Klaus Mann - Das literarische Werk

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»Die Analyse der gesellschaftlichen Kräfte und ihrer Entwicklung interessiert mich nicht mehr.« Er konstatierte dies mit großer Traurigkeit, wie eine Mutter, die gestehen müßte: Ich habe aufgehört, mein Kind zu lieben. – »Wenn eine Gesellschaft in Krämpfen liegt; wenn alle ihre ökonomischen, moralischen, intellektuellen Gesetze plötzlich fragwürdig werden und vor unseren Augen zerbrechen – dann scheint es mir sinnlos – schlimmer als das: frivol – sich mit Theorien über Herkunft und wahrscheinlichen Ausgang der Katastrophe wichtig machen zu wollen.«

»Die Theorie könnte hilfreich sein«, bemerkte Nathan-Morelli. »Die Untersuchung der Katastrophe, die Klärung ihrer Ursprünge kann zur Heilung führen … Was für ein Unsinn!« rief er, wobei seine Stimme plötzlich herzhaft kräftig klang. »Was für eine Kateridee – das mit der Schreinerei! Tische und Stühle zimmern kann jeder Trottel. Aber ein Hirn wie Ihres ist unersetzlich – gerade jetzt, heute, für uns!«

David schüttelte das zarte Haupt – melancholisch, aber entschlossen. »Ich habe es mir überlegt; habe mir alles vorgehalten, was dafür und was dagegen spricht – das werden Sie mir doch glauben? – Ich ertrage es einfach nicht mehr – dieses Monologisieren; dieses In-den-luftleeren-Raum-Sprechen … Denn wir sprechen doch ins Leere, niemand hört uns zu, das ist so – beschämend … Die Ereignisse gehen ihren Gang – ihren schrecklichen Gang – unbeeinflußt von uns. Oft fühle ich mich so entfremdet der Wirklichkeit; so ausgestoßen vom echten Leben; isoliert, vereinsamt … Es kommt da so vieles zusammen. Man hat die Heimat verloren; man ist ein Jude, ein Intellektueller – ein ›volksfremdes Element‹ …« Dies sagte er mit einem höhnischen Achselzucken und einem sehr bitteren kleinen Gelächter. »Überall ein ›volksfremdes Element‹ …«

Dann richtete er sich auf, Miene und Haltung wurden zuversichtlich. »Man muß diese Isolierung durchbrechen können …« Er atmete stärker – beinah schon befreit. »Das einfache Leben wird die Rettung sein. Auf den geistigen Hochmut verzichten, sich einordnen, arbeiten – mit den Fäusten arbeiten – das ist die Rettung! Das ist die Erlösung!«

Er hob und senkte die ineinander verkrampften Hände; dabei wiegte er leicht den Kopf, auch sein Oberkörper geriet in rhythmisches Schwanken – kummervolle orientalische Pantomime, seltsam kontrastierend zum Elan der Worte, die er gesprochen hatte. – Nathan-Morelli – matt, aber aufmerksam – schaute auf diese klagend hin und her bewegten, höchst zerbrechlichen Finger. – »Werden Sie stark genug sein?« Er fragte es behutsam und schonend. »Ich meine – werden Ihre Hände kräftig genug sein für den Zimmermannsberuf?«

Über Davids zartes Wachsgesicht lief eine helle, geschwinde Röte, als würde sein Schamgefühl verletzt durch solchen Zweifel. Er reckte sich ein wenig und rief: »Es muß gehen – es muß! – Ich freue mich auf das neue Leben!« Dies behauptete er mit Nachdruck; wiegte aber jammernd Haupt und Oberkörper. »Wollen Sie Bilder von unserem Lager sehen?« Er kramte aufgeregt in den Jackentaschen; Nathan-Morelli mußte lächeln, weil David schon von »unserem Lager« sprach. – »Alles ist dort von den jüdischen Intellektuellen selbst fabriziert. Sie haben die kleinen Häuser selbst gebaut, in denen sie wohnen, und diese Tische, diese Schränke und Krüge: alles ihr Werk! Ist das nicht prachtvoll? Es muß ein wundervolles, tröstliches Gefühl sein, auf einem Stuhl zu sitzen, den man gezimmert hat, mit den eigenen Händen … Und wenn sie dann ausgebildet sind – wenn sie etwas Praktisches, Nützliches wirklich können – dann finden sie eine Stellung, irgendwo in der Welt – in Australien oder in Argentinien oder in Alaska – ganz egal, wo. Die Lagerleitung besorgt ihnen das. Der Mann, der das alles ins Leben gerufen hat, heißt Nathan: ein famoser Mensch, ich habe ihn kennengelernt; ein großer Organisator, ein aktiver Philanthrop. Er hat viele Existenzen gerettet; manches Leben, das sich schon selber aufgeben wollte, hat durch ihn einen neuen Sinn bekommen. Diese Leute mußten sich für überflüssig halten – niemand konnte sie brauchen, die Lumpenproletarier mit dem Doktortitel. Jetzt begreifen sie, daß niemand überflüssig ist, wenn er sich nur einzuordnen versteht. – Wir müssen den falschen Ehrgeiz ablegen wie ein schwarzes, feierliches Kleid, das bei der redlichen Arbeit nur stört. – Europa hinter sich lassen, seine schal gewordene Problematik überwinden; heimkehren zu den primitiven Formen des Lebens, die seine haltbarsten sind; Weib und Kind ernähren, für die Familie schaffen, wie der Bauer, wie der Handwerksmann im Dorf …«

