokal dann florierte, mit schweren japanischen Bomben belegt ward. Wie durch ein Wunder ist Bobby mit dem Leben davongekommen; die Kellner seines Etablissements wurden erschlagen, auch das Mobiliar war hin. Da hieß es wieder und noch einmal: Von vorne anfangen … Bobby blickte nur einige Tage lang fahl – zuviel des Entsetzlichen hatte er mit anschauen müssen! – dann zwang er sich zum rosig-adretten Aussehen wie zu einer Pflicht. Den Tapferen belohnt das Schicksal: die neue Bar war bald ebensogut besucht wie die alte, über der Trümmer lagen. Ungeheures veränderte sich in der Stadt Shanghai, durch China ergoß sich ein Strom von Blut. Die Konsequenz der Ereignisse war riesenhaft, unabsehbar. Bobby wußte es; er war nicht dumm und erfuhr übrigens manches, was der Öffentlichkeit unbekannt blieb: eingeweihte Gäste trugen es ihm zu. Ihm lag es fern, die Wichtigkeit des eigenen Loses zu überschätzen. Er dachte aber – unpathetisch und von charmanter Zähigkeit, wie er war: ›Wem wäre damit gedient, wenn ich in panischer Verzweiflung mich selber aufgäbe? Das Gräßliche macht man nicht dadurch besser, daß man sich unter die Heulenden, Verzagten mischt. Es hat sich herausgestellt und bewiesen, daß ein Nachtlokal unter meiner Leitung große Chancen hat. Niemand kann mir verdenken, daß ich leben will. Wenn die Leute Cocktails und Jazzmusik nicht entbehren wollen, auch während die Erdoberfläche sich unter Katastrophen verändert: bitte sehr! Bobby Sedelmayer ist Spezialist im Vergnügungsgewerbe! Er wird lächeln und adrett aussehen – bis ihn selber eine Bombe trifft …‹

Sedelmayer und Kündinger tranken sich zu. »Auf was wollen wir anstoßen?« fragte einer den anderen. Der Ältere von ihnen entschied: »Na – daß es noch eine Weile weitergehen soll …« Der Jüngere hatte nichts einzuwenden.

Es sollte doch noch eine Weile weitergehen – so empfanden die meisten, trotz allem Schweren, was es auszuhalten gab. Einige aber sagten sich: Ich muß mein Leben radikal, von Grund auf ändern – sonst ginge es wohl nicht weiter. Sogar die Kabarettistin Ilse Ill hatte sich zu der Erkenntnis durchgerungen: Meine Karriere ist an einem toten Punkt. Zwar kann ich nicht häßlich sein – da ich ja Talent habe – aber die Menschen sind wankelmütig, besonders die Pariser, und in anderen Städten habe ich sowieso keine Chancen. Das Unwahrscheinliche ist Tatsache geworden: Der Erfolg bleibt aus. Sicherlich kommt er mal wieder – Ilse Ill gibt nicht nach, die Welt wird noch von mir hören. Für den Augenblick aber sieht es hoffnungslos aus. Unbeschäftigt in den Pariser Cafés herumzusitzen und mich von den Kollegen bemitleiden zu lassen – dazu fehlt mir die Lust. Übrigens ließe man mich verhungern. Kein Mensch zahlt mir einen Teller Suppe, wenn ich nicht mehr die berühmte Ilse bin.

Jetzt war sie eben noch berühmt genug, um etwas Geld aufzutreiben: sie brauchte es für die Reise. Auch das Affidavit konnte sie sich verschaffen. Die Bekannten fragten: Was willst du denn in Amerika? Sie ließ es geheimnisvoll offen; war aber im Herzen entschlossen: Ich verdinge mich als gemeine Magd. Dienstmädchen will ich werden. Sie war eine radikale Natur. Da der Weltruhm auf sich warten ließ, und die Theaterdirektoren lauter Schweine waren, wollte sie nun gründlich elend sein. Nur nichts Halbes! Keine Kompromisse! – Sie fuhr Dritter Klasse, auf einem recht kleinen, obskuren Schiff. Empfehlungsschreiben hatte sie sich verbeten und war erst sogar geneigt gewesen, ihre schönen Pariser Kritiken samt allen Photographien zu verbrennen wie die Briefe eines ungetreuen Geliebten. Dies freilich hatte sie denn doch nicht fertiggebracht. Auf dem Grund ihres Koffers ruhten die Zeitungsausschnitte, sorgsam gebündelt und von einem himmelblauen Seidenband umschlossen, wie die Souvenirs eines jungen Mädchens.

