Klaus Mann - Das literarische Werk

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Sie musterte ihn, kritisch und kalt. »Du bist seit voriger Woche noch etwas dicker geworden, mein Süßer«, konstatierte sie, wobei sie mit der Peitsche höhnisch gegen ihre grünen Stiefel klopfte.

»Entschuldige«, bat er leise. Sein weißes Gesicht, mit der strengen Linie des Kinns, den empfindlichen Schläfen und den schön geschnittenen, klagenden Augen, behielt seinen ganzen Ernst und eine fast tragische Würde über dem grotesk hergerichteten Körper.

Die Schwarze machte sich am Grammophon zu schaffen. In die Jazzmusik hinein, deren rhythmischer Lärm plötzlich einsetzte, sagte sie rauh: »Fang schon an!« Dabei fletschte sie die beiden Reihen ihrer gar zu weißen Zähne und bewegte grimmig die Augen: Dies genau war das Mienenspiel, das er jetzt von ihr erwartete und verlangte.

Ihr Gesicht stand vor ihm wie die schreckliche Maske eines fremden Gottes: Dieser thront mitten im Urwald, an verborgener Stelle, und was er fordert mit seinem Zähneblecken und Augenrollen, das sind Menschenopfer. Man bringt sie ihm, zu seinen Füßen spritzt Blut, er schnuppert mit der eingedrückten Nase den süß-vertrauten Geruch, und er wiegt ein wenig den majestätischen Oberkörper nach dem Rhythmus des wild bewegten Tamtams. Um ihn vollführen seine Untertanen den verzückten Freudentanz. Sie schleudern die Arme und Beine, sie hüpfen, schaukeln sich, taumeln; aus ihrem Gebrüll wird Wonnegestöhn, aus dem Gestöhn wird ein Keuchen, und schon sinken sie hin, lassen sich fallen vor die Füße des schwarzen Gottes, den sie lieben, den sie ganz bewundern – wie Menschen nur den lieben und ganz bewundern können, dem sie das Kostbarste geopfert haben: Blut.

Hendrik hatte langsam zu tanzen begonnen. Aber wohin war die triumphale Leichtigkeit, die von Publikum und Kollegen an ihm bewundert wurde? Sie war verschwunden; nur unter Qualen schien er jetzt die Füße zu setzen – freilich unter Qualen, die auch Wonnen waren: dies verrieten das selbstvergessene Lächeln der fahlen, aufeinandergepreßten Lippen und der benommene Blick.

Juliette ihrerseits dachte nicht daran, zu tanzen; sie ließ den Schüler sich alleine plagen. Nur durch Händeklatschen, rauhe Schreie und rhythmisches Schaukeln des Leibes feuerte sie ihn an. »Schneller, schneller!« forderte sie wütend. »Was hast du denn in den Knochen? Und du willst ein Mann sein? Du willst ein Schauspieler sein und dich auch noch für Geld sehen lassen? – Da, du komisches Stückchen Elend …«

Die Peitsche fuhr ihm über die Waden und über die Arme. Diesmal traten ihm keine Tränen in die Augen, welche trocken und glühend blieben. Nur seine zusammengepreßten Lippen zitterten. Prinzessin Tebab schlug noch einmal zu.

Er arbeitete, ohne jede Unterbrechung, eine halbe Stunde lang, als handelte es sich um ein ernsthaftes Training anstatt um eine etwas schauerliche Lustbarkeit. Schließlich keuchte er heftig. Er taumelte. Sein Gesicht war schweißbedeckt. Mühsam brachte er hervor: »Mir ist schwindlig. Darf ich aufhören …?«

Sie erwiderte, mit einem Blick auf die Uhr, kurz und sachlich: »Mindestens noch eine Viertelstunde mußt du springen.«

Da die Musik wieder plärrte und Juliette wieder frenetisch in die Hände klatschte, versuchte er noch einmal den komplizierten Step. Aber die gequälten Füße, in ihren koketten Halbschuhen und Söckchen, verweigerten ihm den Dienst. Hendrik schwankte eine Sekunde lang; stand dann still; wischte sich mit der zitternden Hand den Schweiß von der Stirne.