Der Begeisterte schien zu vergessen, daß er weder Weib noch Kind sein eigen nannte; nicht einmal eine Braut hatte der arme David. Sein stiller Zuhörer dachte daran; hütete sich aber, ihn durch solchen Hinweis zu ernüchtern oder gar zu kränken. Vielmehr sagte Nathan-Morelli nur, leise und ernst: »Ich bewundere Ihren Mut. Ich selber bin alt und krank.« Dies war stolze, leidvolle Koketterie. Nathan-Morelli durfte noch als Mann in den besten Jahren gelten. Die Todesnähe, deren er sich feierlich-innig bewußt war, schenkte ihm freilich die Würde des Hochbetagten. »Wenn ich jünger wäre«, sagte er noch, und über das verfallene Buddha-Gesicht lief ein Schatten alter Ironien – »wer weiß: vielleicht folgte ich Ihnen nach …«

Dies kam wenig überzeugend heraus. David vermied es denn auch, darauf einzugehen. Er konstatierte nur noch – weniger erregt; gleichsam abschließend: »Man wird mutig unter dem Druck der Verhältnisse – womit ich auch die finanziellen Verhältnisse meine. Ich hatte ein bißchen Geld; es ist aufgebraucht. Den Comités mag ich nicht zur Last fallen. Es ist also nicht der Augenblick, wählerisch und delikat zu sein … Außerdem sehne ich mich unaussprechlich nach Ruhe.« Sein erschöpfter Blick und das überanstrengte Lächeln bestätigten, wie stark sein Ruhebedürfnis war. »Irgendwo muß es doch still sein …« Es klang mehr fragend als überzeugt. »Irgendwo, in einer wilden, reinen Landschaft – in einer Luft, die noch nicht vergiftet ist vom Lärm der Propaganda, von den Lügen der Politik. Ich träume von Urwäldern oder grenzenlosen Prärien, von Steppen oder Gebirgen … Die Gegend, die mir Heimat werden soll, mag öde sein; aber ich verlange Unschuld von ihr, wie von einer Frau. Die große Gabe, die ich von ihr erflehe, heißt: Stille …«

›Hoffnungslos‹, dachte Nathan-Morelli. ›Ein gescheiter Kerl, und so hoffnungslos romantisch … Ach, diese Deutschen! Ach, diese Juden! Ach, diese deutschen Juden …‹ – Der Kranke hatte ein Lächeln, in dem Spott und Mitleid sich mischten – ein sehr verächtliches, sehr mildes Lächeln. Schließlich sagte er, mit schwachem Achselzucken: »Ich fürchte, mein Lieber, Sie haben übertriebene Vorstellungen von der grenzenlosen Weite unseres Planeten. Er ist klein geworden. Die Zivilisation umspannt ihn, und mit ihren schätzenswerten Bequemlichkeiten sind überall ihre Probleme da. – Muß ich das Ihnen erklären, lieber Herr Doktor Deutsch?« Seine Stimme wurde strenger; bekam aber gleich wieder den wehmütig gedämpften Klang. »Sie glauben, anspruchslos geworden zu sein, verlangen aber in Wahrheit das Schwierigste, Kostbarste, Seltenste. Unschuld und Stille … wo finden wir die? – Doch nicht hier!« entschied mit spöttisch-mitleidsvollem Lächeln der Kranke. »Lieber, armer Freund – doch nicht hier …«

Nicht hier, doch nicht hier … Die paradiesisch unberührte Landschaft; das idyllisch-wackere Leben – karg und heiter zugleich – wie weit müssen wir reisen, wohin sollen wir fliehen, um ihm noch zu begegnen? – Glaubt David Deutsch an die Erfüllbarkeit seiner Träume? Er kann glauben, weil er glauben muß – die Not des Herzens, des verwirrten Geistes, wie auch seine ökonomische Situation zwingen ihn zum Letzten, Äußersten. Er wendet sich – mit höflich-schiefen Bücklingen, aber doch entschieden – von dieser Zivilisation; denn auf ihr liegt ein Fluch. Das ist die Erkenntnis, zu der lange, angestrengte Studien ihn schließlich gebracht haben.