Bei der Landung in New York hatte sie Schwierigkeiten, weil sie gar zu interessant und düster wirkte. Grünes Haar und violette Wangen mißfielen dem Beamten, der ihren Paß kontrollierte: höchstens einer Dame, die Cabin Class fuhr, wäre soviel Extravaganz erlaubt gewesen; bei einem Passagier der Dritten schien es fast kriminell. Ilse mußte nach Ellis Island. ›So ist es recht!‹ dachte sie zähneknirschend. Ihr Ehrgeiz war gleichsam umgeschlagen und hatte sich in fanatischen Masochismus verwandelt. ›Nur zu! Nur weiter in diesem Stil! Behandelt mich nur wie den Aussatz der Menschheit!‹ – Und das tat man denn auch. Ihr bitterer Triumph war vollkommen; denn auf Ellis Island ging es beinah wie in einem Zuchthaus zu. Ilse Ill teilte die triste Zelle mit Ostjüdinnen, die immer weinten, und verzweifelten Negerinnen.

Nach einigen Tagen schickte die freundliche Dame, von welcher das Affidavit stammte, ihren Rechtsanwalt. Ilse ward freigelassen. Der Anwalt sagte verdrossen: »Good luck, Miss!« – und ließ sie stehen.

Sie betrat New York City mit düsterem Frohlocken: Nun werde ich eine Magd! Ilse Ill – vorgestern höchst gefeiert; gestern unschuldig ins Loch geworfen – wird morgen, unerkannt und stolz, in irgendeiner dunklen Küche stehen. Sie wollte die weiße Schürze nehmen, wie den Nonnenschleier. Jedoch kam es anders.

Als sie in einem kleinen Restaurant zu Abend speiste – trotzig um sich blickend, sehr einsam, und auf das äußerste Unglück gefaßt – näherte sich ihr ein Herr mittleren Alters und rief überschwenglich: »Nein, so was! Sie habe ich doch schon mal gesehen!« Sie funkelte böse; er merkte es nicht, sondern erklärte begeistert: »In Paris, vor zwei Jahren! Erinnern Sie sich denn nicht? Ich habe doch so laut applaudiert, nach jedem Ihrer Lieder! Ihr treuester Zuhörer bin ich gewesen! Jeden Abend war ich im Lokal, nur um Ihretwillen – und wäre noch so manches Mal gekommen, wenn mich die Pflicht nicht nach New York gerufen hätte!«

Er hieß Johnson und hatte ein Schuhgeschäft. Ilse beschloß, ihn lächerlich zu finden; war aber bald gewonnen durch seine stürmischen Huldigungen. Nachdem sie zwei Whiskys mit ihm getrunken hatte, mußte sie sich zugeben: Er ist wirklich ein netter Kerl. Im Taxi ließ sie sich die Hand von ihm küssen. Mehr wurde nicht gestattet.

Die Idee, sie könnte Dienstmädchen werden, machte ihn beinah zornig. »So ein Unsinn!« rief er immer wieder. »Eine Person wie Sie!« Im Grunde gab sie ihm recht, trotz allen düsteren Vorsätzen. Indessen weigerte sie sich hartnäckig, sich als seine Geliebte von ihm erhalten zu lassen, obwohl Johnson – ein flotter Junggeselle, nicht reich, aber in angenehmen Verhältnissen – ihr immer wieder versicherte: »Es wäre das einzig Vernünftige!« Sie bestand darauf: »Suche mir eine Stellung – wenn du mir helfen willst.«

Wirklich gelang es ihm, ihr einen »Job« zu verschaffen. Sie wurde Empfangsdame in einem feinen französischen Restaurant. Dort hatte sie nichts zu tun, als zu lächeln. Ihr Platz war am Eingang, neben einer breiten Schale voll Pfefferminzbonbons. Sie sollte einladend wirken. Der Chef des Lokals hatte von ihr verlangt, daß sie sich Haar und Miene ein wenig dezenter färbe. Grün und Violett mußten geopfert werden – sehr zum Bedauern Johnsons, der gerade diese ausgefallenen Nuancen so pikant gefunden hatte.

Hier verlassen wir Ilse Ill, überlassen sie ihrem Schicksal. Vielleicht wird ein Theaterdirektor – weniger instinktlos und korrupt als seine Kollegen – das fleißige Mädchen entdecken, und sie wird am Broadway ihre dritte Karriere starten. Vielleicht wird sie Mr. Johnson heiraten, in dessen Achtung sie natürlich gestiegen ist, weil sie es abgelehnt hat, seine ausgehaltene Mätresse zu sein. Wir wünschen ihr von Herzen das Beste. Oft waren wir geneigt, sie nicht ganz ernst zu nehmen; sie erschien uns etwas affig und prätentiös. Spürte sie nicht selber, im Grunde, daß sie sich recht krampfhaft und geziert benahm? Sie ahnte es wohl; konnte es aber nicht ändern. All ihr Getue war immer nur der angestrengte Versuch, sich zu behaupten; es war die etwas barocke Form ihrer Tapferkeit. Ist es nicht ein mutiges Lächeln, mit welchem sie die Gäste im feinen französischen Restaurant willkommen heißt? Ist es nicht ein fester und braver Blick, mit dem sie sich nun von uns trennt …?

