Klaus Mann - Das literarische Werk

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

An euch liegt alles: alles liegt bei euch – spricht die Höchste Instanz. Nichts wird euch abgenommen, kein Engel hilft euch – nur als Beobachter sind die Cherubim unterwegs. Ich empfange Berichte – die mein umfassendes Wissen bestätigen, nicht bereichern können. Ich resümiere, kalkuliere, verifiziere; Ich hoffe, leide, schluchze, gräme mich, freue mich; Ich frohlocke, verstumme; Ich warte. Ich bin geduldig.

Kein Engel hilft euch. Seht, auch der Schutzpatron der Heimatlosen, der Dämon der Expatriierten hat sich entfernt! Vorm Flammensitz legt er genauen Rapport ab. Ich lausche, vergleiche, ziehe Schlüsse, lasse mir nichts entgehen. Dem Engel der Heimatlosen bin Ich sehr gewogen – wenngleich er vorhin etwas schwatzhaft war. Er ist ein tüchtiger Engel, sein Amt ist schwer, und er liebt es. In meinem Hofstaat nimmt er sich sonderbar aus, mit dem bestaubten Melonenhut, dem zerschlissenen Kleid. Aber Ich habe ihm ein Antlitz gegeben mit kühnen und milden Zügen. Gleicht es nicht dem Gesicht eines Kriegers, hart und gespannt, wie es ist? In die Augen jedoch habe Ich ihm das Licht des Erbarmens getan – daher ihre sanfte Macht.

Der Engel der Heimatlosen hat ein Menschengesicht – von der Art, wie es sein sollte und werden muß. Ich liebe diesen, der unter meinen Engeln der Geringste ist, weil Ich euch und eure Zukunft liebe.

Ihr habt so schöne, sonderbare Möglichkeiten. Nutzt sie doch! Meine Liebe zu euch ist voll Ehrgeiz und Mißtrauen, sehr wachsam und sehr empfindlich – alles um der schönen Möglichkeiten willen, die so leicht verderben. Wie schade wäre es um so viele reiche Chancen! Wie jammerschade würde es sein, wenn ihr das Bild, das Ich von euch im Vaterherzen trage, so sehr entstelltet, daß Ich euch nicht mehr erkenne oder mich gezwungen sehe, euch definitiv zu verstoßen! Unvorstellbar die Katastrophe, die solches bedeuten müßte: der Skandal der Skandale, das Fiasko meines ganzen Unternehmens, der universale Ruin. Mir bliebe nichts zu tun, als etwas völlig Neues anzufangen – aber woher die lustvolle Initiative zu einer anderen, zweiten Schöpfung nehmen, wenn die erste, höchst geliebte verdorben ist?

Wollt ihr mir dies nicht ersparen? So nehmt euch doch etwas zusammen! Ich bin sehr besorgt – wenngleich keineswegs ohne Hoffnung. Es liegt alles an euch.

Hört ihr mich, ihr Sterblichen, meine Sorgenkinder mit den interessanten Möglichkeiten? Du, zum Beispiel, Knabe dort auf dem Bett – schmiegsamer Gefährte meiner Cherubim, kleiner Heimatloser – hörst du mich? Vernimmst du den spontanen Ausbruch meiner gewaltigen Sorge?

Nein – natürlich kannst du mich nicht verstehen. Deine Entrückung ist ja zu Ende, und übrigens hätte nicht einmal der Engel dir die Ohren öffnen können für meine Stimme. Du bist irdisch, und du sollst es bleiben. Du schlummerst, ziemlich ermattet von deinem extravaganten Ausflug, der dir eigentlich nicht zugekommen ist – am besten, du vergißt ihn oder hältst ihn für einen Traum.

Ich liebe die Schlummernden, Ich liebe die Atmenden. Ich liebe euch, wenn ihr aufsteht und den Kopf hoch tragt und Gedanken denkt und Worte bildet mit euren Lippen. Ich liebe euch mit unendlicher Liebe, wenn ihr geht und schreitet und vorwärtskommt – auf euren Füßen.

Euer Lachen und euer Weinen klingen mir angenehm, euer Lächeln rührt mich, mich rühren eure Umarmungen, die Küsse, die ihr tauscht, die Lust, die ihr beieinander empfindet. Es gefällt mir, euch essen und trinken zu sehen. In alles, was ihr tut, ist Lust gemischt – meine Lust! Meine väterliche Wonne! Noch in euren Schmerzen kann Ich die Lust erraten; jeder eurer Affekte ist mir Wohlbehagen. Ich liebe eure Hände, wenn sie zupacken und wenn sie ruhen. Ich liebe eure lebendigen Körper und eure Gesichter, die lebendig sind – auf ihnen liegt der Schimmer meiner großen, besorgten Liebe.