Die Zivilisation – im Stich gelassen, aufgegeben von ihren klügsten, aufmerksamsten Söhnen – scheint nach dem eigenen Untergang zu lechzen. Lange genug hat sie sich üppig entfaltet, jetzt aber will sie heim, zurück, in den Urwald – mit ihren eigenen Mitteln, mit dem Raffinement ihrer triumphierenden Technik hebt sie sich selber auf. Noch einmal entfaltet sie sich aufs eindrucksvollste, ihre Apokalypse ist pittoresk – großes Schauspiel, glänzend inszeniert – in schaurig-imposanten Bildern führt sie sich zu Ende. »Der totale Krieg«: blutrünstige Intellektuelle, späte Erben des abendländischen Geistes – hysterisch entartet, völlig ruchlos geworden – haben ihn eifrig genug propagiert, seine stählern vernichtende Schönheit in schrillen Tönen besungen. Paßt auf: er wird das Überraschendste zu bieten haben, dieser vielgerühmte »totale Krieg«! Feuerwerk ohne Beispiel, infernalische Ausstattungsrevue grandiosen Stils wird er sein! In fulminantem Tempo wird unsere Zivilisation zugrunde gehen – dies ist ihre letzte Ambition. Schnelligkeitsrekord der Vernichtung; Organisation der Katastrophe; Virtuosität des Massenmordes: das ist es, wozu die Patrioten sich fiebrig rüsten.

Die Vorbereitung des totalen Krieges muß notwendig eine totale, umfassende sein. Nicht nur ökonomisch, politisch, militärisch organisiert man die Katastrophe; auch moralisch und psychologisch soll die Menschheit reif gemacht werden zum großen Rückfall ins Barbarische, zur schauerlichen Heimkehr in Nacht und Tod. Alte Vorurteile könnten störend wirken, die Tradition der menschlichen Gesittung wird zum hemmenden Ballast, »Freiheit« und »Barmherzigkeit« sind skandalöse Vokabeln, sowohl lächerlich als auch kriminell – weg damit! Endlich zum Teufel mit ihnen! Wir sind die Teufel, sind der Antichrist – empfinden die regierenden Mörder. Von dem Höllenlärm, den wir verbreiten, werden die zarteren Stimmen verschlungen, jede Warnung muß untergehen, und ungehört verhallt jede Klage. – ›Machen wir euch die Erde zur Hölle?‹ fragen mit lustiger Neugier die Teufel. ›Nur Geduld, Kinderchen! Wir sind erst am Anfang. Es soll noch unvergleichlich toller kommen!‹

 

Es soll noch toller kommen, ist aber schon toll genug. Das Training zur Katastrophe hat seinerseits schon katastrophalen Charakter. Die Menschen gewöhnen sich an die eigene Entwürdigung, an den Verlust der Freiheit, die Ungewißheit und permanente Gefährdung des Lebens. Das Menschenleben wird zur Bagatelle; ehe man es noch vernichtet, beraubt man es seines Wertes – wer nichts mehr zu verlieren hat, fürchtet nichts; der Sklave freut sich auf den Weltuntergang …

›Treiben wir dem Pack zunächst die Menschenwürde aus!‹ beschließen die regierenden Mörder. Mit Folterinstrumenten alter und neuester Konstruktion, mit Konzentrationslagern, Propagandageheul und straffer Zucht wird sie schnell erledigt. Auch Bombenflugzeuge werden gelegentlich schon verwendet – um des Trainings willen, und um den Widerspenstigen zu beweisen, über welch famosen Apparat wir verfügen.

