Klaus Mann - Das literarische Werk

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Die Generalin machte auf Hendrik einen viel größeren Eindruck als der Geheimrat. Nun erst begriff er ganz, was für ein glänzendes Milieu es war, in das er eintreten durfte. Seine gute Mutter Bella hatte wohl recht gehabt – nur hätte sie nicht so taktlos darauf anspielen sollen – angesichts solcher Verwandtschaft würden den Spießern in Köln die frechen Redensarten vergehen über die angeblich heruntergekommene Familie Höfgen. Auch Barbara stieg noch einmal in Hendriks Achtung, da er feststellte, wie vertraut der Gesprächston zwischen ihr und dieser blendenden Großmama war. Barbara hatte ihre Schulferien und außerdem beinahe jeden Sonntag auf dem Gute der Generalin verbracht – Hendrik erinnerte sich nun, es gehört zu haben. Die unvergleichliche alte Dame hatte ihrem Enkelkinde Dickens oder Tolstoi vorgelesen – es war eine Leidenschaft der Generalin, vorzulesen, und sie tat es mit schönem Ausdruck – oder sie hatten gemeinsame Spazierritte unternommen durch ein Land, das Hendrik sich vornehm wie einen englischen Park und dabei romantisch, waldig, hügelig, von silbrigen Gewässern durchzogen, reich an Schluchten, Tälern, wundervollen Ausblicken vorstellte. Wieder mischte sich Neid in das Entzücken, mit dem Höfgen an die schöne Kindheit Barbaras dachte. Hatte diese sorgenlose Jugend nicht beides gekannt: die vollkommene Kultur und die fast vollkommene Freiheit? Der Alltag in der väterlichen Villa; die festliche Erholung – die, in ihrer regelmäßigen Wiederkehr, auch schon beinahe Alltag war – auf der Besitzung dieser fürstlichen alten Dame: konnte Hendrik eine Bitterkeit unterdrücken, wenn er solche Kindheit mit der eigenen verglich?

Denn in Köln, bei Vater Köbes – der jetzt mit gebrochenem Bein darniederlag – hatte es keinen Park gegeben, keinen Raum mit Teppichen, Bibliothek und Gemälden; vielmehr muffige Stuben, in denen Bella und Josy munteres Treiben entfalteten, wenn sich Gäste einfanden, jedoch mißgelaunt und schlampig wurden, wenn die Familie unter sich blieb. Vater Köbes hatte immer Schulden und klagte über die Gemeinheit der Welt, wenn die Gläubiger ihn drängten. Noch peinlicher als seine schlechte Laune war die »Gemütlichkeit«, zu der er sich bisweilen, an hohen Feiertagen oder auch ohne besonderen Anlaß, plötzlich entschloß. Dann wurde ein »Böwlchen« gebraut, und Papa Köbes forderte die Seinen auf, einen Kanon mit ihm zu singen. Der junge Hendrik aber weigerte sich; er saß fahl und verbissen in einer Ecke. Sein einziger Gedanke war immer gewesen: ›Ich muß hinauskommen aus diesem Milieu. Ich muß dies alles weit, weit hinter mir lassen …‹

›Barbara hat es leicht gehabt‹, dachte er nun, während er mit der Generalin Konversation machte. ›Alle Wege waren ihr geebnet; sie ist ein typisches Geschöpf der arrivierten Großbourgeoisie. Über die Härte des Lebens, die ich schon kenne, wird sie sich wundern müssen. Was ich erreichen werde und schon erreicht habe, das verdanke ich alles nur meiner Kraft.‹ – Nicht ohne Pikiertheit sagte er zu seiner jungen Frau, die ihn an den Tisch geführt hatte, auf dem die Glückwunschtelegramme und Geschenke lagen: »Die Depeschen sind natürlich alle für dich. Mir telegraphiert niemand.« Barbara lachte – recht spöttisch und selbstgefällig, wie ihm schien: »Im Gegenteil, Hendrik. Mehrere Leute haben nur an dich adressiert – zum Beispiel Marder.« Aus dem hohen Stoß von Briefen, Karten und Depeschen suchte sie die Papiere hervor, die für Hendrik bestimmt waren. Außer Theophil Marder, dessen Hochzeitsbotschaft in vieldeutig korrekten, wahrscheinlich höhnisch gemeinten Wendungen abgefaßt war, hatten ihm noch die kleine Angelika Siebert, die Direktoren Schmitz und Kroge, Hedda von Herzfeld und – worüber er sich entsetzte – Juliette gratuliert. Woher waren ihr diese Adresse, dieses Datum bekannt? Hendrik, der bleich geworden war, zerknüllte den Papierstreifen. Um abzulenken, bewunderte er auf eine ironisch übertriebene Art die Geschenke, welche Barbara bekommen hatte: das Porzellan und das Silber, das Kristall, die Bücher und die Schmucksachen; die vielen nützlichen und feinen, von Freunden und Verwandten mit liebevoller Sorgfalt ausgewählten Gegenstände. »Was sollen wir nun anfangen mit all dem köstlichen Zeug?« fragte Barbara und schaute ratlos auf den großen Segen. Hendrik dachte daran, daß die eleganten Geräte sich sehr hübsch in seinem Hamburger Zimmer ausnehmen würden; sprach es aber nicht aus, sondern lachte und zuckte verächtlich die Achseln.

