Klaus Mann - Das literarische Werk

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Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
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So gefährliche Dinge pflegte er sonst in der Kantine nicht auszusprechen, besonders nicht, wenn Kroge in der Nähe war. Heute aber ließ er sich gehen – freilich nicht bis zu dem Grade, daß er gar zu laut gesprochen hätte. Es blieb bei einem heftigen Flüstern. Die Efeu und Herr Knurr nickten ihm anerkennend zu, während Böck wäßrig schaute. »Der Tag wird kommen«, sagte Miklas noch, leise, aber sehr leidenschaftlich, und seine hellen Augen hatten einen fiebrigen Glanz zwischen ihren schwärzlichen Rändern. Dann mußte er furchtbar husten; Frau Efeu klopfte ihm Rücken und Schultern. »Es klingt wieder scheußlich dumpf«, sagte sie angstvoll. »Als ob es von ganz tief aus der Brust käme.«

Das enge Lokal war voll Rauch. »Die Luft ist ja dick zum Schneiden«, klagte die Motz. »Das hält doch der stärkste Mann nicht aus. Und meine Stimme! Kinder, morgen könnt ihr mich wieder beim Halsarzt sitzen sehen.« Niemand hatte Lust, sie sitzen zu sehen. Rahel Mohrenwitz machte sogar ironisch: »Huch, unsere Koloratursängerin!« – wofür sie einen fürchterlichen Blick von der Motz bekam, die sowieso etwas gegen Rahel hatte: Petersen wußte warum. Erst gestern wieder hatte man ihn in der Garderobe des dämonischen Mädchens gefunden, und die Motz hatte weinen müssen. Heute aber schien sie entschlossen, sich keinesfalls die Stimmung verderben zu lassen von einer dummen Gans, die sich vielleicht auf ihr Monokel und ihre lächerliche Frisur noch was einbildete. Vielmehr faltete sie die Hände vor dem Bauch und markierte gemütliche Stimmung. »Aber nett ist es hier«, sagte sie herzlich. »Was, Vater Hansemann?« Sie blinzelte dem Wirt zu, dem sie noch siebenundzwanzig Mark schuldete und der deshalb nicht zurückblinzelte. Gleich danach entsetzte sie sich, weil Petersen sich ein Beefsteak servieren ließ, noch dazu mit Spiegelei. »Als ob ein Paar Würstchen nicht genügt hätten!« Ihr standen Tränen des Zorns in den Augen. Zwischen Motz und Petersen gab es viel Streit und Hader, weil der Väterspieler, nach dem Dafürhalten seiner Freundin, zur Verschwendungssucht neigte. Immer bestellte er sich teure Sachen, und die Trinkgelder, die er spendierte, waren auch zu hoch. »Natürlich: Braten mit Ei muß es sein!« jammerte die Motz. Petersen murmelte, daß ein Mann sich doch anständig ernähren müsse. Die Motz aber, ganz außer Fassung, fragte plötzlich mit zornigem Sarkasmus die Mohrenwitz, ob Petersen ihr vielleicht eine Flasche Sekt angeboten habe. »Veuve Cliquot, extrafein!« schrie die Motz und sprach, bei aller Gehässigkeit, den Namen der Sektmarke mit jener Feinheit aus, welche sie als Salondame legitimierte. Hierüber war die Mohrenwitz nun ernsthaft beleidigt. »Ich muß doch sehr bitten!« rief sie schrill. »Soll das ein Witz sein?« Das Monokel fiel ihr aus dem Auge, ihr pausbäckiges, vor Ärger rot gewordenes Gesicht sah plötzlich gar nicht mehr dämonisch aus. Kroge blickte schon verwundert auf; Frau von Herzfeld lächelte ironisch. Der schöne Bonetti aber klopfte der Motz auf die Schulter; gleichzeitig auch der Mohrenwitz, die kampfeslustig näher getreten war. »Zankt euch nicht, Kinder!« riet er ihnen, um den Mund besonders müde und angewiderte Falten. »Dabei kommt doch nichts raus. Spielen wir lieber Karten.«

In diesem Augenblick wurden gedämpfte Rufe laut, und alles drehte sich der Tür zu, die sich geöffnet hatte. Dora Martin stand auf der Schwelle. Hinter ihr drängte sich, wie auf der Bühne das Gefolge hinter der Königin, das Ensemble, mit dem sie reiste.

