Klaus Mann - Das literarische Werk

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Beinah schon war Kroge den Argumenten seiner beiden ersten Mitarbeiter gewonnen, als Miklas, zur Überraschung aller Anwesenden, noch einen Fürsprecher fand: es war Otto Ulrichs, der sich plötzlich anmelden ließ und bat, an der Konferenz teilnehmen zu dürfen. »Ich beschwöre euch, macht das nicht!« rief er dringlich. »Mir scheint, es ist für den Jungen Strafe genug, wenn er für die nächste Saison hier nicht mehr engagiert wird. Der dumme Kerl hat sich doch das alles, was er da gestern abend geschwatzt hat, nicht so genau überlegt! Jeder von uns kann mal die Nerven verlieren …«

»Ich bin erstaunt«, sagte Hendrik und warf durch das Monokel einen strafenden Blick auf seinen Freund Otto. »Ich bin sehr erstaunt, dich, gerade dich, so sprechen zu hören.« Ulrichs winkte ärgerlich ab. »Gut«, machte er, »lassen wir also die menschlichen Erwägungen beiseite. Ich gebe zu, daß der arme Bursche mir leid tut, mit seinem Husten und mit seinen schwarzen Löchern in den Backen. Aber aus so privaten Gründen würde ich mich doch nicht für ihn einsetzen – du solltest mich gut genug kennen, Hendrik, um das zu wissen. Vielmehr sind es, wie immer, politische Erwägungen, die meine Haltung bestimmen. Man soll keine Märtyrer schaffen. Es wäre, gerade bei der augenblicklichen politischen Situation, durchaus falsch …«

Hier stand Hendrik auf. »Entschuldige, daß ich dich unterbreche«, sagte er mit vernichtender Höflichkeit. »Aber es scheint mir zwecklos, diese an sich gewiß sehr interessante theoretische Debatte fortzusetzen. Der Fall liegt einfach: Ihr habt zwischen mir und Herrn Hans Miklas zu wählen. Wenn er an diesem Theater bleibt, werde ich es verlassen.« Dieses sprach er mit einer feierlichen Schlichtheit, die an dem unerbittlichen Ernst seiner Worte nicht zweifeln ließ. Er stand am Tisch, das Gewicht des vorgebeugten Oberkörpers auf die Hände gestützt, die mit gespreizten Fingern vor ihm lagen. Die Augen hielt er gesenkt, als wollte seine Bescheidenheit es vermeiden, den Entschluß der Anwesenden durch die unwiderstehliche Kraft seines Blickes zu beeinflussen.

Bei Hendriks schrecklichen Worten waren alle zusammengefahren. Kroge biß sich die Lippen; Frau von Herzfeld konnte sich nicht enthalten, ihre Hand auf das Herz zu legen, welches krampfhaft pochte; Direktor Schmitz war bleich geworden: ihm bereitete es physische Übelkeit, sich vorzustellen, das Künstlertheater könnte nun auch noch Höfgen, den Unersetzbaren, verlieren, nachdem es schon die effektvolle Nicoletta von Niebuhr eingebüßt hatte.

»Reden Sie keinen Unsinn«, flüsterte der dicke Mensch und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Und er fügte mit seiner überraschend weichen und angenehmen Stimme hinzu: »Sie können beruhigt sein: der Junge fliegt.«

Miklas flog – Kroge hatte nur mit Mühe und dank der eifrigen Unterstützung Ulrichs’ durchsetzen können, daß der verabschiedete junge Schauspieler die Gage für zwei Monate ausbezahlt erhielt. Niemand wußte, wohin Miklas reiste, selbst die arme Efeu sah ihn nicht mehr, er hatte das Künstlertheater seit jenem peinlichen Zwischenfall nicht mehr betreten, grollend hatte er sich zurückgezogen, und nun war er verschwunden.