Ach – es ergreift mich, wie ihr die Glieder regt; wie ihr euch anfaßt und wieder lasset; wie euer Organismus sich aufbaut und sich entwickelt, Zelle für Zelle, und wie er altert und müde wird und zerfällt. Ich liebe euer Blühen und euer Verwelken. Mich erschüttert eure Anmut und eure Häßlichkeit. Alle Gesten, mit denen ihr euer Leben verbringt, sind mir Gegenstand des gerührten Entzückens.

Das Herz des Vaters ist Flamme. Es brennt, es verzehrt sich in Flammen der Zärtlichkeit.

Dies sollt ihr nicht wissen. Der Liebe Vater verbirgt, stolz und schamhaft, Sein ungeheures Gefühl. Er verhüllt den Blick; Er verschweigt das Wort. Mit liebender Geduld harrt Er jener Stunde entgegen, von der ihr nichts wissen sollt – der Hochzeitlichen Stunde, der Stunde der Kommunion, dem Erlösungsfest, dem Feiertag des Großen Kusses, des Erlöschens …

Mit Schauern von Glück und Angst harrt der Vater, geduldet Sich der Große Liebende. – Ihr aber sollt im Schweiße eures Angesichts erledigen, was euch aufgetragen: Euer Erdenpensum. Die Pläne und Absichten sind zu erfüllen – ob es auch Ströme von eurem Blut und euren Tränen koste.

Seid wachsam und tapfer – dies fordert meine Liebe von euch! Seid energisch, seid realistisch, seid auch gut! Plagt euch! Kämpft! Habt Ehrgeiz und Leidenschaft, Trotz, Liebe und Mut! Seid rebellisch! Seid fromm! Bewahrt euch die Hoffnung!

Steht auf eigenen Füßen!

Epilog

Ein junger Mensch saß in einem Café an der Canebière und schrieb:

Marseille, den 1. Januar 1939. Lieber alter Karl! Wo steckst Du? Bist Du immer noch in Jugoslawien? Ich weiß Deine Adresse nicht – sonst hätte ich Dir schon lange geschrieben. Vor einem Jahr hast Du Dir Deine Briefe nach Ragusa, poste restante, bestellt. Ich versuche es mal. Hoffentlich erreicht Dich mein Gruß. Ich möchte gern von Dir hören.

Nun bin also auch ich unter die Emigranten gegangen. Bist Du darüber erstaunt? – Ich denke mir, eher wirst Du Dich gewundert haben, daß ich so lange Zeit gebraucht habe, um den Entschluß zu fassen. Beinah sechs Jahre … Mir kommt es vor, als seien es sechzig gewesen … Hunderttausendmal hatte ich schon gemeint: Jetzt geht es nicht mehr; ich muß weg … und bin immer wieder geblieben. Aber dann war plötzlich eine Grenze erreicht. Ich hatte gar keine Wahl mehr – verstehst Du? Es ging um mein Leben.

Ich spreche nicht von äußeren Gefahren – die gab es auch, und sie waren lästig genug. Natürlich hatte ich den Mund nicht halten können. Eine Zeitlang bin ich jeden Morgen mit dem gleichen Schrecken aufgewacht: Heute kommen sie, dich zu holen! Wenn ich das Wort »Konzentrationslager« hörte – und man hört es oft – wurde mir etwas übel. Ich wußte: Das bleibt dir auch nicht erspart …

Aber es war nicht nur das, und nicht das vor allem.

Es war auch nicht nur die Wut über den gemeinen, falschen, sinnlosen Krieg, den sie vorbereiten und der im September vor der Türe schien. Nachher hat sich ja herausgestellt: das Kriegsgeschrei, die Mobilisation waren nur Bluff und Schwindel – wie alle Veranstaltungen dieses Regimes. Aber damals haben wir’s doch ernst genommen.

Bin ich ein Pazifist? – Es kommt ganz darauf an. – Kämpfen? Warum denn nicht! Aber auf der richtigen Seite!

Tschechen, Russen und Franzosen totschlagen; Bomben auf Weiber und Kinder schmeißen; Land erobern, damit das deutsche Zuchthaus noch größer wird: ohne mich, wenn ich bitten darf!!

Ich weiß, was Zucht ist, ich weiß, was Patriotismus ist: mein Vater war ein preußischer Offizier. Von ihm habe ich aber auch gelernt, was Anstand und Ehrenhaftigkeit bedeuten. Ein paar andere Kenntnisse und Erkenntnisse mußte ich mir selbständig, ohne väterliche Hilfe, erobern. Haben wir jungen Deutschen den Wert der Freiheit, das Ideal der Gerechtigkeit jemals kapiert? Ich fürchte, wir mußten erst durch die Hölle der totalen Unfreiheit, der kompletten Rechtlosigkeit gehen, um zu ermessen, was wir mißachtet – was wir verloren haben.