Dora Martin lachte und winkte allen Mitgliedern des Hamburger Künstlertheaters zu; dabei rief sie mit ihrer heiseren Stimme, auf jene berühmte Art, die von tausend jungen Schauspielerinnen im ganzen Lande kopiert wurde, in jedem Satz einige Worte zerdehnend: »Kinder, wir sind eingeladen, ein ganz langweiliges Bankett, furchtbar schade, aber wir müssen hingehen!« Sie schien ihre eigene Sprechweise parodieren zu wollen, so eigenwillig verfuhr sie mit der Länge der Silben. Aber allen klang es lieblich in den Ohren, auch denen, welche die Martin nicht leiden konnten, zum Beispiel dem jungen Miklas. Es war nicht zu leugnen: Ihr Auftritt hatte großen Effekt gemacht. Ihre weit geöffneten, kindlichen und rätselhaft tiefen Augen unter der hohen und klugen Stirn verwirrten und bezauberten jeden; sogar Vater Hansemann zeigte ein blödes, betörtes Lächeln. Frau von Herzfeld, die früher mit der Martin befreundet gewesen war, rief ihr zu: »Das ist aber ein Jammer, Dorchen. Kannst du dich gar nicht ein bißchen zu uns setzen?« Die allgemeine Achtung vor Hedda stieg, weil sie sich mit der Martin duzte. Diese aber bewegte verneinend ihr lächelndes Gesicht, das fast verschwand zwischen dem hochgeschlagenen Kragen des braunen Pelzmantels; denn sie trug die Schultern sehr hochgezogen. »Zu schade!« girrte sie, und wie sie den Kopf schüttelte, flog die rötliche Mähne ihres lockeren Haars, über dem sie keinen Hut trug. »Aber wir sind sowieso viel zu spät!«

Da geschah es, daß jemand hinter ihr sich durchs Gefolge drängte. Es war Hendrik Höfgen, der unvermittelt hervorkam. Er hatte den Smoking an, den er in mondänen Rollen auf der Bühne trug und der, aus der Nähe betrachtet, schon recht abgetragen und fleckig wirkte. Über den Schultern lag ihm ein weißes Seidentuch. Sein Atem flog; Wangen und Stirn waren hektisch gerötet. Einen recht beunruhigenden Eindruck machte das nervöse Lachen, das ihn schüttelte, während er sich in gehetzter Eile, umflattert vom Seidentuch, tief über die Hand der Diva bückte, und das nicht ohne eine gewisse irrsinnige Herzlichkeit schien. »Entschuldigen Sie«, brachte er hervor, das Gesicht, in dem das Monokel überraschend fest hielt, immer noch über ihre Hand gebückt und immer noch heftig lachend. »Es ist ja phantastisch: ich bin viel zu spät – was müssen Sie von mir denken – eine phantastische Sache …« Das Lachen beutelte ihn, sein Gesicht wurde immer röter. »Aber ich wollte Sie doch nicht gehen lassen«, dabei richtete er sich endlich auf, »ohne Ihnen gesagt zu haben, wie sehr ich diesen Abend genossen habe – wie wunderschön es gewesen ist!« Plötzlich schien die ungeheuer komische Angelegenheit, über die er fast zersprungen war vor Lachen, nicht mehr zu existieren; er zeigte nun ein ganz ernstes Gesicht.

Dafür war es jetzt an Dora Martin, ein wenig zu lachen, und das tat sie denn auch, besonders heiser und zauberhaft.