»Was machst du für Scherze?« grollte sie. »Du hörst auf, ohne meine Erlaubnis?! Das wäre ja das Allerneueste und noch das Schönere!«

Sie zielte mit der roten Peitsche nach seinem Gesicht; er duckte sich noch rechtzeitig, um diesem fürchterlichen Schlage zu entgehen. Abends ins Theater kommen mit einer blutigen Strieme von der Stirn bis zum Kinn: das wäre denn doch etwas zuviel gewesen. Trotz der benommenen Stimmung, in der er sich befand, blieb ihm klar, daß er sich dergleichen keinesfalls leisten durfte. »Laß das!« sagte er kurz. Während er sich schon von ihr abwendete, fügte er noch hinzu: »Genug für heute.«

Sie verstand, daß dies kein Spaß mehr war. Ohne etwas zu antworten, mit einem erleichterten kleinen Seufzer, schaute sie ihm zu, wie er in seinen üppig gefütterten, rotseidenen, übrigens an mehreren Stellen zerrissenen Schlafrock schlüpfte und sich auf dem Ruhebett niederließ.

Das Sofa, welches man für die Nacht als Bett herrichten konnte, war tagsüber bedeckt mit Tüchern und bunten Kissen. Neben dem Kanapee stand die Lampe auf dem runden, niedrigen Rauchtisch.

»Mach das grelle Licht aus!« bat Hendrik mit der singenden, wehleidig-melodischen Stimme. »Und komme zu mir, Juliette!«

Durch das rosige Halbdunkel schritt sie auf ihn zu. Als sie neben ihm stehenblieb, seufzte er leise: »Wie gut!«

»Hat es dir Spaß gemacht?« fragte sie ziemlich trocken. Sie hatte sich eine Zigarette angezündet und reichte auch ihm Feuer; er benutzte zum Rauchen die lange, ordinäre Zigarettenspitze, das Geschenk der Rahel Mohrenwitz. »Ich bin völlig erledigt«, sagte er. Daraufhin verzog sie ihren gewaltigen Mund zu einem gutmütigen und verständnisvollen Lächeln. »Das ist recht«, sagte sie, wobei sie sich über ihn beugte.

Er hatte seine breiten, bleichen, rötlich behaarten Hände auf ihre edlen, von schwarzer Seide überglänzten Knie gelegt. Träumerisch sprach er: »Wie häßlich meine gemeinen Hände auf deinen herrlichen Beinen aussehen, Geliebte!«

»An dir ist alles häßlich, mein Schweinchen – Kopf, Füße, Hände und alles!« versicherte sie ihm mit einer knurrenden Zärtlichkeit.

Sie ließ sich neben ihn hingleiten. Das graue Pelzjäckchen hatte sie abgelegt; darunter trug sie eine knappe, hemdartige Bluse aus einem stark glänzenden, rot und schwarz karierten Seidenstoff.

»Ich werde dich immer lieben«, sagte er erschöpft. »Du bist stark. Du bist rein.« Dabei schaute er, unter gesenkten Lidern, auf ihre harten und spitzen Brüste, die sich unter dem eng anliegenden, dünnen Gewebe deutlich abhoben.

»Ach, das sagst du nur so«, meinte sie ernst und ein wenig verächtlich. »Das bildest du dir nur ein. Manche Leute haben das – daß sie sich immer so was einbilden müssen. Sonst fühlen sie sich nicht wohl.«

Er tastete mit seinen Fingern nach ihren hohen und geschmeidigen Stiefeln. »Aber ich weiß doch, daß ich dich immer lieben werde«, flüsterte er, nun mit geschlossenen Augen. »Nie wieder finde ich eine Frau wie dich. Du bist die Frau meines Lebens, Prinzessin Tebab.«

Sie wiegte mißtrauisch ihr dunkles, ernstes Gesicht über seinem weißen, ermüdeten. »Und dabei darf ich nicht einmal ins Theater gehen, wenn du spielst«, sagte sie unzufrieden.

Er hauchte: »Trotzdem spiele ich nur für dich – nur für dich, meine Juliette. Ich hole bei dir meine Kraft.«

»Aber ich lasse mir’s nicht verbieten«, sagte sie trotzig. »Ich gehe ins Theater, ob du es mir erlaubst oder nicht. Nächstens einmal sitze ich im Parkett, und dann lache ich laut, wenn du auf die Bühne kommst, mein Affe.«

Er sagte hastig: »Mach keine Witze!« Dabei hatte er erschreckt die Augen geöffnet und sich halb aufgerichtet. Der Anblick seiner Schwarzen Venus schien ihn wieder zu beruhigen. Er lächelte, und nun begann er sogar zu rezitieren.

»Viens-tu du ciel profond ou sors-tu de l’abîme, o Beauté?«

»Was ist denn das für ein Quatsch?« fragte sie ungeduldig.

