Klaus Mann - Das literarische Werk

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Er klingelte dem Kammerdiener, damit er ihm die Handkoffer packe. Der Bursche war in die Stadt gegangen, ohne erst Erlaubnis einzuholen. Bernheim mußte sich seine Sachen selbst zusammensuchen. Ein paar kostbare Kleinigkeiten – schwere Manschettenknöpfe; Krawattennadel mit großem Diamanten – steckte er sich in die Tasche – für alle Fälle. ›Die Möbel und Bilder werde ich mir hoffentlich nachkommen lassen können.‹ Er hatte Tränen in den Augen, als er Abschied von dem Greco nahm, den Professor Samuel für eine Fälschung hielt. – ›Das französische Transitvisum werde ich wohl kriegen‹, meinte er. ›Der Generalkonsul ist einer meiner guten Freunde … Nur ein Glück, daß meine Steuerangelegenheiten in Ordnung sind! Es gibt keinen Vorwand, mich zurückzuhalten …‹

Er ließ den Wagen vorfahren und wunderte sich beinah, daß der Chauffeur zur Stelle war, in seiner adretten, kleidsamen Uniform. Übrigens sah der junge Mann verdrossen aus. »Wir fahren zum französischen Konsulat«, bestimmte Bernheim, mit einer Stimme, die immer noch kräftig und salbungsvoll klang.

Wie schauerlich hatte Wien sich verändert: über Nacht, ganz ohne Übergang und Vorbereitung, hatte es ein fremdes und bedrohliches Gesicht bekommen. Überall wehten die Hakenkreuzfahnen, und Figuren machten sich breit, die sonst höchstens im Halbdunkel sichtbar geworden waren. Die meisten trugen Uniformen, breite Armbinden und farbige Hemden. Sie blickten angriffslustig und tückisch. Ihr Grinsen war triumphierend, gleichzeitig aber feige; sie schienen sich der neuen Macht noch nicht ganz sicher zu sein. Echte Triumphatoren tragen die Häupter stolzer und schöner gereckt. Diese duckten die breiten Nacken, als erwarteten sie Schläge von oben. ›Mörder …‹, dachte beklommen Herr Bernheim in seiner Limousine. ›Sie sehen alle wie Mörder aus. Was ist aus meinem schönen, frommen, konservativen Wien geworden?‹ – Sogar die Lieder, die gesungen wurden, klangen grauenvoll. Jubelrufe, dünn und schrill, ließen sich hören. Eine ältere Frauensperson schrie mit zänkischer Stimme in Bernheims Wagen hinein: »Heil Hitler!« Er hob matt den Arm; mit dem anderen zog er den seidenen Vorhang vor das Fenster des Coupés.

Indessen hielt das Gefährt vor dem Konsulat. Bernheim konnte sich noch nicht gleich zum Aussteigen entschließen. Er lüftete den Vorhang ein wenig; was er sah, war erschreckend. Vor dem Haus mit der französischen Flagge standen die Leute Schlange – eine lange, stumme Reihe auf das Trottoir hinaus. Bernheim bemerkte respektable Herren, die er kannte. Sie standen gebückt, den Hut tief in die Stirn gezogen. Wie bleich sie alle waren – und die Gesichter schienen von Angst verzerrt.

Es gab Grund genug, sich zu fürchten. Der Menschenauflauf um die Wartenden wurde immer dichter. Weiber, Burschen, Kinder blieben stehen – Arme in die Hüften gestemmt, und die Mäuler höhnisch aufgerissen. Sie kreischten Beleidigungen: Bernheim hörte es durch die Fensterscheibe. Es war eine dicke Frau in blauer Schürze, die einen der Juden an den Schultern packte. Erst schüttelte sie ihn ein wenig – es wirkte fast neckisch, besonders weil die Frau so vergnügt dazu kicherte. Indessen blieb der Herr schrecklich ernst; wehrte sich auch nicht, bekam vor Angst geweitete Augen. Es wurde stärker gelacht; die Heiterkeit erreichte ihren Höhepunkt, als die Dicke dem Bankdirektor – einem von Bernheims einflußreichen Freunden – mit flacher Hand ins Gesicht schlug. Auch diese Ohrfeige hatte noch scherzhaft-intimen Charakter. Indessen reagierte die Menge, als hätte der Bankdirektor seinerseits die Frau mißhandelt. Mehrere Männer stürzten sich auf ihn, er ward von ihren Leibern zugedeckt, dem Pöbel entging der amüsante Anblick seines Falles. Hingegen konnte man ihn jammern hören. Die Prügel, die er jetzt bekam, waren ernst; vielleicht waren sie tödlich. Bernheim sah das Gesicht seines alten Freundes nicht mehr.