»Schwindler!« rief sie, und von dem eigensinnig gedehnten »i« kam sie gar nicht mehr weg. »Sie sind gar nicht im Theater gewesen! Sie haben sich ja versteckt!« Dabei schlug sie ihn leicht mit dem gelben, schweinsledernen Handschuh. »Aber das macht nichts«, strahlte sie ihn an. »Sie sollen ja so begabt sein.«

Über diese Feststellung, die überraschend kam, erschrak Höfgen zunächst so stark, daß die helle Röte von seinem Gesicht wich, welches fahl wurde. Dann aber sagte er, mit einer Stimme, die schmelzend klang: »Ich? Begabt? Das ist doch ein ganz unbewiesenes Gerücht …« Die Vokale konnte auch er zerdehnen, nicht nur Dora Martin brachte es fertig. Seine Sprachkoketterie hatte eigenen Stil, er war keineswegs darauf angewiesen, irgend jemanden zu kopieren. Dora Martin girrte; er aber sang vor Manieriertheit. Dabei zeigte er jenes Lächeln, das er auf den Proben den Damen vorzumachen pflegte, wenn sie verfängliche Szenen zu spielen hatten: Es entblößte die Zähne und war ziemlich gemein. Er bezeichnete es als das »aasige« Lächeln. (»Aasiger – verstehst du, meine Liebe? – Aasiger!« mahnte er auf den Proben Rahel Mohrenwitz oder Angelika Siebert, und er machte es vor.)

Ihre Zähne zeigte auch Dora Martin; aber während der Mund »baby-talk« sprach und der Kopf kokett zwischen den hochgezogenen Schultern steckte, forschten ihre großen, klugen, unbetrügbaren und traurigen Augen in Höfgens Gesicht. »Sie werden es schon noch beweisen, Ihr Talent!« sagte sie leise, und eine Sekunde lang war nicht nur ihr Blick ernst, sondern auch ihr Gesicht. Ernsten Gesichtes, beinah drohend, nickte sie ihm zu. Höfgen, der sich noch vor einer Viertelstunde hinterm Paravent versteckt hatte, hielt ihren Blick aus. Dann lachte die Martin wieder, girrte: »Wir sind viel zu spät!« winkte und entschwand mit Gefolge.

Höfgen war in die Kantine getreten. Die Begegnung mit Dora Martin hatte ihn auf wunderbare Art aufgeheitert; er schien jetzt in einer geradezu festlichen Laune zu sein. Von seinem Antlitz kam ein gnädiger Glanz. Alle schauten auf ihn, nun beinah ebenso bezwungen, wie sie vorhin auf die Berliner Diva geschaut hatten. – Ehe Höfgen Direktor Kroge und Frau von Herzfeld begrüßte, war er zu Garderobier Böck getreten. »Hör mal, mein Böckchen«, sang er und stand verführerisch da: Hände in die Hosentaschen vergraben, Schultern hochgezogen, und auf den Lippen das aasige Lächeln. »Du mußt mir mindestens sieben Mark fünfzig leihen. Ich will anständig zu Abend essen, und ich habe so ein Gefühl: Väterchen Hansemann verlangt heute Barbezahlung.« Aus den schillernden Edelsteinaugen warf er einen mißtrauisch schiefen Blick auf Hansemann, der mit blauroter Nase unbewegt hinter der Theke saß.

Böck war aufgesprungen; aus Schreck über Höfgens einerseits ehrenvolles, andererseits grausiges Ansinnen waren seine Augen noch wäßriger, seine Wangen dunkelrot geworden. Während er stumm erregt in den Taschen wühlte und Hans Miklas mit gehässig gespanntem Blick den ganzen Vorfall beobachtete, war die kleine Angelika eilig hinzugetreten. »Aber Hendrik!« sagte sie schnell und schüchtern. »Wenn du Geld brauchst – ich kann dir doch fünfzig Mark bis zum Ersten leihen!« Sofort bekam Höfgen fischig kalte Augen. Er sagte hochmütig über die Schulter: »Mische dich nicht in unsere Männergeschäfte, meine Kleine. Böck gibt gerne.« Der Garderobier nickte aufgeregt, während sich die Siebert mit nassen Augen zurückzog. Höfgen ließ, ohne sich zu bedanken, Böcks Silbermünzen nachlässig in seine Tasche gleiten. Miklas, Knurr und die Efeu schauten finster, Böck fassungslos und Angelika weinend hinter ihm drein, während er wiegenden Ganges, immer noch das weiße Seidentuch über den Schultern, das Lokal durchschritt. »Väterchen Schmitz läßt mich nämlich verhungern«, erklärte er, das sieghaft lächelnde Gesicht dem Direktorentisch zugewandt.