Der junge Mann trat hinzu, über dessen Anwesenheit Hendrik etwas beunruhigt war und der »Sebastian« angeredet wurde. Er unterhielt sich mit Barbara in einem geschwinden, an schwer verständlichen, privaten Anspielungen reichen Jargon, dem Hendrik nur mit Mühe folgen konnte. Höfgen stellte bei sich fest, daß dieser Mensch, den Barbara ihren besten Jugendfreund nannte und von dem sie behauptete, er schriebe schöne Verse und gescheite Aufsätze, ihm ausgesprochen unsympathisch war. ›Er ist hochmütig und unausstehlich!‹ dachte Hendrik, der sich in Sebastians Nähe besonders unsicher fühlte, obwohl dieser liebenswürdig zu ihm war. Aber gerade diese unverbindliche und ein wenig spöttische Liebenswürdigkeit wirkte verletzend. Sebastian hatte reiches, aschblondes Haar, das ihm in einer dicken Strähne in die Stirn fiel, und ein fein gezeichnetes, etwas müdes Gesicht mit einer langen, stark vorspringenden Nase und verschleiert blickenden, grauen Augen. ›Wahrscheinlich ist auch sein Vater ein Professor oder etwas Ähnliches‹, beschloß Hendrik erbittert. ›So ein verwöhnter, geistreicher Bube ist genau der Umgang, von dem Barbara endgültig verdorben werden könnte.‹

Nach der Mahlzeit saß man in der Diele zusammen; denn auf der Terrasse war es zu heiß geworden. Frau Bella hielt es für ihre Pflicht, über Literatur zu sprechen. Sie erzählte, daß sie im Zuge etwas so besonders Nettes gelesen habe, geradezu spannend sei es gewesen, von wem war es denn nur, »na, von unserem Russen, unserem größten!« rief die Arme gequält. »Wie konnte ich denn nur den Namen vergessen, wo er doch schon immer mein Lieblingsdichter war!« Nicoletta schlug vor, ob es sich nicht um Tolstoi gehandelt haben könne. »Ganz richtig – Tolstoi!« bestätigte Frau Bella erlöst. »Ich sagte doch: unser Größter – und es war etwas ganz Neues von ihm.« Aber dann stellte sich heraus, daß es eine kleine Dostojewski-Novelle gewesen war, die Mutter Höfgen soviel Freude bereitet hatte. Hendrik war blutrot geworden. Um das Gesprächsthema zu wechseln, und um diesem arroganten Kreise zu beweisen, daß er seine Mutter in peinlichen Situationen nicht im Stiche ließ, plauderte er demonstrativ mit Frau Bella und erinnerte sie, herzlich lachend, an mancherlei Lustiges, was sich in vergangenen Jahren zugetragen hatte. Ja, das war ulkig gewesen, als sie beide – Mutter und Sohn – zur Faschingszeit den großen Budenzauber veranstalteten und Papa Köbes erschreckten! Frau Bella maskierte sich als Pascha; der kleine Hendrik – dessen Name damals Heinz gewesen war; aber dies wurde jetzt nicht erwähnt – als Bajadere. Die ganze Wohnung wurde auf den Kopf gestellt, Papa Köbes traute seinen Augen nicht, als er nach Hause kam. »Mama war die erste, die erkannte, daß ich zum Theater gehen mußte«, sagte Hendrik und sah die Mutter liebevoll an. »Papa wollte lange nichts davon wissen.« – Dann erzählte er die Geschichte, wie seine schauspielerische Laufbahn begonnen hatte. Es war noch während des Krieges gewesen, 1917, als Hendrik, kaum achtzehn Jahre alt, auf einem Stück Zeitungspapier eine Annonce fand, aus der hervorging, daß ein Fronttheater im belgisch besetzten Gebiet junge Schauspieler suchte. »Aber an welchem Ort ich diesem schicksalsvollen Zeitungsfetzen begegnet bin«, sagte Hendrik, »das darf ich gar nicht erzählen.« Da alle lachten, tat er, als ob er sich sehr heftig schämen müßte, und brachte nur noch zwischen den Händen, hinter denen er sein Gesicht verbarg, hervor: »Ja, ja – ich fürchte, daß Sie es erraten haben …«