Ja, wir sind durch eine Hölle gegangen. Unser Land ist immer noch mitten drin. Es liegt ein Fluch auf unserem Vaterland. Die Luft in unserem Vaterland ist vergiftet.

Das Atmen wird unerträglich. Das ist es: man kann nicht atmen. Die gehäufte Lüge, das Übermaß der Gemeinheit: das verpestet die Luft – wie ein kolossaler Kadaver.

Ich mußte raus, weil ich sonst erstickt wäre! Buchstäblich, ich hatte Erstickungsanfälle.

Die Septemberkrise, der Abscheu vor dem geplanten Krieg waren mehr der akute Anlaß und letzte Anstoß als der eigentliche Grund zu meiner Flucht. (Es war eine ziemlich dramatische Flucht – ich will Dir das alles erzählen: später einmal.)

Ich muß viel an die armen Kerle denken, die drinnen geblieben sind. Du glaubst doch nicht, daß es denen gefällt in der Hölle? Es sind ja nicht lauter Schufte. Aber die Schufte reißen das Maul auf. Die anderen ballen die Fäuste – in den Hosentaschen, zunächst.

Denen gegenüber ist mein Gewissen nicht so ganz rein. Hätte ich aushalten sollen, bei dieser stummen – oder flüsternden – Opposition? War es doch Fahnenflucht, daß ich weg bin? – Aber der Erstickende hat keine Wahl. Für mich gab es nur noch: leben – oder verrecken.

Solang ich lebe, kann ich mich noch nützlich machen. Wenn ich hin bin, ist’s damit aus.

In Paris kam ich an, als die Leute auf den Straßen tanzten und Champagner tranken, aus Freude über den »geretteten Frieden«. Mir taten die Leute leid.

Ich dachte mir: Die armen, guten, ahnungslosen Leute! Sie lieben den Frieden, sie wollen ihn sich erhalten. Wissen sie denn aber nicht, daß es keinen Frieden in Europa geben kann, solange die Nazis an der Macht bleiben? Mit denen ist keine »Verständigung« möglich; Verträge mit ihnen haben keinen Wert – wissen das die Leute denn nicht? Sie werden schon noch dahinterkommen – das dachte ich mir damals, in Paris, und so denke ich heute. Europa wird einsehen, daß es nur die Wahl hat: unterzugehen – oder mit den Nazis fertig zu werden. Es wird gar nicht so furchtbar schwer sein, sie loszuwerden – wenn man nur endlich aufhört, ihnen Konzessionen zu machen! Sie können weder den Krieg aushalten noch den wirklichen Frieden – einen Frieden nämlich, der nicht mehr ein permanentes Erpressungsmanöver der Nazis wäre.

 

All das scheint so einfach. Warum braucht die Welt so schrecklich lang, um es zu begreifen? Wieviel Unglück soll noch geschehen – und hingenommen werden? – Man muß sehr viel Geduld haben.

Ich habe sehr viel Geduld. Für mich gibt es keine Illusionen mehr – die habe ich mir im Dritten Reich gründlich abgewöhnt – aber Hoffnungen gibt es. Es sind realistische Hoffnungen. Ich weiß: eines Tages wird man in Deutschland Leute von unserer Art wieder brauchen. Es wird viel für uns zu tun geben. Es wird sehr schön sein, aber auch sehr hart. Wir werden ernste und schwierige Pflichten haben. Ich freue mich schon darauf. Es kann übermorgen soweit sein – oder erst in Jahren. Vielleicht dauert das Exil noch lange. Das wäre bitter; aber man muß sich zu trösten wissen. Das Leben hat überall seine interessanten Seiten.

Vielleicht kann ich auf einer Farm in Argentinien arbeiten. Vielleicht fahre ich nach Neuseeland. Ich habe allerlei Pläne. Ich sitze hier in Marseille rum, und die Stadt gefällt mir, und ich habe kein Geld und kenne keine Seele, außer ein paar Burschen in den Hafenkneipen – und die sind immer besoffen.

Es wird schon irgendwie weitergehen; ich habe gar keine Angst. Manchmal muß ich denken: Wir Vagabunden, wir Heimatlosen, vaterlandsloses Pack haben irgendeinen Schutzengel, einen freundlichen Dämon. Der geleitet uns, und der führt uns zurück – eines Tages. Er hilft uns aber nur, wenn wir uns nicht auf ihn verlassen. Wir müssen ihn vergessen – dann ist er unsichtbar da …

Man geht nicht kaputt – wenn man noch eine Aufgabe hat. Laß von Dir hören! Dein alter Freund Dieter.