»Das ist aus diesem herrlichen Buch da«, erklärte er ihr, und deutete auf eine gelb broschierte französische Edition, die neben der Lampe auf dem Rauchtisch lag – es waren »Les Fleurs du Mal« von Baudelaire.

»Das verstehe ich nicht«, sagte Juliette verdrossen. Er aber ließ sich nicht stören in seiner Ekstase, sondern fuhr fort:

»Tu marches sur des morts, Beauté, dont tu te moques;

De tes bijoux l’Horreur n’est pas le moins charmant,

Et le Meurtre, parmi tes plus chères breloques,

Sur ton ventre orgueilleux danse amoureusement.«

»Wie magst du nur so blöd lügen«, sagte sie und berührte mit ihrem dunklen und schlanken Finger seinen redenden Mund.

Er aber sprach weiter, immer mit demselben melancholischen, singenden Ton: »Du erzählst mir nie davon, wie du früher gelebt hast, Prinzessin Tebab. Ich meine: in deinem Erdteil …«

»Ich kann mich an nichts mehr erinnern«, sagte sie kurz. Dann küßte sie ihn – vielleicht nur, um ihn daran zu hindern, noch länger indiskrete und poetische Fragen zu stellen – ihr weit geöffneter, tierischer Mund mit den dunklen, rissigen Lippen und der blutroten Zunge näherte sich langsam seinem gierigen, fahlen Mund.

Sowie sie ihr Gesicht wieder von dem seinen erhoben hatte, redete er weiter. »Ich weiß nicht, ob du mich vorhin verstanden hast, als ich sagte, daß ich nur für dich und nur durch dich spiele.« Während er so weich und träumerisch sprach, führte sie ihre geübten Finger durch sein schütteres Seidenhaar, auf dessen Fahlheit die Lampe ein wenig Goldglanz zauberte. Sie behandelte sein feines Haar auf eine nicht eigentlich zärtliche, sondern auf eine ernste und sachliche Art, als wollte sie es frisieren. »Ich habe es ganz wörtlich gemeint«, fuhr er fort. »Wenn ich den Leuten ein bißchen gefalle, wenn ich Erfolg habe – dir verdanke ich ihn. Dich zu sehen, dich zu berühren, Prinzessin Tebab: das ist wie eine Wunderkur für mich … etwas Herrliches, eine Erfrischung ganz ohnegleichen …«

»Ach, wenn du nur immer schwätzen und lügen kannst«, sagte sie mütterlich. »Du bist doch der drolligste kleine Dreckhaufen, dem ich jemals begegnet bin.« Sie hatte, um ihn nur zum Schweigen zu bringen, ihre beiden Hände auf sein Gesicht gelegt; die breiten Armbänder klirrten an seinem Kinn; auf seinen Wangen ruhten die hellen Innenflächen ihrer Hände. Da endlich verstummte er. Er rückte seinen Kopf auf dem Kissen zurecht, als wollte er einschlafen. Gleichzeitig schlang er mit einer hilfesuchenden Gebärde seine beiden Arme um das schwarze Mädchen. Während sie ganz still in seiner Umarmung hielt, ließ sie die Hände auf seinem Gesicht liegen, als müßte sie ihn davor bewahren, das zärtlich-höhnische Lächeln zu sehen, mit dem sie jetzt auf ihn niederblickte.

 