»Auf dem Klosett!« jubelte schamlos die Generalin, und ihr großes Gelächter sprang in kühner Koloratur vom tiefsten Baß bis hinauf zur silbrigen Höhe.

Während die allgemeine Stimmung immer fröhlicher und animierter wurde, ging Hendrik zu den Anekdoten über das Wandertheater über, wo er die Väterrollen hatte spielen müssen: nun konnte er, ungeniert und heiter, all seine altbewährten Piecen hervorholen und wieder einmal funkeln lassen; denn in diesem Kreise waren sie ja noch unbekannt. Nur Barbara hatte sie teilweise schon gehört, weshalb der Blick, mit dem sie den Erzählenden beobachtete, erstaunt und sogar ein klein wenig angewidert wurde.

Abends kamen einige Freunde, und Hendrik durfte seinen unbezahlten Frack zeigen, der ihm wundervoll stand. Die Tafel war schön mit Blumen geschmückt; nach dem Braten klopfte der Geheimrat ans Champagnerglas und hielt eine Rede. Er begrüßte die Anwesenden, vor allem Hendriks Mutter und Schwester – wobei er Frau Bella mit scherzhafter Artigkeit »die andere junge Frau Höfgen« nannte – und ging dann auf das Problem der Ehe im allgemeinen, auf die Person und die künstlerischen Verdienste seines neuen Schwiegersohnes im besonderen ein. Dem Geheimrat, der seine Worte mit Sorgfalt und mit einer liebevollen Geschicklichkeit wählte, gelang es, den Schauspieler Höfgen als eine Art von Märchenprinzen zu charakterisieren, der, tagsüber unscheinbar, sich des Abends magisch zu verwandeln vermag. »Da sitzt er!« rief Bruckner und deutete mit seinem langen, schmalen Zeigefinger auf Hendrik, der sofort etwas rot wurde. »Da sitzt er, sehen Sie ihn sich nur an! Er scheint ein schlanker junger Mann zu sein – gewiß, sehr stattlich in seinem gut geschnittenen Frack, aber doch relativ unauffällig. Unauffällig nämlich, wenn ich ihn mit der bunten, zauberhaften Figur vergleiche, die abends, im Rampenlicht, auf der Bühne aus ihm wird. Da beginnt er zu strahlen, da wird er unwiderstehlich!« Und der von seinem Thema hingerissene Gelehrte verglich den Schauspieler Höfgen – den er doch niemals auf der Szene gesehen hatte, sondern nur als Rilke-Rezitator kannte – mit einem Glühwürmchen, das sich tags aus schlauer Bescheidenheit übersehen läßt, um in der Dunkelheit erst recht verführerisch zu gaukeln. Hier ließ Nicoletta ein grelles Lachen hören, während die Generalin mit der Kette klapperte, an der ihre Lorgnette hing.

 