Nicht nur Bobby Sedelmayer, der unverwüstliche Bonvivant, hörte die Explosivstoffe krachen. Dem gleichen Lärm lauschten Mutter Schwalbe, das Meisje und Dr. Mathes: das geschah in Barcelona, März des Jahres 1938. Zahlreiche Bomben fielen, es war eine Generalprobe, die fast schon der Monstre-Gala-Aufführung glich. »Verdammt noch mal!« murmelte Mathes. Die zwei Frauen schwiegen; das verwitterte Kapitänsgesicht der Schwalbe war fahl, man hatte es noch nie so gesehen: unter dem borstigen weißen Haar glich es plötzlich dem Gesicht einer uralten Frau. Die letzten Wochen hatten ihr zugesetzt, es hatte harte Arbeit gegeben, und sie war kein Kind mehr, unsere Schwalben-Mutter. Ihr Blick war zugleich härter und sanfter, strenger und tiefer geworden; die Vertrautheit mit dem Tode hatte ihn verändert. Nun also surrten sie wieder über der schönen, tapferen, viel gequälten Stadt Barcelona – die schwarzen, wendigen Todesvögel; die schrecklichen Maschinen deutscher und italienischer Konstruktion. Die Sirenen heulten – aber zu spät, es hatte schon gekracht, dies war schon der Höllenlärm der Zerstörung, die Leute von Barcelona erreichten die Unterstände nicht mehr, man hatte sie überrascht – welch ein Spaß! Welch geglücktes kleines Experiment! Kinder winden sich in ihrem Blute, man hat sie auf offener Straße erwischt, die roten kleinen Bestien! Noch eine Bombe – solid-preußisches Fabrikat – eine Mietskaserne stürzt zusammen wie ein Kartenhaus. Hier wohnten Menschen, Männer, Frauen, Kinder, Familien waren hier glücklich oder zankten sich, waren arm oder in leidlich guter Situation – was geht es uns an! Keine Sentimentalitäten! Hin ist hin, nichts ist billiger und leichter zu ersetzen als ein paar Dutzend Menschenleben – lohnt es sich, die Leichen unter den Trümmern hervorzuziehen? Man kann sie nicht mehr erkennen; sie sind verstümmelt, beinah plattgedrückt – da seht ihr, was die Menschenwürde ist! Haben diese komischen Kadaver noch Würde? Lacht doch über sie! Kichert, frohlockt über die komplette Entwürdigung! Wer weint hier? Wer ist altmodisch, ahnungslos genug, noch Tränen zu vergießen angesichts eines so natürlichen, heiteren, durchaus modernen kleinen Zwischenfalles? – Nehmen Sie sich doch zusammen, Fräulein! Sie scheinen zu vergessen, in welcher Zeit Sie leben! Das Gebot der Stunde heißt: Entmenschlichung; Verhärtung des Herzens … Voici le temps des assassins! Sie werden ja zum öffentlichen Gespött, dumme Gans!

Wir kennen die Weinende, es ist das Meisje, sie irrt mit ihren zwei Kameraden, der Schwalbe und Dr. Mathes, vor den aufgerissenen, zerfetzten, rauchenden, brennenden Häusern. Ganze Straßenzüge sind in Trümmer gelegt, die Häuser stehen schauerlich geöffnet, ihre Vorderwand ist abgefallen, schamlos enthüllen sie ihr Inneres, ihr Eingeweide: man kann in die Stuben sehen wie auf kleine Bühnen. Noch immer stürzen Treppen oder Mauern ein. Das fallende Gestein donnert wie eine Lawine. Die Verwundeten schreien, manche wimmern nur noch, andere schweigen. Die Toten schweigen. Es schweigen auch die Leute von Barcelona – die Bürger der Märtyrerstadt. Stumm irren sie zwischen den Trümmern.

Das Meisje aber vergießt Tränen. Man muß es ihr verzeihen, sie ist überanstrengt und übrigens halb verhungert. Es gibt nicht mehr viel zu essen in der schönen Stadt Barcelona. Sie taumelt, Mathes und Mutter Schwalbe halten die Sinkende.

»Meisje … liebes Meisje …« flüstert Mathes. Er liebt sie, er ist ihr Gatte, sie sind glücklich gewesen. Er streichelt ihre Wangen, ihr zerzaustes Haar. Seine Hand zittert. Wenn er nur eine Zigarette hätte! Er hat seit Tagen keine Zigarette gehabt, die Gier nach dem Nikotin ist viel ärger als Hunger. – »Meisje … aber Meisje!« wiederholt er und zieht sie an sich; sie gleitet beinah willenlos in seine Arme. Dort ruht sie, mit geschlossenen Augen, das blasse schöne Gesicht naß von Tränen.