3
Knorke

Die Saison ging weiter, es war keine schlechte Saison für das Hamburger Künstlertheater. Oskar H. Kroge war entschieden ungerecht gewesen, als er gesagt hatte, Höfgen werde überzahlt mit tausend Mark Monatsgehalt. Ohne diesen Schauspieler und Regisseur hätte das Institut gar nicht auskommen können; er leistete Enormes, war so unermüdlich wie einfallsreich. Er spielte alles, jugendliche Rollen und alte: nicht nur Miklas hatte Anlaß, auf ihn eifersüchtig zu sein, sondern auch Petersen, und sogar Otto Ulrichs hätte ihn gehabt; aber der war mit wichtigeren Dingen beschäftigt und nahm den bürgerlichen Theaterbetrieb nicht ganz ernst. Höfgen gewann sich die Kinderherzen als witziger und schöner Prinz im Weihnachtsmärchen; die Damen fanden ihn unwiderstehlich in französischen Konversationsstücken und in den Komödien von Oscar Wilde; der literarisch interessierte Teil des Hamburger Publikums diskutierte seine Leistungen in »Frühlings Erwachen«, als Advokat in Strindbergs »Traumspiel«, als Léonce in Büchners »Léonce und Lena«. Er konnte elegant sein, aber auch tragisch. Er hatte das »aasige« Lächeln, aber auch den Leidenszug an den Schläfen. Er bezauberte mit übermütigem Esprit, er imponierte mit herrisch gerecktem Kinn, abgehacktem Kommandoton und stolz-nervösen Gebärden; er rührte durch Demut, hilflos irrenden Blick, weltfremd zarte Verstörtheit. Er war gütig oder gemein, hochfahrend oder zärtlich, schneidig oder gebrochen – ganz wie das Repertoire es verlangte. In Schillers »Kabale und Liebe« spielte er abwechselnd den Major Ferdinand und den Sekretarius Wurm – den überschwenglichen Liebhaber und den ruchlosen Intriganten – dabei hätte er es kaum nötig gehabt, seine Wandlungsfähigkeit, an der niemand zweifelte, solcherart kokett zu betonen. Vormittags hatte er Proben zum »Hamlet«, nachmittags zu einer Posse »Mieze macht alles«, Die Posse kam zum Silvesterabend heraus und wurde ein starker Erfolg, Schmitz konnte zufrieden sein; über den »Hamlet« raste Kroge, der noch auf der Generalprobe die Aufführung untersagen wollte. »Eine solche Schweinerei habe ich noch niemals geduldet in meinem Hause!« empörte sich der alte Vorkämpfer des literarischen Theaters. »Hamlet erledigt man nicht nebenbei wie einen Reißer!« Höfgen erledigte ihn; sah sehr eindrucksvoll aus in seiner hochgeschlossenen schwarzen Tracht, mit rätselhaft schielenden Augen und fahlem Leidensgesicht, und bekam am nächsten Vormittag von der Hamburger Presse versichert, daß es eine interessante Leistung gewesen sei, nicht ganz durchgearbeitet vielleicht, etwas improvisiert, aber doch voll packender Momente. Angelika Siebert hatte die Ophelia spielen dürfen und war auf jeder Probe schier zerflossen vor Tränen; bei der Premiere hatte sie wegen heftigen Weinens kaum auftreten können. Übrigens fanden dann einige Kenner, ihre Leistung sei eigentlich die beste gewesen in dieser bedenklichen Inszenierung.

Höfgen arbeitete sechzehn Stunden am Tag und hatte jede Woche mindestens einen Nervenzusammenbruch. Diese Krisen traten stets sehr heftig und in abwechslungsreichen Formen auf. Einmal fiel Höfgen zur Erde und zuckte stumm; das nächste Mal hingegen blieb er zwar stehen, schrie aber grauenhaft, und dies fünf Minuten lang ohne jegliche Unterbrechung; dann wieder behauptete er auf der Probe zum Entsetzen aller, er bekomme plötzlich seine Kiefer nicht mehr auseinander, ein Krampf habe eingesetzt, es sei scheußlich, nun könne er nur noch murmeln, und das tat er dann auch. Vor der Abendvorstellung, in der Garderobe, ließ er sich von Böck – der seine sieben Mark fünfzig noch immer nicht wieder hatte – die untere Gesichtshälfte massieren, stöhnte und murmelte mit aufeinandergepreßten Zähnen. Eine Viertelstunde später, auf der Bühne, gehorchte ihm sein Mundwerk wie eh und je; er benutzte es mit Geschicklichkeit, strahlte und hatte Erfolg.

An dem Tage, als Prinzessin Tebab ihn versetzt hatte, weinte, schrie und zuckte er gleichzeitig. Es war ein gräßliches Ereignis; scheu und eingeschüchtert umstand ihn das Ensemble, das doch manches von ihm gewohnt war; schließlich begoß Frau von Herzfeld den Tobenden mit Wasser. Übrigens gab Juliette ihrem Freund nur selten Anlaß zu so viel Verzweiflung; meistens erschien sie zur ausgemachten Stunde pünktlich in seiner Wohnung und leistete genau das, was er von ihr erwartete. Gestärkt und erfrischt, noch einfallsreicher, herrschsüchtiger und zäher, ging er hervor aus diesen anstrengenden Nachmittagsunterhaltungen. Er sagte zu Juliette, daß er sie liebe, daß sie das Zentrum seines Lebens sei. Manchmal glaubte er, was er sagte. Büßte er nicht bei der Schwarzen Venus seinen Ehrgeiz, erniedrigte er nicht vor ihr seine Eitelkeit? Liebte er sie nicht wirklich? – Es konnte geschehen, daß er darüber nachgrübelte, nachts auf dem Nachhauseweg vom H.K. Dann sagte er sich: ›Ja, ich liebe sie, es ist sicher.‹ Eine noch tiefere Stimme ließ sich vernehmen: ›Warum belügst du dich selber?‹ Aber es gelang ihm, sie verstummen zu lassen. Die tiefste der Stimmen schwieg. Hendrik durfte glauben, daß er fähig wäre zur Liebe.