Der Geheimrat ließ zum Schluß das junge Paar hochleben. Hendrik küßte Barbaras Hand. »Wie schön du aussiehst!« sagte er und lächelte ihr innig zu. – Barbaras Kleid war aus einer schweren, teefarbenen Seide. Nicoletta hatte es getadelt und behauptet, es sei nicht modisch, sondern ein Phantasiekostüm, dem man seine Herkunft von der Hausschneiderin ansehe. Niemand aber konnte leugnen, daß es Barbara vorzüglich stand. Über dem breiten Kragen aus alten Spitzen – er war eines der Hochzeitsgeschenke der Generalin – erhob sich in rührender Schlankheit ihr bräunlicher Hals. – Das Lächeln, mit dem sie Hendrik antwortete, war ein wenig zerstreut. Ging nicht ihr schwärzlich-blauer, sanfter, prüfender Blick vorbei an Höfgen, der ihr gegenüberstand? Wem galt dieser Blick, der bekümmert, aber auch etwas spöttisch schien? Hendrik, plötzlich irritiert, wandte sich um. Er sah Sebastian, Barbaras Freund: in der schlechten Haltung, die ihm eigen war, mit hängenden Schultern und den Kopf nach vorne gestreckt, stand er nur einige Schritte entfernt von dem jungen Paar. Sein Gesicht war betrübt und zeigte einen angestrengt lauschenden Ausdruck. Auf eine merkwürdige Art bewegte er die Finger seiner beiden Hände – so etwa, als wollte er in der Luft Klavier spielen. Was bedeutete dies? Machte er Barbara Zeichen, deren geheimen Sinn nur sie verstehen konnte? Worauf lauschte er denn, der Verhaßte? Und warum diese Traurigkeit in seinem Gesicht? Liebte er Barbara? Sicher liebte er sie. Wahrscheinlich hatte er sie heiraten wollen; vielleicht hatte es schon vor Jahren eine kindliche Verlobung gegeben zwischen ihm und ihr. ›Nun habe ich ihm alles verdorben!‹ empfand Hendrik, halb triumphierend, halb entsetzt. ›Wie er mich verabscheut!‹ Er schaute weg von Sebastian und auf die übrigen Gäste – die Freunde dieses berühmten Hauses. Da fand er, daß sie alle betrübte Gesichter hatten. Männer mit durchgearbeiteten, charaktervollen Mienen – Hendrik hatte ihre Namen bei der Begrüßung nicht verstanden; aber es waren wohl Professoren, Schriftsteller, große Ärzte; ein paar junge Leute, die ihm alle mit Sebastian eine fatale Ähnlichkeit zu haben schienen; Mädchen, die in ihren Abendkleidern wie maskiert wirkten – als gingen sie sonst in grauen Flanellhosen, weißen Laboratoriumskitteln oder grünen Gärtnerschürzen. Hendrik schien es, als mischte sich in den Blicken, die sie auf ihn richteten, Neid mit Hohn. Hatten sie denn alle Barbara geliebt? Nahm er sie ihnen allen weg? War er also der Eindringling, die verdächtige, unseriöse Figur, mit der man sich ungern und nur aus Rücksicht auf Barbaras rätselhafte – wahrscheinlich flüchtige – Laune an einen Tisch setzt? In Wahrheit sprachen diese Menschen über hundert neutrale Dinge: über ein neues Buch, eine Theatervorstellung oder die politische Lage, die ihnen Sorgen machte. Hendrik aber meinte, sie beschäftigten sich nur mit ihm; sie sprächen, lächelten, spotteten nur über ihn.

Er hätte sich verkriechen mögen, so heftig schämte er sich plötzlich. Hatte nicht auch der Geheimrat ihn verhöhnen wollen mit seiner Rede? Innerhalb ganz weniger Sekunden hatte sich ihm alles, was heute von ihm erlebt worden war, ins Feindliche, Erniedrigende verwandelt. Das tolerante und heitere, mit Ironie vermischte Wohlwollen des Geheimrats, das ihn noch vor kurzem so stolz gemacht hatte – war es nicht im Grunde viel kränkender und herabsetzender, als irgendeine Strenge, ein deutlich an den Tag gelegter Hochmut es je hätten sein können? Jetzt erst begann Hendrik es sich klarzumachen, wieviel verletzenden Spott auch die burschikose Munterkeit der Generalin enthielt. Freilich, sie war eine imposante Persönlichkeit, grande dame großen Stils, und sie sah hinreißend aus, wie sie nun, aufrechten Ganges, herrschaftlich unbekümmert mit der Lorgnette klappernd, dem jungen Paar nahte: ganz in Weiß gekleidet, um den Hals die dreifach geschlungene Kette aus großen, matt schimmernden Perlen. Hatte sie am Mittag, im grauen Kostüm, wie ein Marquis des achtzehnten Jahrhunderts gewirkt, so zeigte sie jetzt, im weißen Gewand und im Schmuck ihrer köstlichen Steine, eine fast päpstliche Würde. Zu dieser Grandezza des Auftretens stand die derbe Aufgeräumtheit ihrer Sprechweise in einem großartig unbekümmerten Gegensatz. »Ich muß doch mal mit Glühwürmchen und mit meiner kleinen Barbara anstoßen!« rief sie schallend; dabei schwenkte sie das Champagnerglas.