Er legte die Feder weg und steckte den dicken Brief in ein Couvert, ohne ihn vorher noch einmal durchzulesen. Dann saß er ein paar Minuten lang unbeweglich, das Gesicht in beide Hände gestützt, und schaute ins Weite.

Später schlenderte er die breite Straße hinunter, dem Hafen zu. Sein Gang war elastisch – immer noch der Gang eines Jünglings; er hatte sich die graue Sportmütze unternehmungslustig schief in die Stirn gezogen, und auch die kleine Melodie, die er pfiff, klang zuversichtlich.

Le Vieux Port – der wunderschöne Alte Hafen von Marseille – lag, pittoresk und schmutzig, im milden Licht des warmen Wintertages. Dieter bog nach links ein; er ging schneller, ließ die engen Gassen hinter sich. Die Stadt hörte auf, es öffnete sich überraschend die wilde Landschaft, ein Pfad führte steil in die Höhe.

Die Menschensiedlung schien weit entfernt; Pflanzen gediehen hier nicht; keine weiche Form, kein Atmen der Kreatur; nur Zacken, Felsen, Geröll. – War dies noch einmal der Paß, der Grat, das Hochgebirge? Die schmale Spur, am Rande des Abgrunds – noch einmal? Begann sie wieder, die riskante Tour, die erschöpfende Gletscherpartie? Taten die Schluchten sich wieder auf, gefüllt mit blauschwarzen Schatten …? Dieter erschrak. Würde er wieder schwanken? – ›Früher bin ich schwindelfrei gewesen …‹, dachte er. ›Was macht mir Angst? Hier ist kein Eis, keine Schlucht, auch Lawinen kommen hier nicht vor. Hinter den harmlosen Klippen strahlt ein südlicher Himmel, und der laue Wind bringt Salzgeruch mit. Ich höre schon die Melodie des Meeres – gleich werde ich den großen Ausblick haben. Nur noch ein wenig aufwärts! Nur diese hundert Meter noch nach oben! Den Pfad gibt es nicht mehr, aber gute Stufen im Stein … Da ist das Meer. Wie es leuchtet!‹

Dieter – am Ende des Vorgebirgs, auf der Spitze der Klippe – hat die Mütze abgenommen, wie in der Kirche. Diesen Wind will er nicht nur auf Lippen, Stirn und Augenlidern spüren, sondern auch im Haar; am liebsten möchte er sich das Hemd aufreißen und dem Sturm die nackte Brust hinhalten.

Er reckt sich, er dehnt die Glieder. Da er sich alleine weiß, hat er den Mut zu einer schönen, wilden Gebärde, die er vor Zuschauern kaum wagen würde. Zuschauer könnten finden, es sei theatralisch, wie er nun die Arme breitet und den Kopf langsam-selig in den Nacken sinken läßt.

Ihm aber ist es die natürlichste Geste. Er genießt sie, er atmet beglückt. Immer haben Jünglinge in solcher Haltung gestanden, auf einer Klippe, mit dem Blick zum Meer. Immer haben sie dies zugleich benommene und entschlossene Lächeln gehabt und die seltsam rudernden Bewegungen der gebreiteten Arme – als wollten sie sich vom Boden lösen; aufsteigen, auffliegen – Wohin?

Die Jünglinge fragen kaum nach dem Ziel, in solcher Stunde äußerster Bereitschaft und des kühnen Rausches. Wer spricht von den Mühen und Gefahren des langen Weges? – All dies ist Nebensache geworden; nur die Bewegung gilt, nur der Flug – seht, die Zukunft schimmert, wie das unendliche Meer.

›Zukunft – was auf mich zukommt …!‹ denkt der Nüchtern-Berauschte. ›Ich will es an mich reißen wie eine Geliebte. Die Umarmung wird auch Schmerzen bringen: ich ertrage sie gern. Selbst auf ein schnelles Ende wäre ich gefaßt, mit Katastrophen soll man immer rechnen, es kann alles schief gehen. Ein wenig Leichtsinn dürften wir immerhin gelernt haben, bei allem, was uns zugestoßen ist. – Ein Menschenleben – was ist es? – Wie wenig! Wie viel! Man muß es nur leben – sonst ist mit dem Ding nichts anzufangen.

Erreichen wir ein Ziel? Gibt es ein anderes Ufer? Setzen wir den schließlich müde gewordenen Fuß in das Land der Verheißung?

Und wenn wir zugrunde gehen – am Wege; unwissend, ohne Antwort und Trost – wäre dann alles sinnlos gewesen? Das redet niemand mir ein!