 

Dort wurde er mit einigem Hallo empfangen; sogar Kroge zwang sich zu einer etwas lärmenden und nicht ganz echten Herzlichkeit. »Na, alter Sünder, wie geht’s? Haben Sie den Abend gut überstanden?« Er bekam scharfe Falten um den Katermund, fast wie die Motz, und falsche Augen hinter den Brillengläsern; plötzlich war ihm anzumerken, daß er nicht nur kulturpolitische Essays und hymnische Lyrik schrieb, sondern seit über dreißig Jahren mit dem Theater zu tun hatte. – Höfgen und Otto Ulrichs schüttelten sich vertraut, stumm und ausführlich die Hände. Direktor Schmitz sagte etwas belanglos Scherzhaftes, mit seiner überraschend weichen, angenehmen Stimme; Frau von Herzfeld aber lächelte grundlos ironisch, wobei ihre goldbraunen Augen, feucht vor Innigkeit und fast flehend, auf Hendrik gerichtet waren. Er ließ sich von ihr bei der Auswahl seines Abendessens beraten, was ihr Anlaß gab, an ihn heranzurücken und ihren schweratmenden Busen in seine Nähe zu bringen. Sein aasiges Lächeln schien sie nicht abzuschrecken: Sie war es gewohnt, und es gefiel ihr.

Als Väterchen Hansemann die Bestellung entgegengenommen hatte, fing Höfgen an, von seiner »Frühlings-Erwachen«-Inszenierung zu sprechen. »Es wird anständig werden, glaube ich«, sagte er ernst; dabei glitten seine prüfenden Augen durch das Lokal, über die Schauspieler hin, wie die Augen eines Feldherrn über Truppen. »An der Wendla kann die Siebert nichts verderben; Bonetti ist kein idealer Melchior Gabor, aber er schafft es; unsere dämonische Mohrenwitz legt eine erstklassige Ilse hin.« – Es geschah nicht sehr häufig, daß er ohne Mätzchen redete, sondern ernsthaft und um der Sache willen wie eben jetzt. Kroge lauschte ihm achtungsvoll, nicht ohne Überraschung. Es war die Herzfeld, welche die Stimmung wieder verdarb, indem sie sarkastisch-schmeichlerisch, ihr großes, flaumig-gepudertes Gesicht ziemlich nahe bei Höfgen, bemerkte: »Nun, und was den Moritz Stiefel betrifft – da wurde ja gerade von berufenster Seite, von Dora selber, festgestellt, daß der junge Schauspieler, dem wir diese Rolle anvertraut haben, nicht ganz unbegabt ist …« Kroge runzelte mißbilligend die Stirn; Höfgen seinerseits schien die Neckerei zu überhören. »Und wie werden Sie eigentlich als Frau Gabor, meine Teure?« fragte er die Herzfeld ins Gesicht. Dies war offener und derber Hohn. Daß Frau Hedda eine unbegabte Schauspielerin war, gehörte zu den bekannten Tatsachen; auch wußte jeder, daß sie darunter litt. Man spottete gern darüber, daß die kluge Dame es nicht lassen konnte, aufzutreten, und sei es auch nur in bescheidenen Mütterrollen. Auf Hendriks Ungezogenheit hin versuchte sie, gleichgültig die Achseln zu zucken; dabei aber zog eine ins Violette spielende Röte über die große Fläche ihres unjungen Gesichtes. Kroge sah es, und sein Herz zog sich zusammen in einem Mitleid, das nicht weit von Zärtlichkeit war. Kroge hatte vor vielen Jahren ein Verhältnis mit Frau von Herzfeld gehabt.