Was aber ist nun in die Schwalben-Wirtin gefahren? Sie läßt Meisje los – das kann sie riskieren: Mathes stützt und hält seine Frau – sie eilt davon, die würdige Matrone macht große Schritte – es ist halb ein Marschieren, halb ein Hüpfen: überraschende Gangart für eine weißhaarige Alte. Der feldgraue Soldatenmantel, den sie trägt, reicht ihr fast bis zu den schweren, schmutzigen Stiefeln. Der Mantel ist ihr zu weit, er flattert, da sie nun hüpft und stapft. Was haben ihre scharfen Augen – die Kapitänsaugen unter buschigen Brauen – denn entdeckt? Warum eilt sie so? Hier gibt es doch nichts als Trümmer …

Noch hat sie nicht gesehen, nur gehört. Sie läuft dem leisen Weinen eines Kindes nach. Sie lauscht und rennt. Aus dieser Richtung ist das rührende Geräusch, die kleine Klage des Kindes gekommen … Die Schwalben-Mutter sieht sich gezwungen, über eine Leiche zu steigen, wie über einen gefallenen Baum. Der Tote starrt ihr aus aufgerissenen Augen nach, die Schwalben-Mutter erschrickt, sie hat Angst, sie bemerkt nicht, daß sie in eine Blutlache getreten ist: nun gibt es auch noch rote Flecken an ihren Stiefeln, neben den erdigen Krusten.

Gleich aber wird sie das blicklose Starren des Toten vergessen dürfen; denn dort sitzt das Kind – klein, rundlich und wohlerhalten, unter gestürzten Steinen, wie in einer Nische. Ein ganzes Haus ist zusammengestürzt, seine Einwohner sind getötet, wie viele mögen hier begraben sein! Dieses Kind ward verschont. ›Ein Wunder!‹ empfindet die alte Frau. Sie ist niemals fromm gewesen, der Hang zum Mystischen liegt ihr fern, nun aber fühlt sie: ›Gott sei Lob und Dank! Er hat ein Wunder getan!‹

Dieser kleine Mensch sollte gerettet werden, das berstende Gemäuer durfte ihn nicht verletzen, kein Haar auf seinem runden, glatten Köpfchen ward vom Feuer versengt. Der kleine Mensch indessen zeigt keine Dankbarkeit; vielmehr scheint er recht ärgerlich über die Störung. Er schüttelt die Fäustchen und läßt die Unterlippe beleidigt hängen. Wo ist seine Mutter? Sie hatte gerade eine Tasse voll Milch vor ihn hingestellt – für kleine Kinder hat die Stadt Barcelona noch etwas Milch reserviert. Dann gab es diesen abscheulichen Lärm, und der gefüllte Napf verschwand, gleichzeitig mit der Mama, die ihn gehalten hatte.

Das Bübchen beruhigt sich, da es von der Schwalben-Mutter hochgehoben wird. Mit behutsamem, festem Griff hält die weißhaarige Deutsche den kleinen Bürger von Barcelona. Vor seinen großen, runden, goldbraunen Augen steht plötzlich – erstaunlich weitflächig, drollig und vertrauenerweckend – ein Gesicht mit vielen Runzeln und Falten, ein braves altes Gesicht, eine strahlende Miene. Die Augen der Schwalben-Mutter leuchten. Da lacht auch der Kleine. Er kichert, er quietscht vor Vergnügen. Seine weiche, zarte, unversehrte Wange schmiegt er an ihre harte, verwitterte. Seine winzigen, runden Finger zausen ihr borstiges Haar. Es ist lustig, mit dem harten, weißen Haar zu spielen. Das Haar seiner Mutter war schwarz und weich. Wo ist die Mutter? Der kleine Bürger von Barcelona hat sie schon vergessen. Er ist grausam. Er amüsiert sich. Er denkt nicht mehr an die gute Milch, die vergossen wurde, und er weiß nichts von dem vergossenen Blut.

Die Schwalbe, mit ihrem kostbaren Fund, ist zurückgekehrt zu Dr. Mathes und seinem Meisje. – »Dem Kleinen ist nichts geschehen!« Alle drei bestätigen es immer wieder, sie können es gar nicht fassen, ihre Freude ist groß. Das Meisje hatte schon zu weinen aufgehört. Nun aber sind ihr die Augen wieder naß geworden. – »Wie niedlich er ist! Sieh doch – die kleinen Hände! Es ist ihm gar nichts geschehen!«