Die Leute applaudierten: hier ward gute Arbeit getan. Sie heulten: »Saujud! Menschenschinder!« Das Goldene Wiener Herz war in Aufruhr, die Wiener Gemütlichkeit tobte, der Stephansturm schaute zu. »Immer feste druff!« verlangte schneidig eine Männerstimme mit dem preußischen Akzent, der hier früher kaum beliebt gewesen war. Jetzt aber nahm niemand Anstoß; man war in festlicher Stimmung, durchaus bereit, das alte Vorurteil aufzugeben, und übrigens vom Ehrgeiz erfüllt, selber »schneidig« zu werden. »Immer feste druff!« kreischte das Goldene Wiener Herz – der Berliner Tonfall klang noch nicht ganz natürlich aus dem Munde der Österreicher; aber sie würden es lernen, waren der besten Absichten voll – und prügeln konnten sie jetzt schon wie die deutschen Brüder in Dachau oder Oranienburg: dies bewiesen die uniformierten Burschen, lauter echte Wiener Kinder, tapfere Kerle – zehn junge Athleten gegen einen kränklichen alten Israeliten – immer feste druff!

Bernheim sagte mit bebenden Lippen zu seinem Chauffeur: »Fahren Sie weiter!« Er dachte: ›Ich werde mit dem französischen Konsul telefonieren; ich schicke ihm einen Boten; er gibt mir das Transitvisum – er muß es mir geben – ich muß fort – der Konsul hat bei mir zu Abend gegessen, er kann nicht dulden, daß ich hier erschlagen werde wie ein toller Hund …‹

Er wiederholte: »Ich bitte Sie – fahren Sie weiter!« Der Chauffeur antwortete ihm mit einem trüben Blick über die Schulter. Der Wagen war schon umringt; Bernheim begriff: Ich bin in der Falle, bin ausgeliefert, am Ende. – Der Chauffeur schaute ihn an, mitleidig und verächtlich. Bernheim erinnerte sich plötzlich, in all seiner Angst: Der Chauffeur war ein Sozialdemokrat, er hatte im Februar 1936 gegen die Truppen der Regierung Dollfuß gekämpft, er hatte die Regierung Schuschnigg gehaßt, er verabscheute auch die Nazis, er war nicht für die Restauration, er war für die Republik. »Im Februar 1936 haben wir Österreich verloren!« Diese Worte hatte Bernheim von ihm gehört – jetzt fielen sie ihm ein. Der Chauffeur sah ihn an; sein Gesicht blieb starr, als die Tür des Wagens aufgerissen wurde.

Ein Arm mit Hakenkreuzbinde langte in den Wagen; ein entmenschtes Gesicht ward sichtbar. – »Sind Sie auch ein Jud?« – Welch entsetzliche Stimme! Der Atem, der zu ihr gehörte, stank nach Bier. Herrn Bernheim wurde sehr übel; er fürchtete, sich übergeben zu müssen. »Ich bin Ausländer!« brachte er hervor. Die Antwort war nur ein dröhnendes Gelächter. »Das kann jeder sagen!« höhnte die stinkende Stimme. »Was für einen Paß hast du dir denn gekauft, du Hund?« – »Ich bin Bürger des Fürstentums Liechtenstein!« Bernheim machte eine letzte Anstrengung, seine Würde zu wahren und sowohl gütig als auch kräftig zu wirken. Indessen ward das Gelächter noch wilder. Der Mann, der Bier getrunken hatte, ließ dumpfes Jubeln hören. »Hoho! – Und so was fährt in einem dicken Packard rum!« – als ob es gerade für einen Bürger von Liechtenstein besonders unpassend wäre, in einem luxuriösen Automobil zu sitzen.

»Die Koffer hat er auch schon mitgenommen!« stellte erbittert ein verwelktes Frauenzimmer fest: es war die gleiche, die vorhin so zänkisch den Führer hatte hochleben lassen. Der Biertrinker machte plötzlich ein strenges Beamtengesicht. »Wahrscheinlich Steuerhinterziehung!« behauptete er völlig sinnlos und sah tugendhaft aus: eine Stütze der Ordnung, legitimer Verteidiger staatlicher Interessen. – »Das werden wir ja gleich haben!« brüllte er, die Miene purpurn verfärbt. Er riß Bernheim aus der Limousine – ihn mit beiden Armen umfassend, wie zu einer mörderischen Liebkosung.