Miklas, Opfer seines kindischen Trotzes und seiner ebenso glühenden wie nicht durchdachten Überzeugung, war fort. Hendrik Höfgen hatte den Unbotmäßigen erledigt, den Aufsässigen aus dem Wege geschafft: Sein Triumph war vollkommen, mehr denn je bewunderten ihn alle Mitglieder des Künstlertheaters, von der Motz bis zum Böck. Die kommunistischen Bühnenarbeiter, in ihrem Stammlokal, lobten seine energische Haltung. Der Bühnenportier Knurr zeigte eine unheilverkündend finstere Miene, wagte jedoch kein Wort zu sagen und versteckte sein Hakenkreuz sorgfältiger denn je unter dem Rockaufschlag. Wenn aber Höfgen das Theater betrat, trafen ihn aus dem Halbdunkel der Portiersloge fürchterliche Blicke, in denen zu lesen stand: Warte nur, du verfluchter Kulturbolschewist, dir werden wir das Handwerk schon noch legen! Unser Führer und Erlöser ist unterwegs! Der Tag seiner großen Ankunft ist nahe! – Hendrik erschauerte, ließ sein Gesicht zur undurchdringlich hochmütigen Maske erstarren, und ging grußlos vorbei.

Seine überragende Stellung anzuzweifeln war niemandem möglich: Er regierte im H.K., im Büro, auf der Bühne. Seine Gage wurde auf fünfzehnhundert Mark erhöht: Hendrik machte sich keineswegs mehr die Mühe, wie ein nervöser Sturmwind in Direktor Schmitzens Büro zu fahren und erst lange neckisch zu tun, um dies zu erreichen; vielmehr verlangte er es mit knappen Worten. Kroge und die Herzfeld wurden von ihm fast wie Untergebene behandelt, die kleine Siebert schien er völlig zu übersehen, und in den kameradschaftlichen Ton, den er Otto Ulrichs gegenüber beibehielt, mischte sich eine gönnerhafte, beinah etwas verächtliche Note.

Nur einen Menschen gab es in seinem Umkreis, den zu überzeugen, zu gewinnen, zu verführen ihm übrig blieb. Das Mißtrauen, mit dem Barbara auf Hendrik schaute, hatte sich seit der Miklas-Affäre noch vertieft und verschärft. Er aber ertrug es nicht, auf die Dauer jemanden in seiner Nähe zu haben, der ihn nicht bewunderte und nicht an ihn glaubte. – Die Entfremdung zwischen ihm und Barbara war fortgeschritten während dieses Winters. Nun nahm Hendrik einen frischen Anlauf, um sie gänzlich zu überwinden. Zwang ihn nur die Eitelkeit zu diesem neuen Energieaufwand des Werbens? Oder nötigte ihn auch ein anderes Gefühl, seine verführerischen Kräfte für Barbara noch einmal spielen zu lassen? Er hatte sie seinen »guten Engel« genannt. Aus seinem guten Engel war sein schlechtes Gewissen geworden. Barbaras stille Mißbilligung warf einen Schatten über seine Triumphe. Der Schatten mußte weggewischt werden, damit er ungestört die Triumphe genießen konnte. – Hendrik bemühte sich um Barbara fast ebenso eifrig wie in den ersten Wochen ihrer Beziehung. Er ließ sich nicht mehr gehen in ihrer Gegenwart; vielmehr hatte er nun wieder Scherze und bedeutende Gespräche für sie bereit.

Damit sie ihn in den Augenblicken seiner intensivsten Kraftentfaltung, seiner blendendsten Wirksamkeit sähe, forderte er sie nun häufiger auf, zu großen Proben ins Theater zu kommen. »Du kannst mir gewiß wertvolle Ratschläge geben«, sagte er mit der vor Bescheidenheit klagenden Stimme und senkte die Lider über einem schillernden Blick.

Als Hendrik die erste Kostümprobe zu seiner Neubearbeitung einer Offenbach-Operette leitete, betrat Barbara leise den Zuschauerraum; leise ließ sie sich nieder, in der letzten Reihe des finsteren Parketts. Auf der Bühne standen die Girls, warfen die Beine und schrien den Refrain eines Chansons. Vor ihrer tadellos ausgerichteten Front hüpfte die kleine Siebert, die als Amor zurechtgemacht war: mit lächerlichen Flügelchen an den nackten Schultern, Pfeil und Bogen um den Hals gehängt, und einem rot geschminkten Näschen im bleichen, angstvollen und hübschen kleinen Gesicht. ›Was für eine unvorteilhafte Maske Hendrik ihr zumutet!‹ dachte Barbara. ›Ein melancholischer Amor.‹ Und sie empfand, in ihrem dunklen Versteck, etwas wie eine gerührte Sympathie für die arme Angelika, die da vorne zappelte und sprang: vielleicht begriff Barbara in diesem Augenblick, daß um Hendriks willen Angelikas Gesicht den klagenden und angstvollen Ausdruck hatte.