Von der anderen Seite war Nicoletta herbeigetreten, auch sie mit dem Glas in der Hand. Sie ließ die Augen funkeln und den grellen Mund die Schlängellinie machen. »Prost!« rief die Generalin. »Prost!« rief Nicoletta. Hendrik stieß erst mit der königlichen Großmama an; dann mit Nicoletta – dem Mädchen, das von einem Schicksal, so wunderlich wie sein eigenes, in dieses Milieu verschlagen worden war. Hier bewegte sie sich – eine überraschende Figur – von der neugierig-nachsichtigen Toleranz des Geheimrats, von der selbstsicheren Munterkeit der Generalin geduldet – innig gehütet von der Liebe Barbaras. In diesem Augenblick empfand Hendrik, sehr klar und stark, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit – eine brüderliche Sympathie für Nicoletta. Er begriff: Sie war seinesgleichen. Zwar war ihr Vater der Literat und Abenteurer gewesen, dessen Vitalität und zynische Intelligenz die Bohème um die Jahrhundertwende fasziniert hatten; während die kleinbürgerliche Unsolidität des Papa Köbes wohl niemanden faszinieren, sondern nur die Gläubiger verärgern konnte. Hier aber, unter den höchst Gebildeten, viel Besitzenden – die meisten Anwesenden besaßen gar nicht sehr viel, aber Hendrik hielt sie samt und sonders für schwerreich – unter den Selbstsicheren, Ironischen und Gescheiten, in deren Kreis Barbara mit einer so aufreizenden Sicherheit sich zu bewegen wußte, hier spielten sie beide die gleiche Rolle, Nicoletta und Hendrik, die zwei bunten Vögel. Sie waren beide im tiefsten dazu entschlossen, sich von dieser Gesellschaft, der sie sich nicht zugehörig fühlten, nach oben tragen zu lassen und ihren Triumph über sie zu genießen als ihre Rache.

»Prost!« machte Hendrik. Sein Glas stieß leise klirrend an das Glas Nicolettas. Barbara, die inzwischen plaudernd und lachend um den Tisch ging, war bei ihrem Vater angekommen. Stumm legte sie ihm die Arme um den Hals und küßte ihn.

Das schöne Hotel an einem der oberbayrischen Seen hatte Nicoletta empfohlen, die das junge Paar auf seiner kleinen Hochzeitsreise begleitete. Barbara war hier sehr glücklich: sie liebte diese Landschaft, die, mit ihren hügeligen Wiesen, Wäldern und Gewässern, noch sanft, noch unpathetisch war, aber doch schon das Heroische und Kühne als ein Element und eine Möglichkeit in sich enthielt. Bei föhnigem Wetter schien das Gebirge ganz nah heranzukommen. Im Licht des Sonnenuntergangs verfärbten die zackigen Gipfel, die schneeigen Hänge sich blutig. Noch schöner aber fand Barbara ihren Anblick, wenn sie, während der Stunde vor dem Dunkelwerden, in einer erhabenen Bleichheit, in einem eisigen Frieden standen und wie geformt aus einer fremden, spröden, unendlich kostbaren, bei aller Härte sehr empfindlichen Substanz, die nicht Glas zu sein schien, nicht Metall und nicht Stein, vielmehr die seltenste und gänzlich unbekannte Materie.

Hendrik war unempfänglich für Reiz und Größe der Landschaft. Die Atmosphäre des elegant geführten Hotels beunruhigte und erregte ihn. Den Kellnern gegenüber verhielt er sich mißtrauisch und reizbar; er behauptete, daß sie ihn schlechter behandelten als die übrigen Gäste, und machte Barbara Vorwürfe, daß sie ihn jetzt schon dazu verleite, über seine Verhältnisse zu leben. Andererseits war er voll Genugtuung über das feine Milieu. »Es sind außer uns beinah nur Engländer hier!« stellte er befriedigt fest.

Trotz Hendriks Nervosität hatte man manchmal vergnügte Stunden. Vormittags lagen die drei auf dem hölzernen Steg, der weit hinaus ins blaue Wasser führte und an dem mittags der kleine, weiße, mit goldenen Verzierungen drollig aufgeputzte Dampfer anlegte. Nicoletta turnte und trainierte; sie sprang übers Seil, wandelte auf den Händen, bog den Rumpf nach hinten, bis ihre Stirn den Erdboden berührte – während Barbara faul in der Sonne lag. Nachher, beim Baden, war jedoch sie es, die sich besser bewährte als die eifrige Nicoletta: Barbara konnte schneller und ausdauernder schwimmen. Hendrik seinerseits kam für die sportliche Konkurrenz nicht in Frage: er schrie schon, wenn er mit den Zehen das kalte Wasser berührte, und nur durch langes Zureden und viel Spott brachte Barbara ihn dazu, einige Schwimmbewegungen zu versuchen. Ängstlich darauf bedacht, im seichten Wasser zu bleiben, das Gesicht in sorgenvolle Falten gelegt, mühte sich Hendrik im gefährlichen Element. Barbara beobachtete ihn belustigt. Plötzlich rief sie ihm zu: »Du siehst deiner Mutter geradezu lächerlich ähnlich – beim Schwimmen noch mehr als sonst. Mein Gott, du hast ja genau ihr Gesicht!« – worüber Hendrik derart kichern mußte, daß er nicht mehr fähig war, mit den Armen zu rudern, viel Wasser schluckte und fast ertrunken wäre.