Siegfried Bernheim, zu Boden geschleudert, berührte das Straßenpflaster mit seiner Stirn. Er kauerte wie ein Orientale in der Pose der Andacht. Die Hände hatte er vors Gesicht gelegt; zwischen seinen dicken Fingern quoll der rosig-graue Bart hervor. Er hielt still; er wußte nur noch: ›Sie werden mich schlagen …‹ Da spürte er schon den ersten fürchterlichen Hieb im Nacken. Es mußte ein Gummiknüppel sein, von dem er getroffen wurde. Bernheim hatte in seinem Leben noch niemals solchen Schmerz gekannt. Er dachte: ›Ich will nicht schreien. Das Gesindel soll mich nicht weinen hören …‹ Gleichzeitig aber ward ein Wimmern laut – ein fremdes, kindisches kleines Wimmern: er erkannte es nicht, und doch kam es aus seinem Munde. ›So ist das also‹, fühlte er, halb betäubt. ›So ist es, wenn man geschlagen wird mit einem Gummiknüppel. Man kann den Hals nicht mehr rühren, er wird heiß und steif, wahrscheinlich wird es eine große Beule geben – mein Gott, tut das weh; man bekommt nasse Augen, und man wimmert, ob man will oder nicht.‹ – Die Beobachtungen waren interessant, wenngleich schaurig. Übrigens blieb eine gewisse Neugierde wach in dem gemarterten Kopf. Bernheim fragte sich: ›Was werden sie jetzt mit mir machen? Sie haben mich geschlagen; vielleicht töten sie mich …‹

Sie hatten noch allerlei mit ihm vor. Die Verwelkte mit der zänkischen Stimme forderte animiert: »Er soll putzen! Den Boden soll er aufputzen, die Plakate von der Vaterländischen Front soll er wegputzen von der Mauer! Auf der Ringstraße drüben haben die Saujuden auch putzen müssen!« Sie schien entzückt von ihrem kleinen Einfall; ihre Stimme krähte vor Begeisterung. »Ich habe lang genug die Böden aufgewischt!« erklärte sie noch. »Bei einem Juden – ja, so hat eine Volksgenossin sich erniedrigen müssen! Jetzt sind aber die an der Reihe! Putzen soll er – putzen – putzen!!« jauchzte sie mit ekstatischem Eigensinn. Bernheim, aufs Pflaster gekauert, dachte: ›Die Plakate von der Vaterländischen Front? Sie können doch gar nicht fest an den Mauern kleben; sind doch nur dünnes Papier … Was war denn die Vaterländische Front? Ach ja – das falsche Pferd, auf das ich gesetzt habe. Fünfundzwanzigtausend Schilling hab ich für sie gegeben – das Geld hätte ich besser verwenden können – warum schreit die Person eigentlich immerfort, ich soll putzen?‹

Der Vorschlag der verwelkten Haushälterin wurde allgemein verständig gefunden; gleich schrie die Menge im Chor: »Putzen soll er! Putzen!« Sogar Herrn Bernheims Chauffeur schrie mit, sonst wäre er wohl seinerseits verprügelt worden, man hatte ihn schon »Judenknecht« genannt; einige meinten sich zu erinnern: »Das ist so ein alter Sozi!« Sollte er Schläge riskieren, wegen des Bankiers? Nichts konnte ihm ferner liegen; lieber rief er, mit den anderen: »Putzen soll er!« – übrigens mit etwas gedämpfter, brummender Stimme. Sein Gesicht blieb starr und verächtlich. Er dachte: ›Blöde Hunde! Meint ihr wirklich, euch wird’s künftig besser gehen, weil ihr heute ein paar Juden schikanieren dürft? Glaubt ihr, das ist die Revolution? Daß ihr euch so anschwindeln laßts! Schön blöd müßts ihr sein! Zum Menschenfeind könnt man werden …‹

 

Angesichts des wimmernden alten Mannes, der wie in jammervoller Andacht hockte, ward das Goldene Wiener Herz übermütig und einfallsreich. »Straßenkehren?« rief ein flotter Bursch. »Viel zu mild für einen Steuerhinterzieher! – Den Abort soll er saubermachen!« Dies mußte ihm wie eine plötzliche Eingebung in den Sinn und auf die Lippen gekommen sein. Er stand stramm vor Glück, gleichsam einer unsichtbaren Obrigkeit für die Gabe solchen Geistesblitzes dankend. – »Den Abort soll er saubermachen!« Besonders die Damen zeigten sich von dieser neuen Pointe bezaubert. Sie begannen ein wenig zu tanzen: der wiegende Walzerschritt, den niemand der süßen Wienerin nachmacht, ergab sich gleichsam von selbst; die innere Glückseligkeit wollte sich manifestieren. Die jungen Herren aus Berlin und Breslau fanden: Wien ist, wie wir’s uns erträumt haben! So was Goldiges! Nun müssen wir aber beweisen, daß wir nicht die steifen Kerle sind, für die man uns häufig hält. Immer feste druff! Einen Walzer werden wir auch noch schaffen …