Höfgen stand, tyrannisch gereckt und mit gebreiteten Armen, auf der rechten Seite der Bühne und beherrschte alles. Er stampfte nach dem Rhythmus der Orchestermusik, sein fahles Antlitz faszinierte durch den Ausdruck äußerster Entschlossenheit. »Schluß! Schluß! Schluß!!« tobte er, und während das Orchester plötzlich zu spielen aufhörte, erschrak Barbara fast ebensosehr wie die Chorgirls, die ratlos dastanden, und wie die kleine Angelika: Amor, mit erfrorenem Näschen, gegen die Tränen kämpfend.

Der Regisseur aber war nach vorne gesprungen, in die Mitte der Bühne. »Ihr habt Blei in den Beinen!« schrie er die Girls an, die traurig die Köpfe senkten, wie Blumen, über die ein eisiger Wind weht. »Keinen Trauermarsch sollt ihr tanzen, sondern Offenbach.« Herrisch winkte er dem Orchester, und da es wieder zu spielen begann, tanzte er selbst. Man vergaß, daß es ein fast schon kahler Herr im grauen, etwas abgetragenen Straßenanzug war, den man da vor sich hatte. Höchst schamlose, höchst erregende Verwandlung am hellen Vormittag! Schien er nicht Dionysos, der Gott der Trunkenheiten zu sein, wie er nun ekstatisch die Glieder warf? Barbara beobachtete ihn nicht ohne Erschütterung. Eben noch war Hendrik Höfgen der Feldherr gewesen, der – gereizt, hochmütig, unerbittlich – vor seinen Truppen, den Chorgirls, stand. Ohne Übergang war er nun verfallen in bacchantische Raserei. Verzerrungen liefen über sein weißes Gesicht, die Edelsteinaugen verdrehten sich vor Verzücktheit, und von den geöffneten Lippen kamen heisere Laute der Wollust. Übrigens tanzte er glänzend, die Chorgirls schauten respektvoll auf ihren mit großer Technik taumelnden Regisseur, Prinzessin Tebab hätte ihre Freude an ihm gehabt.

›Woher kann er das?‹ dachte Barbara. ›Und was fühlt er denn jetzt? Fühlt er jetzt irgend etwas? Er macht den Girls vor, wie sie die Beine werfen sollen. Das sind seine Ekstasen …‹

In diesem Augenblick unterbrach Hendrik die frenetische Übung. Ein junger Mann aus dem Büro war vorsichtig durch das Parkett gegangen und auf die Bühne gestiegen. Nun berührte er zart die Schultern des verzückten Regisseurs und flüsterte: Herr Höfgen möge die Störung entschuldigen, Direktor Schmitz lasse ihn bitten, diesen Plakatentwurf für die Operettenpremiere, der sofort in die Druckerei zurückgeschickt werden müsse, zu begutachten. Hendrik winkte der Musik ab, stand in gelassener Haltung und klemmte sich das Monokel vors Auge: Niemand hätte dem Mann, der jetzt mit kritischer Miene ein Papier beschaute, angesehen, daß er noch vor zwei Minuten in dionysischer Trance die Glieder geschüttelt hatte. Nun zerknüllte er das Papier in der Hand und rief mit einer mißzufrieden knarrenden Stimme:

 

»Das ganze Zeug muß nochmal gesetzt werden! Ist doch unerhört! Mein Name ist schon wieder falsch geschrieben! Kann ich denn nicht einmal hier im Hause durchsetzen, daß man mir meinen richtigen Namen gibt? Ich heiße nicht Henrik!« Dabei warf er zornig das Papier zu Boden. »Ich heiße Hendrik – merkt es euch doch endlich: Hendrik Höfgen!«

Der junge Mann aus dem Büro duckte den Kopf und murmelte etwas über einen neuen Setzer, dessen Ahnungslosigkeit den unverzeihlichen Fehler verschuldet habe. Von den Girls kam ein leises Kichern, das silbrig klang, als bewegte man vorsichtig mehrere Glöckchen. Hendrik reckte sich und brachte das zarte Läuten mit einem fürchterlichen Blick zum Verstummen.