›Es wird ihr doch nichts geschehen sein?‹ dachte Professor Samuel. Er meinte das arabische kleine Mädchen, mit deren Porträt er beschäftigt war. Um vier Uhr hatte sie zur Sitzung kommen sollen, und jetzt war es beinah sechs. In den Straßen von Jerusalem hatte man heute wieder geschossen; der Krieg zwischen Arabern und Juden hörte nicht auf, die Soldaten Seiner Britischen Majestät mußten eingreifen. Wenn dem hübschen kleinen Mädchen nur nichts passiert war! Sie hat so reizvoll geschnittene Augen, ein so liebes Lachen und oft so kindlich ernste, weise, rührende Blicke – es wäre schade um sie. Übrigens ist das große Porträt, das Samuel vor zwei Monaten begonnen hat, noch lange nicht fertig. Der Meister läßt sich Zeit; er arbeitet gemächlich und mit Genuß – immer verliebter ins Detail; tiefer bezaubert denn je vom Reiz der Farben. Zuweilen denkt er: ›Die »Junge Araberin mit weißen Blumen« wird vielleicht mein letztes Bild sein. Jedenfalls ist es mein schönstes. Ich bin auf der Höhe – was wohl bedeutet, daß ich nah dem Ende bin. Nach einer Übung von fünfzig Jahren, nach dem Training eines langen Künstlerlebens, fange ich endlich an, zu begreifen, was Farben sind … Wenn man’s begriffen hat, malt man das schönste Bild; ist aber innerlich schon darauf vorbereitet, den Pinsel nächstens wegzulegen.

Heute wird die Kleine also nicht mehr kommen; wahrscheinlich hat sie mich einfach versetzt; ist mit einer Freundin ins Kino gegangen oder mit einem Freund. Übrigens könnte ich jetzt doch nicht mehr arbeiten; das Licht ist schwach geworden – welch ein blasses Licht, in welch fahlem Glanz stehen die Dinge!

Jerusalem ist schön zu dieser Stunde; die Heilige Stadt hat viel feierlich-traurige Schönheit, zu Anfang war ich glücklich hier – beinah glücklich; mir gefielen die jungen Leute; ich dachte: etwas ganz Neues entwickelt sich hier, die Wiedergeburt, die vielversprechende Renaissance einer Rasse; die jungen Juden – dachte ich erfreut – haben keinen scheuen Blick, keinen gebückten Gang mehr; sie schauen mutig um sich, tragen den Kopf hoch, ein neues Selbstbewußtsein gibt ihnen neue Würde. Und wie sie arbeiten können! Ich beobachtete sie auf den Feldern, an den Neubauten, an den Maschinen; ich sah ihnen auf den Sportplätzen zu. Ich zeichnete sie in den schönen Posen der Arbeit und des Vergnügens. Ich war stolz auf sie. Ich fühlte: Es ist gut, einer von ihnen zu sein. Ich gab mir Mühe, etwas Hebräisch zu lernen. Man ließ mich ein Fresko für eines ihrer neuen Gebäude entwerfen. Ich wollte ein guter Bürger unseres alten, neuen Landes sein.