Die derben Jungens aus dem fernen Norden – rauhe Schale, aber sonst gut beisammen: gerade was die süße Wienerin lieb hat! – schmiegten Arme um Taillen, drückten Schnurrbärte an zarte Wangen. Die Halbwüchsigen – musikalisch bis in die Fingerspitzen und übrigens voll frühreifem Verständnis für Laune und Bedürfnis der Großen – trällerten und pfiffen, alle miteinander: »Wien, Wien, nur du allein – sollst stets die Stadt meiner Träume sein …« Eine Melodie, bei der kein Mädchenfuß stillstehen kann! Selbst die Dicke in der blauen Schürze, die den Bankdirektor gebeutelt und damit die ganze Gaudi in Gang gebracht hatte, wiegte sich rhythmisch. Da keiner der Berliner Gäste sich um sie bemühte, ward sie ihrerseits aggressiv; der junge Mann, den sie schüttelte, war lang und dünn; erst fürchtete er sich, weil er meinte: Jetzt folgt wohl gleich die Maulschelle und alles übrige! Dann ward ihm klar, daß es diesmal wirklich nur um Schabernack ging: da stellte er seinen Mann, nicht schlechter als die Kumpane. Er stürzte sich ins Vergnügen – ein wenig stöhnend; denn das Gewicht der dicken Blauen war kolossal.

So eine Hetz – das hat’s lang nimmer geben! Seit den Tagen des seligen alten Franz Joseph nicht mehr. Ja, so fesch hat man sich in Wien wahrscheinlich überhaupt noch nie amüsiert.

»Wien, Wien – nur du allein!« – Walzertaumel bei den Burschen von der SS, der SA, der Gestapo, der Reichswehr, der Polizei, der Hitler-Jugend, den Nationalsozialistischen Studentenverbänden. »Zwei Herzen im Dreivierteltakt …«: das patriotische Hochgefühl vermischt sich wohlig mit den Freuden anderer Art. Österreich ist verloren! Österreich ist verraten! Der preußische Kommißstiefel über unserer Stadt! Hurra! »Das muß ein Stück vom Himmel sein – Wien und der Wein …«

Die Wartenden vor dem Konsulat blicken sowohl befremdet als auch hoffnungsvoll. Sie denken: Jetzt werden sie alle närrisch. Umso besser – dann wird man uns vielleicht in Frieden lassen. – Die Gasse hat sich in einen Ballsaal verwandelt, die allgemeine Munterkeit ist grenzenlos; auch Bernheim faßt neuen Mut: ›Sie singen so frohe Lieder, vielleicht bleibt mir das Schlimmste erspart!‹

Die Walzerseligkeit war intensiv; aber doch nicht stark genug, um die Gemüter von den heiter-ernsten Pflichten des Tages völlig abzulenken. Die Halbwüchsigen zwitscherten noch: »Ich weiß – auf der Wieden – ein kleines Hotel …«: da schrillte die Stimme der verblühten Haushälterin: »Er soll putzen – die Bedürfnisanstalt soll er putzen!« Sie vermied das rauhere Wort, das der junge Mann mit dem Geistesblitz verwendet hatte und das dann von der Menge wiederholt worden war: »die Bedürfnisanstalt«, sagte sie spitz und fein. Glücklicherweise fand sich ein solches Lokal an der Straßenecke. Man schleppte Herrn Bernheim hin. Er ward mit Fußtritten, Püffen und lustigen Worten über das schmutzige Pflaster geschleift. Er blutete. Aus einer Verletzung an seiner Stirn lief das Blut, und es tröpfelte rötlich in den Bart. Ach, wohin war seine Würde! Sein edler, menschenfreundlicher Anstand – wohin! War dies noch derselbe Mann, der seine Gäste – Filmvedetten, Staatssekretäre, Professoren – am Portal der Villa, schlicht und feierlich, empfangen hatte? Welche Verwandlung! Welch Sturz!