6
»Es ist doch nicht zu schildern …«

Hendrik Höfgen litt, wenn er im H.K. die Berliner Zeitungen las; sein Herz zog sich zusammen und schmerzte vor Neid und Eifersucht. Triumphaler Erfolg der Martin! Neuinszenierung des »Hamlet« am Staatstheater, sensationelle literarische Premiere am Schiffbauerdamm … Und er saß in der Provinz! Die Hauptstadt kam ohne ihn aus! Die Filmgesellschaften, die großen Theater – sie bedurften nicht seiner. Ihn rief man nicht. Seinen Namen kannte man nicht in Berlin. Wurde er einmal erwähnt, von dem Hamburger Korrespondenten eines Berliner Blattes, dann war er gewiß falsch geschrieben: »In der Rolle des unheimlichen Intriganten fiel ein Herr Henrik Höpfgen auf …« Ein Herr Henrik Höpfgen! Ihm sank die Stirn nach vorn. Die Sucht nach dem Ruhm – dem großen, eigentlichen Ruhm, dem Ruhm in der Kapitale – nagte an ihm wie ein physischer Schmerz. Hendrik griff sich an die Wange, als hätte er Zahnweh.

»Erster zu sein in Hamburg – das ist schon was Rechtes!« beklagte er sich bei Frau von Herzfeld, die sich nach dem Grund seines üblen Aussehens teilnahmsvoll erkundigt hatte und nun versuchte, ihn zu beruhigen mittels kluger Schmeicheleien. »Liebling eines provinziellen Publikums zu sein – ich bedanke mich schön. Lieber fange ich in Berlin noch mal von vorne an, als daß ich diesen kleinstädtischen Betrieb hier länger mitmache.«

Frau von Herzfeld erschrak. »Sie wollen doch nicht wirklich weg von hier, Hendrik?« Dabei öffnete sie klagend die goldbraunen, sanften Augen, und über die große Fläche ihres weichen, flaumig gepuderten Gesichtes lief ein Zucken.

»Es ist alles ganz unentschieden.« Hendrik blickte streng an Frau von Herzfeld vorbei und rückte enerviert die Schulter. »Zunächst gastiere ich einmal in Wien.« Er sagte es nachlässig, als erwähnte er eine Tatsache, welche Hedda längst bekannt sein mußte. Indessen hatte sie – so wenig wie irgend jemand sonst im Theater: so wenig wie Kroge, Ulrichs oder selbst Barbara – eine Ahnung davon gehabt, daß Hendrik in Wien gastieren wollte.

»Der Professor hat mich aufgefordert«, sagte er und putzte sein Monokel mit dem Seidentuch. »Eine ganz nette Rolle. Eigentlich wollte ich ablehnen, wegen der schlechten Saison: wer ist schon in Wien, jetzt im Juni? Aber schließlich habe ich mich doch entschlossen, anzunehmen. Man weiß ja nie, was für Folgen so ein Gastspiel beim Professor haben kann … Übrigens wird die Martin meine Partnerin sein«, bemerkte er noch, während er sich das Monokel wieder vors Auge klemmte.