Um so glanzvoller bewährte er sich abends, beim Tanzen. Alle Hotelgäste und sogar die Kellner waren entzückt, wenn er Nicoletta oder Barbara im Tangoschritt führte. Mit solcher Anmut und so viel Grandezza wußte keiner von den anderen Herren sich zu bewegen. Es war eine richtige Vorstellung, die Hendrik gab; alle klatschten, da er geendigt hatte. Er verneigte sich lächelnd, als stände er auf der Bühne. – Wenn er Publikum sein sollte, Mensch unter anderen, fühlte er sich befangen und oft verstört; seine Sicherheit kehrte wieder und ward zur Siegesgewißheit, sowie er sich distanzieren, in ein grelleres Licht treten und dort schimmern durfte. Wahrhaft geborgen fand er sich nur auf einem erhöhten Platz, gegenüber einer Menge, die nur existierte, um ihm zu huldigen, ihn zu bewundern, ihm Beifall zu spenden.

Eines Tages stellte sich heraus, daß an eben dem See, dessen Schönheiten Nicoletta so eifrig empfohlen hatte, Theophil Marder ein Sommerhaus besaß; Barbara wurde sehr schweigsam und bekam schwarze Augen vor Nachdenklichkeit, als sie es erfuhr. Zunächst weigerte sie sich, den Satiriker zu besuchen; schließlich aber ließ sie sich von Nicoletta zu der Exkursion überreden. Man fuhr auf dem weißen, goldverzierten Dampfer, den man nun schon so oft vom Landungssteg aus beobachtet hatte, quer über den See. Das Wetter war schön; ein leichter und frischer Wind bewegte das Wasser, das so blau war wie der leuchtende Himmel. Je munterer Nicoletta wurde, desto stiller zeigte sich Barbara, ihre Freundin.

Theophil Marder erwartete seine Gäste am Ufer. Er trug einen großkarierten Sportanzug mit weiten, faltigen Knickerbockers und dazu einen weißen Tropenhelm, was wunderlich wirkte. Beim Sprechen nahm er eine kurze englische Pfeife nicht aus dem Mund. Als Nicoletta ihn fragte, seit wann er Pfeife rauchte, sagte er und lächelte geistesabwesend: »Der neue Mensch hat neue Angewohnheiten. Ich verwandle mich. Ich erschrecke jeden Morgen über mich selbst. Denn wenn ich aufwache, bin ich nicht mehr derselbe, als der ich am Abend eingeschlafen bin. Mein Geist hat über Nacht gewaltig zugenommen an Größe und Stärke. Immer kommen mir nun im Schlaf die ungeheuerlichsten Erkenntnisse. Deshalb schlafe ich auch so viel: mindestens vierzehn Stunden jeden Tag.« Diesem Bericht – der kaum geeignet war, die Beunruhigung, welche der Tropenhelm erweckte, zu beseitigen – folgte ein herzlich meckerndes Lachen. Dann benahm Theophil sich wieder gesittet. Gegenüber Hendrik und Nicoletta befleißigte er sich der gewähltesten Liebenswürdigkeit, während er Barbara zu übersehen schien.