Hat das Goldene Wiener Herz kein Erbarmen? Ist ihnen das Opfer nicht genug entstellt? Wenn sie kein Mitleid kennen – spüren sie denn nicht Ekel, angesichts solchen Elends? Und es riecht nicht gut, wo sie ihn jetzt hinzuknien zwingen.

Sogar etliche Frauen sind mit eingetreten, obwohl die kleine Baulichkeit ein Schild »Für Männer!« trägt. Wer wird zimperlich sein, zu so festlich-orgiastischer Stunde? Die Ungeheure in der blauen Schürze schnuppert munter die scharfen Odeurs, die hier wehen – während die Verwelkte, geniert und freudig erregt, an der Türe stehenbleibt: Eintreten – nein, das würde nicht schicklich sein! Andererseits will sie sich das Schauspiel keineswegs entgehen lassen.

Das diskrete Häuschen liegt inmitten einer kleinen Parkanlage: glücklicher Zufall; denn hier kann man weiter tanzen. Walzertexte vermischen sich mit dem donnernden Sprechchor: »Den Abort soll er putzen!« Die Melodie setzt sich sieghaft durch: »Nichts Schönres kann’s geb’n – als ein Wiener Lied …« Dann dröhnt es wieder: »Den Abort soll er putzen!« Woraufhin die Mädchenstimmen jubeln: »Das haftet im Herzen – und geht ins G’müt!« – dieses wieder auf das Wiener Lied bezogen.

Wer hatte denn die scheußlichen Geräte bereit, deren Herr Bernheim sich nun bedienen muß? Was man ihm präsentiert, ist ein Nachttopf, und erst stößt man einmal, spaßeshalber, sein Gesicht hinein. Die zähe, dicke Flüssigkeit, mit der sich sein Antlitz beschmiert, hat dunkel gelbliche Farbe und ist ätzend scharf. Aus was für Ingredienzien hat man diesen üblen, fetten Brei gebraut? Er verbrennt die Haut – erst die des Gesichtes, dann auch die der Hände.

Das Bürstchen aber, mit dem er diesen Boden säubern soll, ist derartig klein, daß ringsum das allgemeine Gelächter sich noch steigert. Der Wiener Humor kommt wahrhaft auf seine Kosten; in brüderlicher Eintracht mit dem Berliner Witz darf er sich herzhaft austoben. Es ist ja ein altes Zahnbürstchen, ein zerzaustes, jämmerliches Ding, mit dem der reiche Jud den Boden putzen soll – und was für einen Boden! Die Verwelkte meckert wie eine Ziege über soviel drolliges Malheur. Der Alte stellt sich ungeschickt an, er schnauft und wimmert, es ist wie in einer Posse, im »Theater an der Wien« kann es nicht unterhaltender sein. Die Verblühte tut einen kecken Schritt, weiter in das halbdunkle Lokal hinein, das zu betreten ihr von Natur und Sitte keineswegs bestimmt war. ›Die Sitten ändern sich!‹ beschließt sie kühn. ›Und was die Natur betrifft – nun, ich habe niemals viel Spaß und Vorteil von meinem weiblichen Geschlecht gehabt!‹

Alter Mann auf der beschmierten Erde – du hast Kot und Blut im Barte; du kannst nicht sehen, denn die Augen sind dir von dem verdächtigen Putzmittel verklebt; du kannst nicht sprechen: Scham und Grauen nehmen dir die Stimme; du kannst immer noch leiden, du leidest immer noch. Du bist Hiob, dem der Herr vieles gab, um ihm alles wieder zu nehmen; der Unglücksmann von Uz, den Er mit Aussatz schlug, mit jeglicher Armut, jeglichem Gebreste; den Er stinken ließ und sich im Miste wälzen – Du bist es, wir erkennen dich. Die platte, fleischige Nase, aus welcher Blut rinnt; der entwürdigte Bart – einst deine ehrbare Zierde – die zerrissenen Hände, das zerrissene Herz: es ist uns alles vertraut, die großen Bilder der Menschheit kehren wieder, die Situationen des großen Schmerzes wiederholen sich; du wirst die Stimme heben, Erniedrigter, wirst dir die Brust schlagen, klagen und rasen wirst du: Warum tatest du mir dies, Gott, mein Herr?