»Der Professor« war jener Regisseur und Theaterleiter von legendärem Ruhm und ungeheurem internationalen Ansehen, der mehrere Theater in Berlin und Wien beherrschte. Wirklich hatte sein Sekretariat dem Schauspieler Höfgen eine mittlere Rolle in der Altwiener Posse angeboten, die der Professor während der Sommermonate mit Dora Martin in einem seiner Wiener Häuser spielen lassen wollte. Jedoch war diese Einladung keineswegs von selbst und ungefähr zustande gekommen; vielmehr hatte Höfgen einen Protektor gefunden, und zwar in der Person des Dramatikers Theophil Marder. Dieser war zwar mit dem Professor, wie mit aller Welt, bitterböse; der berühmte Regisseur aber bewahrte dem Satiriker, dessen Stücke er früher mit erheblichem Erfolg herausgebracht hatte, ein Wohlwollen, in dem Ironie und Respekt sich vermischten. Es geschah zuweilen, daß Marder den Theaterdirektionen in gereiztem und drohendem Ton eine junge Dame anpries, für die er sich interessierte; beinah nie aber kam es vor, daß er sich für einen Mann verwendete. Deshalb blieben die empfehlenden Worte, die er für Höfgen fand, nicht ohne Eindruck auf den Professor, wenngleich sie auch Beleidigungen gegen ihn selber enthielten. »Vom Theater verstehen Sie beinah ebensowenig wie von der Literatur«, schrieb Theophil dem Allmächtigen. »Ich prophezeie Ihnen, daß Sie als der Direktor eines Flohzirkus in Argentinien enden werden – denken Sie an mich, Herr Doktor, wenn es soweit ist. Das märchenhafte Glück indessen, welches ich mit meinem mir total hörigen jungen Weibe zu durchleben im Begriff bin, stimmt mich milde, sogar Ihnen gegenüber, der Sie meine genialen Stücke seit Jahren aus Niedertracht und Dummheit boykottieren. Sie wissen, daß in diesen erbärmlichen Läuften nur mir der untrügliche Blick für die echte künstlerische Qualität geblieben ist. Meine Großmut ist gesonnen, das kümmerliche Ensemble Ihrer – wie es sich gehört – schlecht gehenden Vergnügungsetablissements um eine Persönlichkeit zu bereichern, der ein originelles Gepräge nicht abzusprechen ist. Der Schauspieler Hendrik Höfgen machte sich in Hamburg verdient um meine klassische Komödie ›Knorke‹. Ohne Frage ist Herr Höfgen mehr wert als all Ihre übrigen Komödianten – wozu freilich wenig gehört.«

Der Professor lachte; wurde dann, einige Minuten lang, nachdenklich; spielte mit der Zunge in seinen Backen; klingelte schließlich und befahl seiner Sekretärin, sich mit Höfgen in Verbindung zu setzen. »Man kann es ja mal versuchen«, sagte der Professor langsam und knarrend.

Niemandem, auch Barbara nicht, gestand Hendrik, daß er des Professors ehrenvolles Angebot Theophil zu verdanken habe; niemand wußte, daß er mit dem Gatten Nicolettas in Beziehung stand. Hendrik behandelte die Angelegenheit seines Wiener Gastspiels – das er doch mit so viel Energie und List arrangiert und vorbereitet hatte – mit einer blasierten Nachlässigkeit. »Ich muß geschwind mal nach Wien reisen, beim Professor gastieren«, erklärte er nebenbei; lächelte aasig und bestellte sich beim besten Schneider einen Sommeranzug: Da er schon so viele Schulden hatte – bei Frau Konsul Mönkeberg, bei Väterchen Hansemann, beim Kolonialwaren- und beim Weinhändler – kam es auf vierhundert Mark mehr oder weniger nicht mehr an.

Hendrik hinterließ, bei seiner plötzlichen Abreise, manche bestürzten Gesichter in der guten Stadt Hamburg, wo sein Charme ihm so viele Herzen erobert hatte. Vielleicht bestürzter noch als die Damen Siebert und Herzfeld war der Direktor Schmitz: denn Höfgen hatte sich, unter allerlei koketten Ausflüchten, geweigert, seinen Vertrag mit dem Künstlertheater um die nächste Spielzeit zu verlängern. Schmitzens rosiges Gesicht wurde gelblich und zeigte plötzlich dicke Säcke unter den Augen, da Hendrik, so grausam wie gefallsüchtig, hartnäckig wiederholte: »Ich kann mich nicht binden, Väterchen Schmitz … Es ist mir ekelhaft, mich zu binden, meine Nerven vertragen es nicht … Vielleicht komme ich wieder, vielleicht auch nicht … Ich weiß es doch selber nicht. Väterchen Schmitz … Ich muß frei sein, verstehen Sie es doch bitte

Hendrik reiste nach Wien; Barbara fuhr inzwischen zu ihrem Vater und zur Generalin aufs Gut. Höfgen hatte es verstanden, aus dem Abschied von seiner jungen Frau eine schöne, wirkungsvolle Szene zu machen. »Wir werden uns im Herbst wiedersehen, mein Liebling«, sprach er und stand in einer Haltung, die zugleich Stolz und Demut ausdrückte, gesenkten Hauptes vor Barbara. »Wir werden uns wiedersehen, und dann bin ich vielleicht schon ein anderer als heute. Ich muß mich durchsetzen, ich muß … Und du weißt ja, mein Liebling, für wen ich ehrgeizig bin; du weißt es ja, vor wem ich mich bewähren möchte …« Seine Stimme, die sowohl sieghafte als auch klagende Töne hatte, verklang. Hendrik neigte sein ergriffenes, fahles Gesicht über Barbaras bräunliche Hand.