Die kleine Angelika litt; Höfgen kümmerte sich nicht darum. Frau von Herzfeld litt; er speiste sie ab mit intellektuellen Konversationen. Rolf Bonetti litt, um der kleinen Angelika willen, die spröde blieb, wie eigensinnig und eifrig er sich auch um sie bewarb; so mußte sich der schöne junge Liebhaber mit Rahel Mohrenwitz trösten: dieses tat er widerwillig und ohne daß darum die angeekelten Züge verschwunden wären aus seinem Gesicht. Hans Miklas haßte; hungerte – wenn die Efeu ihm nicht gerade Butterbrote schenkte – schimpfte mit seinen politischen Freunden auf Marxisten, Juden und Judenknechte; trainierte zäh, bekam kleine Rollen und unterhalb der Backenknochen immer schwärzere Löcher.

Mit seinen politischen Freunden steckte auch Otto Ulrichs viel zusammen. Gerade vor ihnen war es ihm peinlich, daß die Eröffnung des Revolutionären Theaters immer wieder hinausgeschoben wurde. Jede Woche erfand Höfgen eine andere Ausrede. Es geschah häufig, daß Ulrichs nach der Probe den Freund beiseite nahm, um zu flehen: »Hendrik! Wann fangen wir an!« Dann redete Höfgen, schnell und leidenschaftlich, von der Verwerflichkeit des Kapitalismus, vom Theater als politischem Instrument, von der Notwendigkeit einer kraftvollen, durchgearbeiteten, künstlerisch-politischen Aktion, und versprach schließlich, unmittelbar nach der Premiere von »Mieze macht alles« mit den Proben für das Revolutionäre Theater zu beginnen.

Jedoch ging die stimmungsvolle Silvesterpremiere vorüber; viele andere Premieren folgten, die Saison nahte sich ihrem Ende, sie war fast vorbei: vom Revolutionären Theater gab es noch immer nicht mehr als das schöne Briefpapier, auf dem Höfgen eine hochgestimmte und verzweigte Korrespondenz mit prominenten Autoren sozialistischer Gesinnung führte. Als Otto Ulrichs wieder einmal bat und drängte, erklärte Hendrik ihm, für diese Saison sei es, tief bedauerlicherweise und infolge eines Zusammenkommens von fatalsten Umständen, zu spät geworden: man müsse leider bis zum nächsten Herbst warten. Diesmal verfinsterte sich Ulrichs Miene; Hendrik aber legte dem Freund und Gesinnungsgenossen den Arm um die Schulter und redete auf ihn ein mit jener durchaus unwiderstehlichen Stimme, die erst sang und bebte, dann heftig und schneidend wurde; denn nun geißelte Höfgen die moralische Verkommenheit der Bourgeoisie und pries die internationale Solidarität des Proletariats. Ulrichs war zu versöhnen. Man trennte sich mit langem Händedruck.

Damals wurde eben die letzte Novität für diese Spielzeit vorbereitet: in Theophil Marders Komödie »Knorke« sollte Hendrik Höfgen die Hauptrolle spielen. Das gesellschaftskritisch-dramatische Werk Marders hatte großen Ruhm; alle Kenner priesen seine höchst persönlich geprägte Form, seine unfehlbare Bühnenwirksamkeit und geistvoll unbarmherzige Bosheit. Zu der »Knorke«-Uraufführung würden die Kritiker aus Berlin herbeigereist kommen. Übrigens erwartete man auch den Autor – nicht ohne Herzklopfen; denn Marders unerbittlich hohe Meinung von sich selber war ebenso bekannt wie seine grimmige Schnoddrigkeit und seine Neigung zu jäh aus dem Nichts geholten heftigen und dauerhaften Streitigkeiten.

Bei aller Angst aber freute sich Höfgen auch auf die Ankunft des berühmten Dramatikers; er zweifelte kaum daran, daß dem Hellsichtigen und Erfahrenen seine Leistung auffallen werde. ›Ich muß gut werden in »Knorke«!‹ schwor Hendrik sich.