Für diesmal ist es genug; der Klageschrei, die mythische Pantomime der extremen Pein – sie sind dir erlassen; nicht diesen Tieren sollst du sie vorführen, sie würden sie nicht verstehen. Sie sind nur Werkzeuge der Züchtigung, ihre Hirne sind stumpf, und sie wissen kaum, was sie tun. Übrigens bleiben auch ihnen Qual und Schmach nicht erspart, du magst davon überzeugt sein. Es wird für sie Ernüchterung ohnegleichen kommen; wer sich so verirrt und so vergessen hat wie dieses Volk, für den wird die Stunde des Erwachens schon der Augenblick der Strafe sein – ganz zu schweigen von mancherlei anderer Heimsuchung, die ihnen vorbestimmt sein könnte.

Nun singen sie noch – wie das Geheul von Irrsinnigen gellt es uns in den Ohren. Noch wiegen sie sich, noch stampfen sie vor Vergnügen. Einer von ihnen möchte den besonders Grausamen spielen: er schlägt den Alten, dessen Hände sich nicht mehr regen, mit gewaltiger Kraft auf den Kopf. Gerade dadurch verkürzt er ihm die Qualen: Bernheim verliert die Besinnung. Er sinkt nach hinten, mit verdrehten Augen; die blutigen Flächen der geöffneten Hände nach außen gekehrt – als wollten sie es dem strengen Himmel zeigen: Siehe, meine Hände sind leer! Ich habe nichts mehr, du hast mir alles genommen!

Dunkelheit nimmt ihn gnädig auf. Er sieht nicht mehr die entmenschten Gesichter seiner Verfolger, er muß nicht mehr ihre schaurig-munteren Lieder hören: den obszönen Chorus der Idiotie; das Triumphgeheul der Verblendeten.

Tausende haben gelitten wie er; manchen ward noch Schlimmeres zugemutet, andere kamen etwas glimpflicher davon. Ein Strom von Flüchtlingen ergießt sich aus dem gemarterten Land: wohin mit ihnen? Wer nimmt sie auf …? Manche Züge, voll mit Menschen, die sich schon in Sicherheit wähnten, mußten an den Grenzen wieder umkehren: das Nachbarland wollte die Unseligen nicht. Sie bringen Unglück, und sie fressen uns arm – dies war das Empfinden der guten Nachbarn. »Weg mit euch!« riefen sie und verscheuchten die Emigranten wie böse Geister. »Sucht euch ein anderes Asyl! Nicht bei uns! Ihr verpestet die Luft, die ihr atmet!« – Wieviel Tränen flossen da, an der Grenzstation! Wieviel Schreie – Männer-, Frauen- und Kinderschreie, ein Konzert von schrillen Dissonanzen, eine Symphonie der Qual! Manche warfen sich vor den Zug: lieber sich von seinen Rädern zermalmen lassen, als zurückkehren in die Heimat, die Hölle. – Die Grenzbeamten zeigten Verständnis für solche Verzweiflungstat, obwohl sie geeignet war, den Eisenbahnbetrieb empfindlich zu stören. »Aber was bleibt den armen Leuten sonst übrig?« fragten die Beamten – milde, soweit das Dienstreglement es erlaubte.

Andere waren glücklicher, sie gewannen die Freiheit, freundliche Menschen standen ihnen bei. In Zürich, zum Beispiel, durften viele eine Weile sich aufhalten – ein paar Wochen nur, wenige Monate höchstens; aber es war doch lange genug, um die dringlichsten Affären zu ordnen, sich Visen und Schiffsbillet für die Überseereise zu verschaffen. Denn was sollte man noch in Europa? Für die Wiener hatte Wien Europa bedeutet; allenfalls kamen noch Salzburg, Innsbruck und Paris in Frage. Nun saßen sie mit verstörten Gesichtern herum und erklärten: »Es gibt Europa nicht mehr …«

So düstere Äußerungen fielen in der Pension »Rast und Ruh«, wo die Damen Tilla und Marie-Luise hilfsbereit tätig waren. Ihr Etablissement war gut besetzt, es war überfüllt, die beiden Frauen hatten alle Hände voll zu tun. Dies bedeutete übrigens keineswegs, daß sie Geld scheffelten: die neuen Gäste zahlten unregelmäßig; viele waren völlig mittellos. Marie-Luise führte die Kontobücher; Frau Tibori kümmerte sich um die Küche. Sie machte Apfelstrudel und Gulasch für die Wiener Freunde – »damit sie sich doch ein bißchen wie zu Haus bei uns fühlen!« – »Ich muß Frau Ottinger besuchen!« Zu diesem Entschluß war Marie-Luise während der letzten Wochen wiederholt gekommen. »Die Gute wird uns noch einmal aus der Patsche helfen.«