Das war zu Anfang, in den ersten Wochen. Seitdem habe ich viel gesehen – zu viel, und nicht alles war gut. – Bin ich enttäuscht? Es wäre eine Schande, dies zuzugeben. Das Leben ist überall interessant, es hat überall Farbe, es kann nie enttäuschen. Langweilig und schlimm sind nur die kleinen – oder großen – Probleme, mit denen die Leute sich ihr Leben vergällen: lauter erfundene Sorgen, abstrakte Komplikationen – sowohl stumpfsinnig als auch gefährlich; beunruhigend und öde zugleich. Oh, über diesen Dünkel der Klassen, Rassen, Religionen! Über all diese Trennungen, Unterscheidungen, Isolierungen! Geschwätz ohne Ende – unfruchtbar, eitel und monoman! Ich bin seiner müde, es ekelt mich an. Jüdische Freunde nehmen mir übel, daß ich das Porträt einer kleinen Araberin male: es scheint ihr nationales Ehrgefühl, ihren »jüdischen Stolz« zu beleidigen. Wie mesquin – und wie dumm! Sind die Lippen und die Augen dieses Kindes weniger lieblich, leuchten die Blüten zwischen ihren Fingern minder stark, weil die Juden und die Araber sich um ein Stück Erde zanken …? Ich gewöhne mich nicht mehr an das Pathos der modernen Unduldsamkeit. Die dogmatische Unerbittlichkeit der jungen Generation langweilt mich bis zu Tränen und tut mir weh, wie eine lange Behandlung beim Zahnarzt. Die Deutschen verachten die Juden, die Juden verachten die Araber, und übrigens polemisieren sie auch untereinander: den Juden aus Frankfurt am Main sind ihre Brüder aus Krakau oder Bukarest nicht gut genug, die Sozialistischen sind gegen die Liberalen, und die orthodox Nationalen sind gegen den ganzen Rest. Warum versuchen sie das ordinäre Pack, das uns aus Deutschland vertrieben hat, an Unduldsamkeit und Roheit zu übertrumpfen …? In Mallorca haben die Faschisten mich an die Wand gestellt – aus purer Schelmerei, nur um sich über die Grimassen zu amüsieren, die ich schneiden würde. Ist dies der Humor des zwanzigsten Jahrhunderts …? Und hier werde ich fast boykottiert, weil ich gute Freundschaft mit den Arabern halte. Es ist betrüblich, die Menschen solcherart herunterkommen zu sehen. Schon verändern sich auch die Gesichter – nicht zum Vorteil, wie sich versteht. Rohe Mienen, ohne Reiz und Geist – mir, dem Maler, fallen sie peinlich auf. Die Menschen anderer Jahrhunderte zeigten edler geformte Stirnen, Nasen und Hände. Wird die Menschheit häßlich, wie eine geistlose Frauensperson, die ohne Charme altert? Sie schminkt sich jugendlich frische Backen, wodurch sie noch gemeiner und verbrauchter wirkt. Es wäre ganz trostlos – wenn nicht auch noch andere Typen vorkämen. Mein väterliches Malerauge entdeckt sie gleich, prüft sie mit Wohlgefallen und freut sich ihrer. Zuweilen erscheint ein Antlitz in der Menge – hier, oder sonst irgendwo – es ist stolz und rein; es hat den Schimmer der Unschuld, samt der Würde, die nur das überstandene Leiden verleiht. Ich sehe es und finde mich neu entflammt, neu verliebt – unersättlicher alter Liebhaber des Menschenantlitzes, der ich bin.

 

So wäre noch nicht alles verloren? Sind neue Kräfte im Anrücken? Formiert sich eine neue Elite? Ist eine neue Schönheit im Entstehen begriffen?

»Zu jeder Zeit gab es eine verwesende und eine werdende Welt.« – Wo habe ich das neulich gelesen? Bei Nietzsche.

Ich will mich ans Fenster setzen und das letzte Licht dieses Tages zur Lektüre nutzen. Aber es ist nicht die Zeitung, die mich lockt; nicht das politische Magazin. – In Nietzsches Nachlaß finde ich die Stelle:

»Pfui über die, welche sich jetzt zudringlich der Masse als ihre Heilande anbieten! Oder den Nationen! Wir sind Emigranten …«‹

Der alte Mann am Fenster blieb unbeweglich, die erfahrene Stirn über die Seiten des Buches geneigt. Indessen las er nicht weiter. Die Augen träumten, und um den blassen, sinnlichen Mund lag ein Lächeln – sehr trauervoll und nicht ohne Hochmut.

›Wir sind Emigranten … Wie recht hat der kranke Weise! Und wie weise ist er gewesen, solche Erkenntnis für sich zu behalten, solange er lebte: erst im »Nachlaß« wurde sie publik. Hat man ihn ganz verstanden? Fühlt man Stolz und Schmerz seiner Klage? Denn es ist eine Klage, sie enthält auch Heimweh, die Isoliertheit tut weh, es ist kein leichtes Los: sich von der Gemeinschaft zu distanzieren – und sei es selbst von einer schäbigen, erbarmungswürdigen Gemeinschaft. Dies gesteht der kranke Weise, indem er das Wort »Emigranten« wählt, um seinen Zustand, Hochgefühl und Pein seiner seelischen Situation zu beschreiben. »Wir sind Emigranten …« Es liegt Resignation in der Formulierung, neben dem Schmerz und dem Stolz. Siegesgewissere Bezeichnungen wären leicht zu finden gewesen – gar zu leicht, wie dem anspruchsvollen Weisen scheinen wollte. Er bevorzugte die genaue, realistische, nicht sehr dramatische Definition: wodurch er sich nicht nur als Stilist äußersten Ranges, sondern auch als Prophet erwies – wie schon bei anderen Gelegenheiten. Wußte er denn voraus, was bevorstand? Kannte er unser Schicksal? Er erschauerte vor Katastrophen, deren Opfer wir erst werden sollten. Den Philosophen der »Macht« konnte nichts überraschen: er hatte die Abgründe in sich, vor denen er warnte; er selbst war Teil des Unheils, gegen das er seherisch sich empörte. Er wußte Bescheid – selbst über den vulgären Mißbrauch, den man treiben würde: mit seiner Lehre und mit seinem Martyrium. Er hat sich zu uns bekannt – ja, zu uns! Zu den Emigranten!‹