Nach dem Essen, das man in einem mit naturfarbenem Holz getäfelten, großen, hellen und eleganten Speisezimmer eingenommen hatte, legte Theophil seinen Arm um Höfgens Schultern und führte ihn abseits. »Na, unter uns Männern«, sagte der Dramatiker, schaute flackernd und bewegte unter dem Schnurrbart schmatzend die bläulichen Lippen. »Sind Sie zufrieden mit Ihrem Experiment?«

»Mit welchem Experiment?« wollte Hendrik wissen. Daraufhin lachte Theophil schallend und bewegte dann noch heftiger den gierigen Mund. »Nun – was denn wohl? Ihre Heirat meine ich natürlich!« flüsterte er rauh. »Sie sind ja ’ne dolle Type, sich auf so was einzulassen! Mit dieser Geheimratstochter wird man nicht leicht fertig. Ich habe es doch versucht!« gestand er und bekam böse Augen. »An der werden Sie nicht viel Spaß erleben, mein Lieber. Die ist eine lahme Ente – glauben Sie mir, dem kompetentesten Fachmann des Jahrhunderts: eine lahme Ente ist sie.«

 

Hendrik war so bestürzt über diese Redewendung, daß er das Monokel aus dem Auge fallen ließ. Marder inzwischen stieß ihn lustig vor den Bauch. »Nichts für ungut!« rief er, plötzlich glänzend gelaunt. »Vielleicht schaffen Sie es – kann man nie wissen – sind ja ’ne dolle Type!«

Während des ganzen Nachmittags beklagte er den totalen Mangel an Disziplin, der die Epoche so traurig charakterisiere. Dabei ward er nicht müde, auf höchst intensive Art die gleichen Feststellungen und Ausrufe unzählige Male zu wiederholen. Immer wieder versicherte er: »Nirgends Persönlichkeiten! Es gibt nur mich! Mit welcher Sorgfalt ich auch Umschau halte – immer wieder finde ich nur mich!« Hastig verglich er sich mit einigen großen Männern der Vergangenheit, und zwar sowohl mit Hölderlin als auch mit Alexander dem Großen; lobte dann gereizt die »gute alte Zeit«, in der er selber jung gewesen, und kam in diesem Zusammenhang auch auf den Geheimrat Bruckner zu sprechen. »Ist ja kolossal langweilig, der alte Herr«, redete Theophil. »Aber doch noch solide, gute alte Schule – kein Scharlatan. Ohne Frage relativ achtenswerter Geselle. Was nachkommt, ist übler. Heutige Zeit bringt nur noch Kretins oder Kriminelle hervor.« Dann führte er die drei jungen Leute – Nicoletta, Barbara und Hendrik – vor seine Bibliothek, die mehrere tausend Bände zählte, und forderte sie auf, sie sollten zunächst mal was lernen. »Wißt ja alle nichts!« brüllte er sie überraschend an. »Allgemeine Unbildung und Verblödung schreien ja zum Himmel! Total verlotterte Generation. Europäische Katastrophe deshalb unvermeidlich und von höherem Gesichtspunkt aus gerechtfertigt!«

Als er aber dazu übergehen wollte, Hendrik in unregelmäßigen griechischen Verben zu prüfen, fand Barbara es an der Zeit, aufzubrechen.

Auf der Nachhausefahrt, im Dampfer, erklärte Nicoletta, ganz ähnlich wie Theophil Marder müsse ihr Vater, der Abenteurer, gewesen sein. »Ich besitze ja kein Bild von Papa«, sagte sie, und schaute sinnend über das Wasser, auf dem es kein Sonnenlicht mehr gab, sondern das perlmuttergrau und unbewegt im sinkenden Abend lag. »Kein Bild – nur die Opiumpfeife. Aber er muß mit Theophil viel gemeinsam gehabt haben. Ich spüre es. Daher bin ich Marder so tief verwandt.«

Nach einer kleinen Pause ließ sich Barbara hören: »Sicher war dein Vater viel, viel netter als Marder. Marder ist ja überhaupt nicht nett.« Nicoletta schaute tückisch und belustigt aus den grünen Katzenaugen und kicherte leise in sich hinein.

Nicoletta machte nun fast jeden Tag die Dampferfahrt zum gegenüberliegenden Ufer, wo sich Marders Villa befand. Sie brach gegen Mittag auf, um meistens erst spät in der Nacht zurückzukehren. Barbara wurde immer stiller und nachdenklicher, besonders während der kurzen Stunden, da Nicoletta noch in ihrer Nähe war.