Um das Thema zu wechseln, oder um auf das einzige Thema zu kommen, das ihn wirklich beschäftigte, begann Ulrichs ohne Übergang vom Revolutionären Theater zu sprechen.

Das Revolutionäre Theater war geplant als eine Serie von Sonntag-Vormittag-Veranstaltungen, die unter der Leitung Hendrik Höfgens und dem Protektorat einer kommunistischen Organisation stehen sollten. Ulrichs, für den die Bühne zunächst und vor allem ein politisches Instrument bedeutete, hing mit zäher Leidenschaft an diesem Projekt. Das Stück, das man für die Eröffnungsvorstellung ausgesucht habe, eigne sich glänzend, sagte er nun, er habe es noch einmal genau durchgearbeitet. »Man interessiert sich in der Partei sehr ernsthaft für unsere Sache«, erklärte er und schaute mit einem bedeutungsvollen Verschwörerblick auf Höfgen, an Kroge, Schmitz und der Herzfeld vorbei, aber doch stolz darauf, daß sie es hörten und daß es sie beeindrucken würde. – »Nun, die Partei wird mir keinen Schadenersatz zahlen, wenn die guten Hamburger mir dann mein Haus boykottieren«, brummte Kroge, den der Gedanke an das Revolutionäre Theater immer skeptisch und verdrießlich stimmte. »Ja«, sagte er noch, »1918 – da konnte man sich solche Experimente leisten. Aber heute …« Höfgen und Ulrichs tauschten einen Blick, der ein hochmütiges und geheimes Einverständnis enthielt und viel Geringschätzung für die kleinbürgerlichen Bedenken ihres Direktors. Der Blick dauerte ziemlich lange, Frau von Herzfeld bemerkte ihn und litt. Schließlich wendete sich Höfgen, etwas väterlich herablassend, an Kroge und Schmitz. »Das Revolutionäre Theater wird uns nicht schaden – sicher nicht – glauben Sie es nur, Väterchen Schmitz! Was wirklich gut ist, kompromittiert einen niemals. Das Revolutionäre Theater wird gut, es wird glänzend! Eine Leistung, hinter der ein echter Glaube, ein wirklicher Enthusiasmus steht, überzeugt alle – auch die Feinde werden verstummen vor dieser Manifestation unserer glühenden Gesinnung.« Seine Augen schillerten, schielten ein wenig und schienen verzückt in Fernen zu schauen, wo die großen Entscheidungen fallen. Das Kinn hielt er stolz gereckt; auf dem fahlen, nach hinten geneigten, empfindlichen Antlitz lag ein siegesgewisser Glanz. ›Das ist wirkliche Ergriffenheit‹, dachte Hedda von Herzfeld. ›Das kann er nicht spielen – so begabt er auch ist.‹ Triumphierend sah sie Kroge an, der eine gewisse Bewegtheit nicht verbergen konnte. Ulrichs machte eine feierliche Miene.

Während alle noch gebannt saßen von den Effekten seines rührenden Enthusiasmus, änderte Höfgen plötzlich Haltung und Ausdruck. Er begann überraschend zu lachen und deutete auf die Photographie eines »Heldenvaters«, die über dem Tisch an der Wand hing: die Arme drohend verschränkt, biederer Blick unter finsterer Braue, breiter Vollbart, sorgfältig ausgebreitet auf einem phantastischen Jägerwams. Hendrik konnte sich gar nicht darüber beruhigen, wie drollig er den alten Burschen fand. Unter vielem Gelächter, nachdem Hedda ihm den Rücken geklopft hatte, weil er am Salat zu ersticken drohte, brachte er hervor, daß er selber ganz ähnlich, ja, fast genauso ausgesehen habe – als er nämlich noch die Väterrollen gespielt hatte, an der Norddeutschen Wanderbühne.