 

Nicht alle unsere guten alten Freunde haben noch die Energie, so fest und brav zu schauen. Nathan-Morelli blinzelt tödlich ermattet. Wie hochmütig war er einst gewesen: ein intellektueller Grandseigneur, ungebunden, leicht zynisch, mit einer Neigung zum provokant Sarkastischen. Nationalistische Sentimentalitäten lagen ihm denkbar fern; Theo Hummler, den Mann vom Volksbildungswesen, hatte er durch herabsetzende Reden über Deutschland gekränkt. Nun war es gerade Hummler, mit dem er Erinnerungen an die Heimat zu tauschen liebte. »Wie wunderschön ist Berlin!« seufzte Nathan-Morelli. »Als ich dort noch hätte leben können, habe ich es verachtet!« Hummler versicherte ihm: »Sie werden Berlin wiedersehen, lieber Freund! Unsere Arbeit macht Fortschritte …« Und er war bei seinem Thema: der Politik, dem Kampf gegen das Naziregime. Gerade dafür schien Nathan-Morelli sich wenig zu interessieren. Er winkte wehmütig ab. »Lassen Sie nur! Für junge Leute mag das tröstlich sein. Was mich betrifft – ich bin fertig.« – Er lag seit Wochen zu Bett, sein Gesicht verfiel, die klugen Mongolenaugen waren tief umschattet. »Das Herz macht nicht mehr mit«, erklärte er resigniert. »Es kann nicht mehr lange dauern.« – Er glich einem abgemagerten Buddha, wenn er, schräggestellten Hauptes, ins Leere träumte. Seine Miene belebte sich, sobald Fräulein Sirowitsch kam. – Sie lebten zusammen, sahen sich aber nicht oft; denn die Sirowitsch war beschäftigt. Von morgens bis abends saß sie im Bureau an den Champs-Élysées, wo fünf Angestellte mit ihr tätig waren. Ihre Presseagentur hatte internationales Ansehen bekommen. Tausende von Artikeln und Photographien gingen durch Fräulein Sirowitschs tüchtige Hände. Sie mußte sich plagen; ihr kranker Freund hing nicht nur seelisch von ihr ab, sondern auch finanziell. – Sie liebten sich, sie waren sich von Herzen zugetan. Die Sirowitsch genoß innig ihr spätes Glück und durfte sich täglich sagen: Ich habe ihn mir erobert. – Sie war die Herrschende, Aktive in diesem Bunde – Geliebte, mütterliche Freundin, Ernährer – alles in einer Person. Wenn sie bedachte, wie alles zwischen ihnen begonnen und wie schön es sich verändert hatte, kamen ihr Triumphgefühle, neben der Zärtlichkeit. ›Er gehört mir! Er hat sich mir unterworfen!‹ Auch etwas Rachsucht war in ihrer Liebe enthalten.

Aber gehörte er ihr wirklich so ganz? War er nicht schon wieder im Begriffe, zu entgleiten? – Er würde sterben – sie wußte es, und sie litt. Sein eingeschrumpftes Buddha-Gesicht trug schon die Zeichen, vor denen dem Lebenden graut. Die Liebende freilich fürchtet sich nicht, ihn zu küssen. Aber sie erschrickt vor seinem viel zu sanften, viel zu fernen Blick.

War nicht auch dies Heimweh, von dem er jetzt soviel sprach, ein Symptom des Erlöschens? Es bewies wohl, daß er Abschied nehmen wollte. Als er Deutschland verspottete, war er echter, jedenfalls gesunder. Nun schämte er sich nicht, von Mondscheinfahrten auf oberbayrischen Seen oder auf dem Rhein zu schwärmen. Er breitete den Plan der Stadt Frankfurt am Main auf den Knien aus, um mit dem Finger den Schulweg seiner Kindheit nachzufahren. Früher hatte er mit einem Achselzucken gesagt: »Ich bin gar kein Deutscher!« Daß seine Mutter aus Italien stammte, war oft erwähnt worden. Plötzlich gestand er: sie war in München geboren, Italiener war nur ihr Vater gewesen. Niemand hatte ihn danach gefragt, aber er legte Wert darauf, es festzustellen. »Ich bin deutsch, durch und durch – mögen die dummen Nazis es auch bestreiten.« – Die Sirowitsch war schauerlich berührt von solchen Reden. Kamen sie aus dem Munde ihres ironischen Nathan-Morelli?