Übrigens war Nicolettas unvernünftig-eigensinniger Flirt mit Theophil nicht der einzige Umstand, der Barbara versonnen stimmte. Wenn sie nachts allein in ihrem Bett lag – und sie lag allein – lauschte sie in ihr Inneres, um zu erfahren, ob Hendriks wunderliches und ein wenig blamables Verhalten – das man wohl auch ein Versagen nennen konnte – sie erleichterte oder enttäuschte. Ja, es erleichterte sie, und es enttäuschte sie doch auch …

Die Zimmer Barbaras und Hendriks hatten eine Verbindungstür. Zu später Stunde pflegte Höfgen noch bei seiner Gattin einzutreten, dekorativ gehüllt in seinen schadhaft-prunkvollen Schlafrock. Den Kopf im Nacken, über dem schillernd-schielenden Blick halb die Lider gesenkt, eilte er durchs Zimmer und versicherte Barbara mit singender Stimme, wie froh und dankbar er sei, und daß sie stets das Zentrum seines Lebens bleiben werde. Er umarmte sie auch, aber nur flüchtig, und während er sie in den Armen hielt, ward er bleich. Er litt, er bebte, ihm stand der Schweiß auf der Stirn. Scham und Zorn füllten ihm die Augen mit Tränen.

Auf dieses Fiasko war er nicht vorbereitet gewesen. Er hatte geglaubt, Barbara zu lieben – ja, er liebte sie wirklich. Hatte ihn die Freundschaft mit Prinzessin Tebab so verdorben? Ach, er konnte sich an Barbaras schönen Beinen keine grünen Schaftstiefel vorstellen … Die kläglichen und erfolglosen Umarmungen wurden ihm zur Qual. Er meinte, in Barbaras Augen, die doch nur eine stille, etwas verwunderte Frage enthielten, Hohn und Vorwurf zu lesen. Um über die grauenvolle Situation hinwegzukommen, schwatzte er, was ihm gerade einfiel; er wurde munter, von einem nervösen Lachen geschüttelt rannte er auf und ab.

»Hast du auch so scheußliche kleine Erinnerungen wie ich?« fragte er Barbara, die regungslos im Bett lag und ihn beobachtete. »Weißt du: Erinnerungen von der Art, daß einem ganz heiß und kalt wird, wenn man an sie denkt – und man muß oft an sie denken …« Er blieb, an Barbaras Bett gelehnt, stehen; mit fiebriger Hast – ein ungesund helles Rot auf den Wangen und immer wieder von Lachen geschüttelt – begann er zu erzählen.

»Ich muß elf oder zwölf Jahre alt gewesen sein, als ich im Knabenchor unseres Gymnasiums mitsingen durfte. Mir machte das eine ungeheure Freude, und ich bildete mir wohl auch ein, hübscher als alle anderen singen zu können. – Nun kommt die teuflische kleine Erinnerung – paß auf, sie wird gar nicht arg klingen, wenn ich sie jetzt berichte. – Unser Knabenchor sollte, anläßlich irgendeiner Hochzeit, bei der kirchlichen Feier mitwirken. Das war eine große Sache, und wir waren alle ziemlich aufgeregt. Mich aber ritt der Teufel, ich wollte mich ganz besonders hervortun. Als unser Chor mit seinem frommen Lied einsetzte, hatte ich den abscheulichen Einfall, eine Oktave höher als alle anderen zu singen. Ich tat mir so viel zugute auf meinen Sopran, und ich dachte wohl, es würde einen reizenden Effekt machen, wenn mein schriller Ton durch das Gewölbe hallte. Ich stand ganz stolzgebläht und sang gellend – da sah mich der Musiklehrer, der den Chor dirigierte, mit einem Blick an, der eigentlich noch mehr angewidert als strafend war, und er sagte: ›Sei doch still!‹ – Verstehst du, Barbara?« rief Hendrik und legte die Hände vor sein heißes Gesicht. »Verstehst du denn, wie infernalisch das ist? So ganz trocken, ganz leise sagte er zu mir: ›Sei doch still!‹ Und ich war mir doch noch gerade vorgekommen wie ein jubilierender Erzengel …« Hendrik verstummte. Nach einer langen Pause sagte er: »Solche Erinnerungen sind wie kleine Höllen, in die wir zuweilen steigen müssen …« Mit einem mißtrauischen Gesichtsausdruck fragte er: »Du hast wohl keine Erinnerungen von dieser Art, Barbara?«

Nein, Barbara hatte solche Erinnerungen nicht. Hierüber wurde Hendrik plötzlich gereizt, beinah zornig. »Das ist es eben!« rief er gehässig, und in seinen Augen gab es ein böses Leuchten. »Das ist es eben: du hast dich in deinem Leben nie richtig schämen müssen … Mir ist das oft widerfahren, damals war es nur ein erstes Mal. Ich muß mich häufig so entsetzlich stark schämen – mich so in die Hölle hinunter schämen … Verstehst du denn, was ich meine, Barbara? Kannst du mich denn verstehen?«