Da nichts in dieser Welt verschwendet wird; da alle Energien sinnvoll wirken, mit Plan und kluger Absicht trefflich organisiert – warum sollten gerade die Kräfte unseres lebendigen Herzens, unsere Schmerzen und Gedanken, sich ziellos verirren und ganz verloren sein?‹

Wie lange steht der Jüngling – Dieter, ein Deserteur – auf der Klippe, über dem Meer? – Das Wasser, das geleuchtet hat, erbleicht, und der Wind wird kälter. Ein Tag ist zu Ende, die Sonne will Abschied nehmen, sie sendet ihr Abschiedslicht. Es ist golden und rot, wie das Licht der Frühe – nicht nur letzter Gruß eines scheidenden Tages, sondern auch das Versprechen des kommenden.

Die Wolken am Horizont – eben noch rosig, purpurn und violett – werden fahl. Auf dem Felsen aber, wo der Jüngling steht, liegt Glanz – ein letztes Licht, oder ein erstes? Man unterscheidet es kaum. Auch der Knabe weiß es noch nicht – oder nicht mehr.

Diese brechenden Strahlen, die, zärtlich und streng zugleich, seine Stirn berühren – meint ihre Botschaft Anfang oder Ende? Sind sie das glühende Vergehen einer Herrlichkeit, die sich verbraucht hat und zur Ruhe will? Oder bringen sie den harten Segen der Morgenröte, Gnade und Befehl des neuen Tages?

MEPHISTO Roman einer Karriere

Der Schauspielerin

THERESE GIEHSE

gewidmet

Alle Fehler des Menschen

verzeih’ ich dem Schauspieler,

keine Fehler des Schauspielers

verzeih’ ich dem Menschen.

GOETHE, »WILHELM MEISTER«

Vorspiel – 1936

»In einem der westdeutschen Industriezentren sollen neulich über achthundert Arbeiter verurteilt worden sein, alle zu hohen Zuchthausstrafen, und das im Laufe eines einzigen Prozesses.«

»Nach meinen Informationen sind es nur fünfhundert gewesen; über hundert andere hat man erst gar nicht abgeurteilt, sondern heimlich umbringen lassen, ihrer Gesinnung wegen.«

»Sind die Löhne wirklich so entsetzlich schlecht?«

»Miserabel. Dabei fallen sie noch – und die Preise steigen.«

»Die Dekorierung des Opernhauses für heute abend soll sechzigtausend Mark gekostet haben. Dazu kommen mindestens noch vierzigtausend Mark andere Spesen – nicht mitgerechnet die Unkosten, die es der öffentlichen Kasse gemacht hat, das Opernhaus, wegen der Vorbereitungen für den Ball, fünf Tage lang geschlossen zu halten.«

»Eine nette kleine Geburtstagsfeier.«

»Ekelhaft, daß man den Rummel mitmachen muß.«

Die beiden jungen ausländischen Diplomaten verneigten sich, auf den Gesichtern das liebenswürdigste Lächeln, vor einem Offizier in großer Uniform, der hinter seinem Monokel einen mißtrauischen Blick auf sie geworfen hatte.

»Die ganze hohe Generalität ist da.« Sie sprachen erst wieder, als sie die große Uniform außer Hörweite wußten.

»Aber sie sind alle für den Frieden begeistert«, fügte der andere boshaft hinzu.

»Wie lange noch?« fragte fröhlich lächelnd der erste, wobei er eine kleine Dame von der japanischen Botschaft begrüßte, die am Arm eines hünenhaften Marineoffiziers klein und zierlich einherschritt.

»Wir müssen auf alles gefaßt sein.«

Ein Herr vom Auswärtigen Amt gesellte sich zu den beiden jungen Botschaftsattaches, die sofort dazu übergingen, Pracht und Schönheit der Saaldekoration zu preisen. »Ja, der Herr Ministerpräsident hat Freude an diesen Dingen«, sagte, etwas verlegen, der Herr vom Auswärtigen Amt.

»Aber es ist alles geschmackvoll«, versicherten die beiden jungen Diplomaten, beinah im gleichen Atem.

»Gewiß«, sprach gequält der Herr aus der Wilhelmstraße.

»Eine so prachtvolle Veranstaltung kann man heute nirgends als in Berlin finden«, sagte einer der beiden Ausländer noch. Der Herr vom Außenministerium zögerte eine Sekunde lang, ehe er sich zu einem höflichen Lächeln entschloß.