War diese Szene nur Komödie gewesen, oder hatte sie auch Echtes enthalten? Barbara sann darüber nach: auf den Spazierritten am Morgen, und nachmittags im Garten, wenn ihr das schwere Buch auf die Knie sank. Wo begann bei diesem Menschen das Falsche, und wo hörte es auf? So grübelte Barbara, und sie sprach darüber mit ihrem Vater, mit der Generalin, mit ihrem klugen und ergebenen Freund Sebastian. »Ich glaube ihn zu kennen«, sagte Sebastian. »Er lügt immer, und er lügt nie. Seine Falschheit ist seine Echtheit – es klingt kompliziert, aber es ist völlig einfach. Er glaubt alles, und er glaubt nichts. Er ist ein Schauspieler. Aber du bist noch nicht fertig mit ihm. Er beschäftigt dich noch. Noch immer bist du neugierig auf ihn. Du mußt noch bei ihm bleiben, Barbara.«

Das Wiener Publikum war begeistert von Dora Martin, die in der berühmten Posse abwechselnd als zartes Mädchen und als Schusterbub auf die Bühne kam. Sie verführte mit den rätselhaften, weit geöffneten Kinderaugen; mit den girrenden und heiseren Tönen ihrer Stimme. Sie zerdehnte eigensinnig die Vokale, steckte den Kopf zwischen die Schultern und bewegte sich auf eine Art, die zugleich zauberhaft schwerelos und befangen schien: halb einem eckig-mageren dreizehnjährigen Jungen ähnlich, halb einer lieblich scheuen Elfe, sprang und flatterte, schwebte und schlenderte sie über die Szene. Ihr Erfolg war so groß, daß kein anderer neben ihr aufkommen konnte. Die Zeitungskritiken – lange Hymnen auf ihr Genie – erwähnten ihre Partner nur flüchtig. Hendrik aber, der einen geckenhaft grotesken Kavalier zu geben hatte, wurde sogar getadelt. Man warf ihm Übertreibungen und Manieriertheit vor.

»Sie sind reingefallen, mein Lieber!« girrte die Martin und winkte ihm tückisch mit den Zeitungsausschnitten. »Das ist ein richtiger Mißerfolg. Und was das Schlimmste ist: Sie werden überall Henrik genannt – das ärgert Sie doch besonders. Tut mir so leid!« Sie versuchte, ein betrübtes Gesicht zu machen; aber ihre schönen Augen lächelten unter der hohen Stirn, die sie in ernste Falten legte. »Tut mir so leid, wirklich. Aber Sie sind ja auch miserabel in der Rolle«, sagte sie beinah zärtlich. »Vor lauter Nervosität zappeln Sie auf der Bühne wie ein Harlekin – tut mir ja so furchtbar leid. Natürlich merke ich trotzdem, daß Sie enorm viel Talent haben. Ich werde dem Professor sagen, daß er Sie in Berlin spielen lassen muß.«

Schon am nächsten Tage wurde Höfgen zum Professor befohlen. Der große Mann betrachtete ihn aus seinen nahe beieinanderliegenden, versonnenen und dabei scharfen Augen; ließ die Zunge in den Backen spielen; machte, die Arme auf dem Rücken verschränkt, große Schritte durchs Zimmer; brachte ein paar knarrende Laute hervor, die etwa wie: »Na – aha – das ist also dieser Höfgen …« klangen, und sagte schließlich – wobei er, den Kopf gesenkt, in napoleonischer Haltung vor seinem Schreibtisch stehenblieb: »Sie haben Freunde, Herr Höfgen. Einige Leute, die etwas vom Theater verstehen, weisen mich auf Sie hin. Dieser Marder zum Beispiel …« Dabei hatte er ein kurzes, knarrendes Lachen. »Ja, dieser Marder«, wiederholte er, schon wieder ernst; um dann, mit respektvoll hochgezogenen Brauen, hinzuzufügen: »Auch Ihr Herr Schwiegervater, der Geheimrat, hat mir von Ihnen gesprochen, als ich ihn neulich beim Kultusminister getroffen habe. Und nun auch noch Dora Martin …«

Der Professor versank wieder in Schweigen, das er einige Minuten lang nur ab und zu durch einen knarrenden Laut unterbrach. Höfgen wurde abwechselnd bleich und rot; das Lächeln auf seiner Miene verzerrte sich. Der nachdenkliche und kalte, zugleich verhangene und durchdringende Blick dieses fleischigen, untersetzten Herrn war nicht leicht zu ertragen. Hendrik begriff plötzlich, warum der Professor, der so gewaltig zu schauen verstand, von seinen Verehrern »der Magier« genannt wurde.