Damit er sich nur ganz der Rolle widmen konnte, überließ er dieses Mal die Regie dem Direktor Kroge, der ein alter Spezialist für die Komödien des Theophil Marder war. »Knorke« gehörte in einen Zyklus von satirischen Stücken, die das deutsche Bürgertum unter Wilhelm II. schilderten und verhöhnten. Held der Komödie war der Emporkömmling, der mit dem zynisch verdienten Geld, mit dem ordinären Elan seines Wesens und einer skrupellosen, niedrigen, selbstbewußten Intelligenz sich Macht und Einfluß in den höchsten Kreisen erobert. Knorke war grotesk, aber auch imposant. Er repräsentierte den parvenühaft emporschießenden, vitalen, ganz dem Geist entfremdeten bourgeoisen Typus. Höfgen versprach großartig zu werden in dieser Rolle. Er hatte ihre grausam schneidenden Akzente und zuweilen ihre beinah rührende Hilflosigkeit. Alles brachte er mit: die unsichere, aber zunächst blendende Grandezza der Haltung und der Gebärde; die gemeine, grauenhaft geschickte Rhetorik dessen, der alle hineinlegt, um nur selbst nach oben zu kommen; die fahle, starre, fast heroische Miene des vom Ehrgeiz Besessenen, und sogar noch den entsetzensvollen Blick auf den eigenen Aufstieg, der gar zu schwindelnd ist und jäh enden könnte. Keine Frage: Höfgen mußte Sensation machen in diesem Stück.

Seine Partnerin, Knorkes Lebensgefährtin, die nicht weniger skrupellos ist als er selber, und schwächer nur dadurch, daß sie liebt: daß sie Knorke liebt – seine Partnerin in der genialen Komödie spielte ein junges Mädchen, das von Theophil Marder in energisch oder beinah zornig abgefaßten Briefen dringend empfohlen worden war. Nicoletta von Niebuhr besaß noch wenig praktische Theatererfahrung – nur ganz selten war sie aufgetreten, und dies in kleineren Städten – aber ein selbstsicheres, beinah einschüchterndes Wesen. Marder hatte dem armen Oskar H. Kroge in krassen Ausdrücken mit dem gräßlichsten Skandal gedroht, falls die Direktion des Künstlertheaters Fräulein von Niebuhr nicht für ein erstes Fach engagieren würde. Kroge, der vor des Dramatikers fürchterlicher Diktion klein und ängstlich wurde, ließ Nicoletta in »Knorke« probeweise gastieren. Sie kam angereist, mit vielen Handkoffern aus rotem Lackleder, einem breitrandigen schwarzen Herrenhut zu einem brennendroten Gummimantel, einer großen gebogenen Nase und leuchtenden Katzenaugen unter einer hohen, schönen Stirn. Alle bemerkten sogleich, daß sie eine Persönlichkeit war: die Motz konstatierte es mit ehrfurchtsvoll bewegter Stimme im H.K., und niemand mochte ihr widersprechen, selbst Rahel Mohrenwitz nicht, obwohl diese sich über die Ankunft der Neuen ärgerte; denn ganz entschieden war auch Nicoletta eine dämonische junge Dame, sie brauchte weder Monokel noch lange Zigarettenspitze, um es der Welt zu beweisen.

Rolf Bonetti und Petersen diskutierten darüber, ob Nicoletta schön zu nennen sei. Der enthusiastische Petersen fand sie »einfach blendend«; der vorsichtige Kenner Bonetti wollte sie nur als »interessant« bezeichnet wissen. »Von schön kann doch gar nicht die Rede sein, bei der Nase!« sagte er wegwerfend. »Aber ihre Augen sind herrlich«, schwärmte Petersen, wobei er um sich blickte, ob die Motz nicht in der Nähe war. »Und wie sie sich hält! Majestätisch, möchte man beinah sprechen!« – Draußen ging Nicoletta vorbei, Arm in Arm mit Höfgen, was viel bemerkt ward. Ihr Kopf mit der kühnen Nase, dem leuchtenden Blick und der großen Stirn glich dem eines Renaissance-Jünglings: dies stellte, mit leidvoller Einsicht, Frau von Herzfeld fest, die das Paar eifersüchtig verfolgte. Nicoletta hielt sich sehr gerade. Ihre grell geschminkten, scharfen Lippen formten die Worte mit einer schneidenden Präzision; jeder Satz klirrte vor Akkuratesse; die Vokale sprach sie ganz weit vorn, so daß sie blank und flach klangen, kein Konsonant ging verloren, noch die beiläufigste Floskel wurde zum Triumph der Sprachtechnik.