Der alte Mann dachte: ›Keine komfortable Existenzform, zu der sich der Weise entschloß! Irdisches Glück erschien ihm kaum sehr erstrebenswert, nicht einmal an irdischer Würde war ihm gelegen; er hätte es entschieden besser, glänzender haben können, bei seinen Talenten. Mit den Emigranten ist nicht viel Staat zu machen. Um die Wahrheit zu sagen: die meisten von ihnen sehen recht erbärmlich aus. Es gibt Ausnahmen, zum Beispiel meinen Freund Siegfried Bernheim – eine äußerst repräsentative Figur. Was treibt er denn eben jetzt? Spielt er Bridge mit dem Bundeskanzler von Österreich?‹

Professor Samuel hatte lange keine Zeitungen gelesen und keine Menschen gesehen, außer einer kleinen Araberin mit süßen Augen und Lippen. Sonst hätte ihm sehr wohl bekannt sein müssen, daß der Bundeskanzler von Österreich durchaus nicht in der Stimmung und nicht einmal in der Lage war, mondänen Vergnügungen nachzugehen – die ihn übrigens niemals gelockt hatten.

Was den Bankier Siegfried Bernheim betraf, so war er, zu seinem Kummer, dem Herrn Bundeskanzler niemals vorgestellt worden. Freilich hatten zu seinem intimeren Umgang verschiedene Herren gehört, die ihrerseits Seiner Exzellenz nahestanden. Vor allem die beinah freundschaftliche Beziehung zu hohen klerikalen Würdenträgern hatte dem Bankier recht herzlich wohlgetan. Stolze, wohlige Gefühle bewegten ihm die Brust, wenn er sich mit legitimen Grafen, klugen und gewandten Priestern abends traulich unterhalten durfte. Jeden, der pessimistisch war, was die Zukunft Österreichs betraf, wies er würdig zurecht. Felsenfest war Bernheims Überzeugung: ›Diesmal habe ich aufs richtige Pferd gesetzt. Über uns hält der Vatikan seine schützende Hand – und außerdem gibt es noch Mussolini. Auf die Unabhängigkeit Österreichs kann er nie verzichten: wenn Deutschland den Angriff wagte, der Duce ließe am Brenner mobilisieren, wie auch früher schon. Meine trüben Abenteuer von Mallorca werden sich keinesfalls wiederholen.‹

So zuversichtlich war der Bankier, dessen intellektuelle Kräfte sich von dem Mallorquiner Schock niemals ganz erholt hatten. Er spielte eine Rolle in der guten Wiener Gesellschaft. Seine Villa, außerhalb der Stadt, war ein Treffpunkt einflußreicher Leute. Man fand die Küche vorzüglich; die Bilderkollektion beachtenswert. Niemand zweifelte die Echtheit des Greco an, und man war liberal genug, sich an dem sinnlichen Reiz des Renoir zu entzücken.

Bernheim blieb optimistisch, bis zum bitteren Ende. Der Bundeskanzler tat die schauerliche Fahrt nach Berchtesgaden; das Plebiszit, das die Nazis erledigen sollte, ward kühn beschlossen – und abgesagt. Bernheim sagte: »Es gibt immer noch Mussolini!«

Indessen bekam er Anlaß zu schmerzlichster Verwunderung. Nur die deutsche Armee marschierte, während die italienische sich durchaus still verhielt. Österreich wehrte sich nicht, Frankreich hatte Kabinettskrise, Europa beobachtete mit ehrfurchtsvoller Spannung die historischen Vorgänge, der Führer und der Duce wechselten fröhliche Telegramme. Bernheims einflußreiche Freunde wurden verhaftet oder waren schon abgereist, mehrere von ihnen erschlug man, alle galten jetzt als Vaterlandsverräter, weil sie ihrem Vaterland nach bestem Wissen und Gewissen gedient hatten. Bernheim – guter Katholik und österreichischer Patriot – erkannte endlich mit Grauen: ›Ich habe mich wieder verrechnet, es geht noch einmal schief. – Gibt es denn keine stabilen Werte mehr in dieser zerrütteten Welt?‹ – grübelte der fassungslose Bankier. ›Hält sich nicht einmal Mussolini …? Dem Himmel sei gedankt, daß ich Geld in England habe! Ich reise nach London, lieber heute als morgen …‹