Es entstand eine Gesprächspause. Die drei Herren blickten um sich und lauschten dem festlichen Lärm. »Kolossal«, sagte schließlich einer von den beiden jungen Leuten leise – diesmal ohne jeden Sarkasmus, sondern wirklich beeindruckt, beinah verängstigt von dem riesenhaften Aufwand, der ihn umgab. Das Flimmern der von Lichtern und Wohlgerüchen gesättigten Luft war so stark, daß es ihm die Augen blendete. Ehrfurchtsvoll, aber mißtrauisch blinzelte er in den bewegten Glanz. ›Wo bin ich nur?‹ dachte der junge Herr – er kam aus einem der skandinavischen Länder. ›Der Ort, an dem ich mich befinde, ist ohne Frage sehr lieblich und verschwenderisch ausgestattet; dabei aber auch etwas grauenhaft. Diese schön geputzten Menschen sind von einer Munterkeit, die nicht gerade vertrauenerweckend wirkt. Sie bewegen sich wie die Marionetten – sonderbar zuckend und eckig. In ihren Augen lauert etwas, ihre Augen haben keinen guten Blick, es gibt in ihnen soviel Angst und soviel Grausamkeit. Bei mir zu Hause schauen die Leute auf eine andere Art – sie schauen freundlicher und freier bei mir zu Hause. Man lacht auch anders bei uns droben im Norden. Hier haben die Gelächter etwas Höhnisches und etwas Verzweifeltes; etwas Freches, Provokantes, und dabei etwas Hoffnungsloses, schauerlich Trauriges. So lacht doch niemand, der sich wohl fühlt in seiner Haut. So lachen doch Männer und Frauen nicht, die ein anständiges, vernünftiges Leben führen …‹

Der große Ball zum dreiundvierzigsten Geburtstag des Ministerpräsidenten fand in allen Räumen des Opernhauses statt. In den ausgedehnten Foyers, in den Couloirs und Vestibülen bewegte sich die geputzte Menge. Sie ließ Sektpfropfen knallen in den Logen, deren Brüstungen mit kostbaren Draperien behängt waren; sie tanzte im Parkett, aus dem man die Stuhlreihen entfernt hatte. Das Orchester, das auf der leergeräumten Bühne seinen Platz hatte, war umfangreich, als sollte es eine Symphonie aufführen, mindestens von Richard Strauss. Es spielte aber nur, in keckem Durcheinander, Militärmärsche und jene Jazzmusik, die zwar wegen niggerhafter Unsittlichkeit verpönt war im Reiche, die aber der hohe Würdenträger auf seinem Jubelfeste nicht entbehren wollte.

Hier hatte alles sich eingefunden, was in diesem Lande etwas gelten wollte, niemand fehlte – außer dem Diktator selbst, der sich wegen Halsschmerzen und angegriffener Nerven hatte entschuldigen lassen, und außer einigen etwas plebejischen Parteiprominenten, die nicht eingeladen worden waren. Hingegen bemerkte man mehrere kaiserliche und königliche Prinzen, viele Fürstlichkeiten und fast den ganzen Hochadel; die gesamte Generalität der Wehrmacht, sehr viel einflußreiche Financiers und Schwerindustrielle; verschiedene Mitglieder des diplomatischen Korps – meistens von den Vertretungen kleinerer oder weit entfernter Länder – einige Minister, einige berühmte Schauspieler – die huldvolle Schwäche des Jubilars für das Theater war bekannt – und sogar einen Dichter, der sehr dekorativ aussah und übrigens die persönliche Freundschaft des Diktators genoß.

 

Über zweitausend Einladungen waren verschickt worden; von diesen waren etwa tausend Ehrenkarten, die zum unentgeltlichen Genuß des Festes berechtigten; von den Empfängern der übrigen tausend hatte jeder fünfzig Mark Eintritt zahlen müssen: So kam ein Teil der ungeheuren Spesen wieder herein – der Rest blieb zu Lasten jener Steuerzahler, die nicht zum näheren Umgang des Ministerpräsidenten und also keineswegs zur Elite der neuen deutschen Gesellschaft gehörten.

»Ist es nicht ein wunderschönes Fest!« rief die umfangreiche Gattin eines rheinischen Waffenfabrikanten der Frau eines südamerikanischen Diplomaten zu. »Ach, ich amüsiere mich gar zu gut! Ich bin so glänzender Laune, und ich wünschte mir, daß alle Menschen in Deutschland, und überall, glänzender Laune würden!«

Die südamerikanische Diplomatenfrau, die nicht gut Deutsch verstand und sich langweilte, lächelte säuerlich.