Gerade war Nicoletta dabei, mit dämonischer Sorgfalt zu betonen, daß sie ehrgeizig sei, und, wenn es sein müsse, auch intrigant. »Natürlich, mein Liebling!« sagte sie schneidend zu Höfgen, den sie seit ein paar Stunden kannte. »Vorwärtskommen wollen wir alle. Man muß Ellenbogen haben.« Hendrik, der sie sich neugierig von der Seite beschaute, dachte darüber nach, ob sie in diesem Augenblick aufrichtig sei oder posierte. Es war schwer zu entscheiden. Vielleicht war gerade dieser radikal entschlossene Zynismus die Maske, hinter der sie ein ganz anderes Gesicht verbarg. Wer wußte aber, ob dieses andere versteckte Gesicht auch eine so kühne Nase und einen so scharfen Mund hatte wie die Miene, die sie jetzt mit Stolz zur Schau trug?

 

Hendrik konnte sich nicht verhehlen, daß die Frau an seiner Seite ihm Eindruck machte. Ohne Frage, sie war die erste, seitdem er Juliette kannte, für die er einen beteiligten, interessierten Blick hatte. Er beichtete es der Schwarzen Venus noch am selben Tage und bekam furchtbare Schläge – die diesmal nicht aus rituellen Gründen und weil es so zum Spiel gehörte verabreicht wurden, sondern aus Überzeugung und mit echter Leidenschaft; denn Prinzessin Tebab ärgerte sich. Hendrik litt, stöhnte, genoß und versicherte am Ende seiner Prinzessin, daß sie die eigentliche Herrin und Geliebte bleiben würde. Als er aber Nicoletta wiedersah, faszinierten ihn wieder ihre schneidende Sprechweise, ihr blanker, durchdringender Blick und ihre stolz zusammengenommene Haltung.

Ihre Beine waren nicht eigentlich schön, sondern eher etwas zu dick; aber sie präsentierte sie in schwarzen Seidenstrümpfen auf eine triumphale Manier, die jeden Zweifel an ihrer Schönheit kategorisch verbot – so wie Hendrik seine unedlen Hände zu halten wußte, als wären sie spitz, fein und gotisch. Nicoletta schlug die Beine übereinander, blickte leuchtend, lächelte rätselhaft und schob den Rock bis übers Knie zurück. Hendrik durchschaute natürlich die ganze Veranstaltung, war aber gerade deshalb von ihr entzückt. Übrigens konnte er sich an diesen Beinen, auf die nun sogar schon der Kenner Bonetti scharf war, sehr wohl grüne Schaftstiefel vorstellen – ein Umstand, der ihm das Mädchen Nicoletta noch attraktiver machte. Hendrik legte das fahle Gesicht in den Nacken und ließ die Juwelenaugen begehrlich wandern. Nicoletta gefiel ihm.

Es gefiel ihm auch, was sie ihm in präziser Sprache über ihre Herkunft und Vergangenheit anvertraute. Ihm imponierte das Exzentrische, Abenteuerliche, Fragwürdige, da er selbst aus den bürgerlichsten Verhältnissen kam. Nicoletta erzählte, daß sie ihre Eltern nicht gekannt habe. »Mein Papa war ein Hochstapler«, konstatierte sie erhobenen Hauptes, fröhlich und stolz. »Mama ist eine kleine Tänzerin an der Pariser Oper gewesen, sehr dumm, wie ich höre; aber sie soll die himmlischsten Beine gehabt haben.« Sie blickte herausfordernd auf ihre eigenen, mit denen sie nur angab, als wären sie himmlisch. »Papa war ein Genie. Immer verstand er es, auf größtem Fuß zu leben. Er ist in China gestorben, wo er siebzehn Teehäuser und enorme Schulden hinterließ. Das einzige Andenken, das ich an ihn besitze, ist seine Opiumpfeife.« In ihrem Hotelzimmer wies sie Hendrik die Reliquie vor. Mit einer Korrektheit, hinter der man lauter Teufelei vermuten mußte, fragte sie ihn, ob er Tee haben wollte oder Kaffee. Die Bestellung rief sie durch das Telefon dem Kellner zu wie einen fürchterlichen, mit eisiger Mitleidlosigkeit vorgebrachten Urteilsspruch. Dann erzählte sie ausführlich von ihrer Jugend. »Gelernt habe ich gar nicht viel«, sagte sie. »Aber ich kann auf den Händen gehen, auf einer rollenden Kugel laufen und wie eine Eule schreien.« Ihre Fibel sei die sehr empfehlenswerte Zeitschrift »La Vie Parisienne« gewesen. Aufgewachsen war sie teils in französischen Internaten, aus denen man sie wegen fürchterlicher Ungezogenheit stets bald wieder entfernt hatte; teils im Hause des Geheimrats Bruckner, den sie einen Jugendfreund ihres Vaters nannte.