Als er noch gesund und boshaft war, hatte er wenig Freunde. Jetzt, da Abschiedsmilde ihm Blick und Lächeln verklärte, zog er die Menschen an. Er war fähig, ihnen zuzuhören, weil die eigenen Angelegenheiten ihm nun gleichgültig waren. – Manchem wurde es zur angenehmen Gewohnheit, sich am Lager dieses sanften, klugen Kranken auszusprechen.

David Deutsch freilich schien entsetzt zu sein über die eigene Kühnheit. »Ich überfalle Sie«, murmelte er, noch in der offenen Türe – das blauschwarze Haar gesträubt, wie aus Schrecken über sein verwegenes Eindringen. »Sie liegen wehrlos im Bett, ich stehle Ihnen die Zeit – nur ein paar Minuten; aber immerhin …« Er machte schiefe Bücklinge; wand gequält den Oberkörper, und über sein wächsern bleiches Gesicht liefen Zuckungen. – »Es ist wirklich gar zu keck von mir!« wiederholte er, eigensinnig zerknirscht – obwohl Nathan-Morelli ihm schon wiederholt versichert hatte, wie sehr die Visite ihn freue.

»Nur ein Abschiedsbesuch …« David brachte es gleichsam als Entschuldigung vor, als wollte er andeuten: Selbst meine Unverschämtheit hat ihre Grenzen. Wenn es nicht adieu zu sagen gälte, hätte ich mich denn doch nicht hergewagt. Nathan-Morelli erkundigte sich, wohin Herr Deutsch denn zu reisen gedenke. – »Ziemlich weit weg.« David lächelte trüb; sein dunkler, trauervoller Blick wich den müden, aber scharfen Augen des Kranken aus. Er berichtete trocken – als handelte es sich um eine etwas peinliche, auch kaum sehr wichtige Sache: »In Dänemark irgendwo gibt es ein Lager, wo jüdische Intellektuelle zu Landarbeitern oder Handwerkern ausgebildet werden.« – »Was haben Sie dort zu suchen?« forschte Nathan-Morelli. Und David – wobei er ihm plötzlich fest und ruhig in die Augen sah, als hätte er eine dumme Scham überwunden: »Ich will Schreiner werden.«

Nathan-Morelli schwieg eine kleine Weile. Er blickte ernst, wie sein Gast. Dann sagte er langsam: »Ich habe Ihre Arbeiten in den Soziologischen Heften immer mit großem Interesse verfolgt. Ihre große Studie zur Kritik des Marxismus …«

»Hören Sie bitte auf!« – David hatte es fast geschrien – soviel Heftigkeit wirkte, gerade bei ihm, überraschend. Nathan-Morelli erschrak nicht; sah ihn nur aufmerksam an. David hatte Tränen in den Augen.

»Ich kann nicht mehr …« brachte er schließlich hervor. »Es quält mich – es ekelt mich an … Ich kann nicht mehr denken und nicht mehr schreiben …« – Nathan-Morelli warf, schmeichlerisch und grausam zugleich, mit ruhiger Stimme dazwischen: »Mir scheint aber, daß Sie immer noch vorzüglich denken und vorzüglich schreiben können.« Hierauf ging David nicht ein. Mit nassen Augen und verzerrtem Mund klagte er weiter: »Gleich nach Martins Tod hatte ich die erste furchtbare Krise. Monatelang war ich wie gelähmt. Bedenken Sie doch: ich habe ihn sterben sehen – den langsamen Selbstzerstörungsprozeß überwacht … Er hatte so große Gaben! Einen solchen Tod mitanzusehen – bedenken Sie doch, was das bedeutet …« – Alles sprach dafür, daß das eingeschrumpfte Buddha-Gesicht dies recht gründlich bedachte. Nathan-Morelli sagte nichts; geduldig wartete er auf Davids nächsten Ausbruch.

Der Besucher aber nahm sich zusammen – mit einem Ruck, der ihm nicht nur das Antlitz, sondern auch den Körper verzog. Er schüttelte sich, als führen elektrische Ströme durch seinen Leib. Die zerbrechlichen Finger zausten das starre Haar. Endlich hatte er seine Nervosität so weit bezwungen, daß es ihm möglich war, mit bewegter, aber gedämpfter Stimme fortzufahren.