»Als ich noch ein Knabe war«, jubelte Hendrik, »da sah ich doch so phantastisch alt aus. Und auf der Bühne ging ich immer gebückt vor lauter Verlegenheit. In den ›Räubern‹ ließ man mich den alten Moor spielen. Ich war ein hervorragend guter alter Moor. Jeder von meinen Söhnen war zwanzig Jahre älter als ich.«

Da er so laut lachte und von der Norddeutschen Wanderbühne sprach, eilten von allen Tischen die Kollegen herbei: Man wußte, daß nun Anekdoten kommen würden, und zwar keine abgestandenen alten, sondern neue, und wahrscheinlich ziemlich gute – es geschah selten, daß Hendrik sich wiederholte. Die Motz rieb sich genußsüchtig die Hände, zeigte Gold im Innern ihres Mundes und konstatierte mit einer grimmigen Aufgeräumtheit: »Jetzt wird es lustig!« Gleich darauf mußte sie einen strengen Blick auf Petersen werfen, weil dieser sich einen doppelten Cognac bestellt hatte. Rahel Mohrenwitz, Angelika Siebert und der schöne Bonetti: alle hingen sie an Hendriks beredten Lippen. Sogar Miklas mußte hinhören, ob er es nun wollte oder nicht: die raffinierten Scherze des Verhaßten nötigten ihm brummige und trotzige kleine Gelächter ab. Da ihr böser Liebling sich amüsierte, wurde auch die dicke Efeu munter. Keuchend trug sie ihren Stuhl in die Nähe von Hendriks Sessel, murmelte: »Die Herrschaften haben doch nichts dagegen!« ließ ihren Strickstrumpf ruhen und legte sich die rechte Hand trichterförmig ans Ohr, auf daß ihrer Schwerhörigkeit nichts entgehe.

Es wurde ein reizender Abend. Höfgen war blendend in Form. Er bezauberte, er brillierte. Als hätte er ein großes Publikum vor sich, anstatt nur die paar geringen Kollegen, verschwendete er, großmütig-übermütig, Witz, Charme und Anekdotenschatz. Was war nicht alles an dieser Wanderbühne passiert, wo er die Väterrollen hatte spielen müssen! Die Motz bekam schon Atemnöte vor Lachen. »Kinder, ich kann nicht mehr!« schrie sie, und da Bonetti ihr drollig-galant mit dem Tüchlein fächelte, übersah sie, daß Petersen sich schon wieder Schnaps bestellte. Als Höfgen aber dazu überging, mit schriller Stimme, flatternden Gesten und unheimlich schielenden Augen die jugendliche Sentimentale der Wanderbühne nachzuahmen, da verzog sogar Vater Hansemann die starre Miene, und Herr Knurr mußte sein Grinsen hinter dem Taschentuch verbergen. Mehr Triumph war nicht herauszuholen aus der Situation. Höfgen brach ab. Auch die Motz wurde ernst, da sie feststellte, wie besoffen Petersen war. Kroge gab das Zeichen zum Aufbruch. Es war zwei Uhr morgens.

Zum Abschied schenkte die Mohrenwitz, die immer originelle Einfälle hatte, Hendrik ihre lange Zigarettenspitze, ein dekoratives, übrigens wertloses Stück. »Weil du heute abend so enorm amüsant gewesen bist, Hendrik.« Ihr Monokel blitzte sein Monokel an. Man sah, daß Angelika Siebert, die neben Bonetti stand, vor Eifersucht eine weiße Nase bekam, und dazu Augen, die tränenvoll und gleichzeitig ein wenig tückisch waren.