Vom Geheimrat Bruckner hatte Höfgen schon gehört. Die Werke des Historikers waren berühmt; übrigens kannte Hendrik sie nicht. Hingegen wußte er, daß des Geheimrats gesellschaftliche Stellung eine ebenso bedeutende wie ungewöhnliche war. Der Forscher und Denker war nicht nur eine der exponiertesten und meistbesprochenen Figuren der deutschen und europäischen akademisch-literarischen Welt; man sagte ihm auch intime und einflußreiche Verbindungen zu politischen Kreisen nach. Seine Freundschaft mit einem sozialdemokratischen Minister war bekannt; andererseits hatte er Beziehungen zur Reichswehr: seine verstorbene Frau war die Tochter eines Generals gewesen. Viel Anlaß zu Kommentaren hatte eine Vortragstournée des Geheimrats durch Sowjetrußland gegeben. Damals war von der nationalistischen Presse die große Hetze gegen ihn eröffnet worden. Seitdem stellte man gerne mit Erbitterung fest, die Geschichtsbetrachtung Bruckners sei marxistisch beeinflußt. Es geschah, daß die Studenten lärmten, als er das Katheder betrat. Seine Weltgeltung und seine ruhige, überlegene Haltung schüchterten die Aufgeregten ein. Der Geheimrat ging siegreich hervor aus den Skandalen. Er blieb unantastbar.

»Der Alte ist wundervoll«, sagte Nicoletta von ihm. »Er versteht auch etwas von Menschen; an Papa zum Beispiel hatte er eine große Anhänglichkeit. Deshalb ließ er sich von mir immer alles gefallen – und ich meinerseits hatte Geduld mit seiner feinen Langweiligkeit.« Nicolettas beste Freundin, ihre eigentliche Schwester, war Barbara, Bruckners Tochter. »Ein so schönes Geschöpf! Und so gut!« Nicolettas Blick wurde weicher, während sie dies sagte; aber auf die klirrend exakte Aussprache konnte sie nicht verzichten.

Zu der »Knorke«-Premiere wurde nicht nur Theophil Marder erwartet, sondern auch das Mädchen Barbara. »Ich bin neugierig, ob du sie mögen wirst«, sagte Nicoletta zu Hendrik. »Vielleicht liegt sie dir nicht besonders. Aber sei bitte nett zu ihr, mir zu Gefallen. – Sie ist etwas scheu«, stellte Nicoletta fest und schmetterte die Vokale.

Am Tag der großen Premiere traf Barbara Bruckner ein; Marder kam erst gegen Abend, mit dem Berliner Schnellzug. Höfgen machte Barbaras Bekanntschaft, als er, unmittelbar vor Beginn der Vorstellung, einen Cognac in der Kantine trank. Nicoletta sprach mit musterhafter Deutlichkeit und greller Stimme: »Dieses ist meine liebste Freundin, Barbara Bruckner!« – wozu sie eine zeremonielle Geste unter dem schwarzen, steif plissierten Cape vollführte. Hendrik war zu aufgeregt, um sich das junge Mädchen genauer zu betrachten. Er stürzte seinen Cognac hinunter und verschwand. In der Garderobe fand er zwei große Blumensträuße: weißen Flieder von Angelika Siebert, und von der Herzfeld zart teegelb getönte Rosen. Um sich durch ein gutes Werk die Gunst des Himmels zu sichern, überreichte Höfgen dem kleinen Böck – der vor Premieren stets etwas weinerlich aussah – mit großer Geste fünf Mark, wodurch freilich die Sieben-Mark-fünfzig-Schuld noch immer nicht völlig getilgt war.

Die Uraufführung der Komödie »Knorke« verlief glänzend: Marders beißende Pointen schlugen knallend ein, die steile Führung des Dialogs kitzelte das Publikum zu halb entsetzten, halb beglückten Gelächtern, vor allem aber begeisterte das exakte, schnoddrig-pathetische, in jeder Hinsicht blendende Zusammenspiel zwischen Höfgen und der neuen Kraft, Nicoletta von Niebuhr, die »auf Engagement gastierte«. Nach dem zweiten Akt mußten die beiden Hauptdarsteller sich dem animierten Saal häufig zeigen. In der Pause erschien Theophil Marder bei Höfgen, Nicoletta geleitete ihn.