Die muntere Gattin des Fabrikanten war von solchem Mangel an Enthusiasmus enttäuscht und entschloß sich dazu, weiter zu promenieren. »Entschuldigen Sie mich, meine Liebe!« sagte sie fein und raffte die glitzernde Schleppe. »Ich muß eben mal eine alte Freundin aus Köln begrüßen – die Mutter unseres Staatstheaterintendanten, Sie wissen doch, des großen Hendrik Höfgen.«

Hier tat die Südamerikanerin zum ersten Mal den Mund auf, um zu fragen: »Who is Henrik Hopfgen?« – was die Fabrikantengattin veranlaßte, leise aufzuschreien: »Wie? Sie kennen unseren Höfgen nicht? – Höfgen, meine Beste – nicht Hopfgen! Und Hendrik, nicht Henrik – er legt größten Wert auf das kleine ›d‹!«

Dabei war sie schon auf die distinguierte Matrone zugeeilt, die am Arme des Dichters und Führerfreundes würdevoll durch die Säle schritt. »Liebste Frau Bella! Es ist eine Ewigkeit her, daß man sich nicht gesehen hat! Wie geht es Ihnen denn, Liebste? Haben Sie manchmal Heimweh nach unserem Köln? Aber Sie befinden sich hier ja in einer so glänzenden Position! Und wie geht es Fräulein Josy, dem lieben Kind? Vor allem: Was macht Hendrik – Ihr großer Sohn! Himmel, was ist aus ihm alles geworden! Er ist ja fast so bedeutend wie ein Minister! Ja, ja, liebste Frau Bella, wir in Köln haben alle Sehnsucht nach Ihnen und Ihren herrlichen Kindern!«

In Wahrheit hatte sich die Millionärin niemals um Frau Bella Höfgen gekümmert, als diese noch in Köln gelebt und ihr Sohn die große Karriere noch nicht gemacht hatte. Die Bekanntschaft zwischen den beiden Damen war nur eine flüchtige gewesen; niemals war Frau Bella eingeladen worden in die Villa des Fabrikanten. Nun aber wollte die lustige und gemütvolle Reiche die Hand der Frau, deren Sohn man zu den nahen Freunden des Ministerpräsidenten zählte, gar nicht mehr loslassen.

Frau Bella lächelte huldvoll. Sie war sehr einfach, aber nicht ohne eine gewisse ehrbare Koketterie gekleidet; auf ihrer schwarzen, glatt fließenden Seidenrobe leuchtete eine weiße Orchidee. Das graue, schlicht frisierte Haar bildete einen pikanten Kontrast zu ihrem ziemlich junggebliebenen, mit dezenter Sorgfalt hergerichteten Gesicht. Aus weiten, grünblauen Augen schaute sie mit einer reservierten, nachdenklichen Freundlichkeit auf die geschwätzige Dame, die den lebhaften deutschen Kriegsvorbereitungen ihr wundervolles Collier, ihre langen Ohrgehänge, die Pariser Toilette und all ihren Glanz verdankte.

»Ich kann nicht klagen, es geht uns allen recht gut«, sprach mit stolzer Bescheidenheit Frau Höfgen. »Josy hat sich mit dem jungen Grafen Donnersberg verlobt. Hendrik ist ein wenig überanstrengt, er hat rasend zu tun.«

»Das kann ich mir denken.« Die Industrielle schaute respektvoll.

»Darf ich Ihnen unseren Freund Cäsar von Muck vorstellen«, sagte Frau Bella.

Der Dichter neigte sich über die geschmückte Hand der reichen Dame, die sofort wieder zu schwätzen begann. »Ungeheuer interessant, ich freue mich wirklich, habe Sie sofort nach den Photographien erkannt. Ihr ›Tannenberg‹-Drama habe ich in Köln bewundert, eine recht gute Aufführung, natürlich fehlen die überragenden Leistungen, wie man sie in Berlin jetzt gewöhnt ist, aber wirklich recht anständig, ohne Frage sehr achtbar. Und Sie, Herr Staatsrat – Sie haben doch inzwischen eine so großartige Reise gemacht, alle Welt spricht von Ihrem Reisebuch, ich will es mir dieser Tage besorgen.«

»Ich habe viel Schönes und viel Häßliches gesehen in der Fremde«, sagte der Dichter schlicht. »Jedoch reiste ich durch die Lande nicht nur als Schauender, nicht nur als Genießender, sondern mehr noch als Wirkender, Lehrender. Mich deucht, es ist mir gelungen, dort draußen neue Freunde für unser neues Deutschland zu werben.« Mit seinen stahlblauen Augen, deren durchdringende und feurige Reinheit in vielen Feuilletons gepriesen wurde, taxierte er den kolossalen Schmuck der Rheinländerin. ›Ich könnte in ihrer Villa wohnen, wenn ich das nächste Mal in Köln einen Vortrag oder eine Premiere habe‹, dachte er, während er weitersprach: »Es ist für unseren geraden Sinn unfaßbar, wieviel Lüge, wieviel boshaftes Mißverständnis über unser Reich im Umlauf sind – draußen in der Welt.«