Frau von Herzfeld hatte Hendrik aufgefordert, noch eine Tasse Kaffee mit ihr zu trinken. Im leeren Lokal machte Vater Hansemann schon die Lampen aus. Für Hedda war das Halbdunkel vorteilhaft: Ihr großes, weiches Gesicht mit den sanften, klug beseelten Augen erschien nun jünger, oder doch alterslos. Dieses war nicht mehr das betrübte Antlitz der alternden, intellektuellen Frau. Die Wangen wirkten nicht mehr flaumig, sondern glatt. Das Lächeln um die orientalisch trägen, halbgeöffneten Lippen war nicht mehr ironisch, sondern fast verführerisch. Still und zärtlich schaute Frau von Herzfeld auf Hendrik Höfgen. Sie dachte nicht daran, daß sie selber reizvoller aussah als sonst; nur daß Hendriks Gesicht mit dem angestrengten Leidenszug an den Schläfen und dem edlen Kinn blaß und deutlich in der Dämmerung stand, merkte sie und genoß sie.

Hendrik hatte seine Ellenbogen auf den Tisch gestützt und die Fingerspitzen seiner ausgestreckten Hände gegeneinander gelegt. Diese anspruchsvolle Haltung leistete er sich wie einer, der besonders schöne, gotisch spitze Hände hat. Höfgens Hände waren aber keineswegs gotisch; vielmehr schienen sie den Leidenszug der Schläfen durch ihre unschöne Derbheit widerlegen zu wollen. Die Handrücken waren sehr breit und rötlich behaart; breit waren auch die ziemlich langen Finger, die in eckigen, nicht ganz sauberen Nägeln endeten. Gerade diese Nägel waren es wohl, die den Händen ihren unedlen, beinah unappetitlichen Charakter gaben. Sie schienen aus minderwertiger Substanz zu sein: bröckelig, spröde, ohne Glanz, ohne Form und Wölbung.

Diese Schadhaftigkeiten und Mängel aber verbarg die vorteilhafte Dämmerung. Hingegen ließ sie das träumerische Schielen der grünlichen Augen rätselhaft und reizend wirken.

»Woran denken Sie, Hendrik?« fragte die Herzfeld, nach langem Schweigen, mit einer innig gedämpften Stimme.

Ebenso leise antwortete Höfgen: »Ich denke daran – daß Dora Martin unrecht hat …« Hedda ließ ihn, über seine aneinandergelegten Hände hinweg, ins Dunkel reden, ohne zu fragen oder zu widersprechen. »Ich werde mich nicht beweisen«, klagte er in die Dämmerung. »Ich habe nichts zu beweisen. Niemals werde ich erstklassig sein. Ich bin provinziell.« Er verstummte, preßte die Lippen aufeinander, als erschräke er selber vor den Erkenntnissen und Bekenntnissen, zu denen die sonderbare Stunde ihn brachte.

»Und weiter?« fragte Frau von Herzfeld mit sanftem Vorwurf. »Und weiter denken Sie nichts? Immer nur daran?« Da er stumm blieb, dachte sie: ›Ja – dieses ist wohl das einzige, was ihn wirklich beschäftigt. Das mit dem politischen Theater vorhin und sein Enthusiasmus für die Revolution – das war also auch nur Komödie.‹ Diese Entdeckung erfüllte sie mit Enttäuschung; irgendwo fühlte sie sich aber auch auf eine merkwürdige Art von ihr befriedigt.

Er ließ mysteriös die Augen schillern; eine Antwort hatte er nicht.

»Merken Sie denn nicht, wie Sie die kleine Angelika quälen?« fragte die Frau neben ihm. »Spüren Sie denn nicht, daß Sie – andere leiden machen? Irgendwo müssen Sie doch für all das bezahlen.« Sie ließ den klagenden und suchenden Blick nicht von ihm. »Irgendwo müssen Sie doch büßen – und lieben.«

Nun war es ihr doch peinlich, daß sie dies gesagt hatte. Es war entschieden zuviel, sie hatte sich gehen lassen. Schnell entfernte sie ihr Gesicht von seinem. Zu ihrem Erstaunen bestrafte er sie durch kein böses Grinsen, durch kein höhnisches Wort. Vielmehr blieb sein Blick – schielend, schillernd und starr – ins Dunkel gerichtet, als suchte er dort Antwort auf dringliche Fragen, Stillung seiner Zweifel und das Bild einer Zukunft, deren eigentlicher Sinn es war, ihn groß zu machen.