Bei Ottingers logierten vertriebene Wiener Dichter, Kammersänger, monarchistische Offiziere, sozialdemokratische Abgeordnete und eine veritable Prinzessin, mit den Häusern Habsburg und Bourbon verwandt, jedoch in arger finanzieller Lage. Das alte Ehepaar hatte täglich etwa vierundzwanzig Personen zu Tisch – lauter Flüchtlinge. Dabei blieben andere vierundzwanzig unsichtbar, die auf Ottingers Kosten in Pension »Rast und Ruh« oder in den kleinen Restaurants der Altstadt ernährt wurden. Manchmal wurde Herrn Ottinger angst und bange, wenn er seine Ausgaben überdachte. Er sagte zu seiner lieben Frau: »Wir sind ziemlich wohlhabend, aber nicht mehr so reich wie früher. Ich muß es dir gestehen: wir zehren vom Kapital – niemals hätte ich gedacht, es könne dahin kommen. Dein Mütterliches wird angegriffen – hast du etwas dagegen?« Er stellte es mit leichtem Schauder fest; auch Frau Ottinger bekam entsetzte Augen; lächelte dann aber, gütig und resigniert. – »Wie lange leben wir noch?« fragte sie ihren alten Gatten. »Noch ein paar Jahre«, konstatierte sie sanft. »Wir werden nicht hungern müssen. Wenn wir Kinder hätten – dann müßte das Kapital unversehrt bleiben. Aber so … Die Flüchtlinge sind unsere Kinder«, meinte sie abschließend. Sie schwiegen beide, die alten, blassen Gesichter nah beieinander. An was dachten sie, daß sie so zärtlich lächeln mußten? An die kleine Tilly vielleicht mit dem schlampigen Mund: die hatten sie geliebt wie ein Töchterchen. Sie erwähnten sie nicht. Vielmehr sagte Madame: »Den kleinen Braunfeld könnten wir bei Peter Hürlimann unterbringen – er hat noch ein Zimmer frei. Ich fürchte nur, der gute Peter kommt gar nicht mehr zu seiner Musik, weil er sich soviel um die Wiener bekümmert. Hat er sich nicht prachtvoll entwickelt? Wenn Tilly ihn nur sehen könnte, wie tapfer und tüchtig er ist …«

 

Nun hatte sie den lieben Namen doch genannt. Herr Ottinger streichelte den Arm seiner alten Gattin – um sie zu trösten, und weil er seinerseits etwas Trost dringend brauchte.

Europa gibt es nicht mehr: sagten die Fliehenden – womit sie insofern recht hatten, als der kranke Kontinent ihnen, den Emigranten, keinen Lebensraum mehr gewähren wollte. Amerika war die Hoffnung. Um hinzukommen, benötigte man die finanzielle Garantie eines Ansässigen, der seinerseits nachweisen mußte, daß er in der Lage war, für den Eingewanderten zu sorgen, wenn der es selber nicht mehr schaffen konnte. Um solche Garantien, Affidavits genannt, bemühten sich fast alle Gäste der Pension »Rast und Ruh« wie auch des Hauses Ottinger. Ohne Ruh und Rast eilten sie zum amerikanischen Konsulat – wo man sie viele Stunden lang antichambrieren ließ – und zu den Hilfscomités – wo man infolge von Überarbeitung die Nerven verlor. Außerdem schickten die Unglücklichen kostspielige und komplizierte Kabel über den Ozean, an alte Bekannte, die ihrerseits gescheit genug gewesen waren, schon vor den neuesten europäischen Evenements ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten einzureisen. Die telegraphischen SOS-Rufe hatten alle den gleichen Refrain: Hier bin ich verloren! Ich ersticke hier, samt meiner Frau und den lieben Kleinen! In Ihre Hände lege ich vertrauensvoll mein ganzes Schicksal!

»Man kann sie doch nicht alle zugrunde gehn lassen! Es muß doch etwas geschehen!« – Dies war Marions Stimme, sie klang beinah zornig, als hätte Benjamin ihr widersprochen; der schwieg indessen und schaute seine Gattin nachdenklich an. – »Natürlich«, sagte er nach einer kleinen Pause. »Ich werde morgen ein paar Freunde um Hilfe bitten … Freilich muß da etwas geschehen. Amerika ist groß und gutgesinnt; es hat Platz für viele …«

Die Jungvermählten hatten sich in einem der südlichen Staaten niedergelassen, er hieß North Carolina, die Universität war gut, Abel hatte eine angenehme Stellung. Die amerikanischen Kollegen fanden, daß es bei Abels »really cosy« war. Marion galt als charmante Hausfrau – aufmerksam und beweglich, trotz ihrer Schwangerschaft. Die Universitätsdamen freuten sich auf das Baby, sie überschütteten Marion mit guten Ratschlägen.