Sein Gesicht war so beschaffen, daß jeder Reporter es »holzgeschnitten« nennen mußte: zerfurchte Stirn, Stahlauge unter blonder Braue und ein verkniffener Mund, der leicht sächsischen Dialekt sprach. Die Waffenfabrikantin war sehr beeindruckt, von seinem Aussehen wie von seiner edlen Rede. »Ach«, schaute sie ihn schwärmerisch an. »Wenn Sie einmal nach Köln kommen, müssen Sie uns unbedingt besuchen!«

Staatsrat Cäsar von Muck, Präsident der Dichterakademie und Verfasser des überall gespielten »Tannenberg«-Dramas, verneigte sich mit ritterlichem Anstand: »Es wird mir eine echte Freude sein, gnädige Frau.« Dabei legte er sogar die Hand aufs Herz.

Die Industrielle fand ihn wundervoll. »Wie köstlich es sein wird, Ihnen einen ganzen Abend zuzuhören, Exzellenz!« rief sie aus. »Was Sie alles erlebt haben müssen! Sind Sie nicht auch schon Staatstheaterintendant gewesen?«

Diese Frage wurde als taktlos empfunden, und zwar sowohl von der distinguierten Frau Bella als auch vom Autor der »Tannenberg«-Tragödie. Dieser sagte denn auch nur, mit einer gewissen Schärfe: »Gewiß.«

Die reiche Kölnerin merkte nichts. Vielmehr sprach sie noch, mit durchaus deplacierter Schelmerei: »Sind Sie denn da nicht ein klein bißchen eifersüchtig, Herr Staatsrat, auf unseren Hendrik, Ihren Nachfolger?« Nun drohte sie auch noch mit dem Finger. Frau Bella wußte nicht, wohin sie blicken sollte.

Cäsar von Muck aber bewies, daß er weltmännisch und überlegen war, und zwar in einem Grade, der an Edelmut grenzt. Über sein Holzschnittgesicht ging ein Lächeln, das nur in seinen ersten Anfängen etwas bitter schien, dann aber milde, gut und sogar weise wurde. »Ich habe diese schwere Last gerne – ja, von Herzen gerne an meinen Freund Höfgen abgegeben, der wie kein anderer berufen ist, sie zu tragen.« Seine Stimme bebte; er war stark ergriffen von der eigenen Großmut und von der Schönheit seiner Gesinnung.

Frau Bella, die Mutter des Intendanten, zeigte eine beeindruckte Miene; die Lebensgefährtin des Kanonenkönigs aber war derartig gerührt von der edlen und majestätischen Haltung des berühmten Dramatikers, daß sie beinahe weinen mußte. Mit tapferer Selbstüberwindung schluckte sie die Tränen hinunter; tupfte sich die Augen flüchtig mit dem Seidentüchlein und schüttelte die weihevolle Stimmung mit einem sichtbaren Ruck von sich ab. In ihr siegte die typisch rheinische Munterkeit; sie schaute wieder strahlend und jubilierte: »Ist es nicht ein ganz herrliches Fest?!«

Es war ein ganz herrliches Fest, darüber konnte gar kein Zweifel bestehen. Wie das glitzerte, duftete, rauschte! Gar nicht festzustellen, was mehr Glanz verbreitete: die Juwelen oder die Ordenssterne. Das verschwenderische Licht der Kronleuchter spielte und tanzte auf den entblößten, weißen Rücken und den schön bemalten Mienen der Damen; auf den Specknacken, gestärkten Hemdbrüsten oder betreßten Uniformen feister Herren; auf den schwitzenden Gesichtern der Lakaien, die mit den Erfrischungen umherliefen. Es dufteten die Blumen, die in schönem Arrangement verteilt waren, durch das ganze Lusthaus; es dufteten die Pariser Parfüms all der deutschen Frauen; es dufteten die Zigarren der Industriellen und die Pomaden der schlanken Jünglinge in ihren kleidsam knappen SS-Uniformen; es dufteten die Prinzen und die Prinzessinnen, die Chefs der Geheimen Staatspolizei, die Feuilletonchefs, die Filmdivas, die Universitätsprofessoren, die einen Lehrstuhl für Rassen- oder Wehrwissenschaft innehatten, und die wenigen jüdischen Bankiers, deren Reichtum und internationale Beziehungen so gewaltig waren, daß man sie sogar an dieser exklusiven Veranstaltung teilhaben ließ. Man verbreitete Wolken künstlichen Wohlgeruchs, als gälte es, ein anderes Aroma nicht aufkommen zu lassen – den faden, süßlichen Gestank des Blutes, den man zwar liebte und von dem das ganze Land erfüllt war, dessen man sich aber bei so feinem Anlaß und in Gegenwart der fremden Diplomaten ein wenig schämte.