Ihr kleines Haus war nah dem Campus der Universität gelegen. Es hatte nur vier Zimmer, aber die waren nett und hell. Unten gab es das Eßzimmer mit dem runden Tisch und die Bibliothek, wo Abel arbeitete. Dieser Aprilabend war schön und mild; durchs offene Fenster kamen Blütengerüche. Junge Leute schlenderten draußen vorbei; manche sangen, andere lachten nur. Welcher Friede! Wie weit entrückt waren Qual und Aufruhr!

Jedoch lagen auf dem Schreibtisch die Telegramme – die SOS-Rufe mit dem Refrain: »Ihnen vertraue ich mein Schicksal an.« – Eines von ihnen hielt Marion in der Hand. »Sonderbar, daß sich der Mann an mich erinnert; ich kenne ihn nur sehr flüchtig«, erklärte sie, wobei sie ruhelos durchs Zimmer ging. »Er wollte einen Weltstaat gründen – Paneuropa war ihm noch zu provinziell. Nun sitzt er in Basel und darf nicht über die französische Grenze …«

Benjamin bat zärtlich: »Komm zu mir!« Da stand sie hinter ihm, die mageren Ellenbogen auf die Rückenlehne seines Stuhles gestützt. Er wandte sich um. Lange ließ er den Blick auf ihrer Gestalt ruhen. Wie stark ihr Leib schon hervortrat! Und auch ihr Gesicht war verändert: es schien breiter und weicher geworden. ›Es ist schöner geworden‹, dachte Abel mit großer Rührung. ›Noch schöner geworden. Ich liebe es jetzt noch mehr.‹

Sie las in seiner Miene, daß er glücklich war; gerade hierüber empörte sie sich. »Ich schäme mich!« schrie sie auf; dabei preßte sie die Hände an die Schläfen, das zerknüllte Telegramm fiel zur Erde. »Wir sitzen hier in Sicherheit, es geht uns gut, wir haben unser Heim – und überall wächst das Unglück! Das Unglück breitet sich aus wie die Pest. Wann ist je soviel gelitten worden?« – »Immer«, sagte der Historiker, liebevoll und pedantisch. »Oder meistens. Meistens ist soviel gelitten worden. Es war selten besser.«

Dies überhörte sie. Heftig und mit einem Schluchzen in der Stimme sprach sie von den Freunden in Wien. »Sie waren alle so voll Vertrauen! Sie meinten, es müsse ihnen geholfen werden. Niemand hat ihnen geholfen … Was kommt nun an die Reihe?« fragte sie drohend. »Wer wird das nächste Opfer?« Sie reckte das Haupt mit der Purpurmähne – das stolze und leichte Haupt; ihre Augen hatten den Flammenblick – nur leuchtete er jetzt nicht von Zuversicht, war vielmehr von düsterster Ahnung verfinstert. »Prag wird fallen!« – Sie sprach es mit schaurig gedämpfter Stimme, fast war es nur noch ein Murmeln. »Frankreich und England werden die Tschechoslowakei so wenig verteidigen, wie sie das arme Österreich verteidigt haben.«

Glich sie nicht einer Prophetin, mit dem bewegten Purpurschmuck ihres Haares? Solche Züge, solche Blicke hatte Kassandra – Königstochter und Priesterin – das bestürzte Volk von Troja durfte die fürchterliche Schönheit seiner Seherin erst in allerletzter Stunde kennenlernen. Früher waren Pracht und Grauen dieses Angesichts durch die schwarze Binde schonungsvoll bedeckt gewesen. Nun fiel das Tuch, die Eingeweihte warf es zürnend zur Erde: das war nicht mehr die Stunde der zarten Rücksicht. »Eure Stadt wird brennen!« verhieß Kassandra mit dem enthüllten Gesicht – kalt, beinah höhnisch bei allem Schmerz, als wäre es nicht auch ihre Stadt und Heimat, die zugrunde gehn sollte. »Troja wird fallen! Wird brennen!« Glaubte man ihr denn noch immer nicht? Sie hatte sich die Stimme heiser geschrien, mit ihrer unermüdlichen Warnung. Welcher Gott hatte dieses Volk mit Blindheit geschlagen? Welcher Dämon hatte es taub gemacht? Es züngelten schon die Flammen … Muß man eine Seherin sein, um das Feuer zu sehen?