Schließlich unterbrach Höfgen das peinlich-stumme Examen, indem er mit seiner singenden Schmeichelstimme bemerkte: »Im Leben bin ich unscheinbar, Herr Professor. Aber auf der Bühne …« Hier richtete er sich auf, breitete überraschend die Arme und ließ die Stimme im Metallton leuchten. »Auf der Bühne kann ich ganz drollig wirken.« Diese Worte begleitete er mit dem aasigen Lächeln. Nicht ohne Feierlichkeit fügte er hinzu: »Für diese Wandlungsfähigkeit hat mein Schwiegervater einmal sehr hübsch charakterisierende Worte gefunden.«

Bei der Erwähnung des alten Bruckner zog der Professor respektvoll die Brauen hoch. Aber seine Stimme klang kalt, als er nach mehreren Sekunden bedeutungsvollen Schweigens sagte: »Na – man könnte es ja mal mit Ihnen versuchen …« Höfgen war freudig aufgefahren; der Professor winkte ernüchternd ab. »Erwarten Sie sich nicht zuviel«, sagte er ernst und prüfte Hendrik immer noch kalt mit den Augen. »Es ist kein großes Engagement, was ich Ihnen anbieten will. – In der Rolle, die Sie hier spielen, wirken Sie gar nicht drollig, sondern ziemlich miserabel.« Hendrik zuckte zusammen; der Professor lächelte ihm freundlich zu. »Ziemlich miserabel«, wiederholte er grausam. »Aber das schadet ja nichts. Man kann es trotzdem versuchen. Was die Gage betrifft …« Hier wurde des Professors Lächeln beinahe schelmisch, und seine Zunge spielte besonders eifrig im Munde. »Wahrscheinlich sind Sie, von Hamburg her, ein relativ anständiges Einkommen gewohnt. Sie werden sich bei uns zunächst mit weniger zufriedengeben müssen. – Sind Sie anspruchsvoll?« Der Professor erkundigte sich in einem Ton, als geschähe es nur aus theoretischem Interesse. Hendrik beeilte sich, zu versichern: »Mir liegt gar nichts am Geld. – Wirklich nicht«, sagte er mit der glaubwürdigsten Betonung; denn er sah den Professor eine skeptische Grimasse schneiden. »Ich bin nicht verwöhnt. Was ich brauche, das ist ein frisches Hemd und eine Flasche Eau de Cologne auf dem Nachttisch.« Der Professor lachte noch einmal kurz. Dann sagte er: »Die Details können Sie mit Katz besprechen. Ich werde ihn instruieren.«

 

Die Audienz war beendet, Höfgen wurde mit einer Handbewegung entlassen. »Grüßen Sie bitte Ihren Herrn Schwiegervater von mir«, sagte der Professor, während er schon wieder, die Hände auf dem Rücken verschränkt, klein und gedrungen, in napoleonischer Haltung über den dicken Teppich seines Zimmers schritt.

Herr Katz war der Generalsekretär des Professors; er leitete alles Geschäftliche in den Theatern des Meisters, sprach schon ebenso knarrend wie dieser und spielte wie dieser mit der Zunge in seinen Backen. Die Unterredung zwischen ihm und dem Schauspieler Höfgen fand noch im Lauf desselben Tages statt. Hendrik akzeptierte anstandslos einen Vertrag, den er dem Direktor Schmitz um die Ohren geschlagen haben würde: denn er war miserabel. Siebenhundert Mark Monatsgage – wovon noch die Steuern abgingen – und bestimmte Rollen waren ihm nicht garantiert. Mußte er sich dergleichen bieten lassen? Er mußte wohl, da er nach Berlin wollte und in Berlin unbekannt war. Noch einmal Anfänger sein! Es war nicht leicht und mußte ausgehalten werden. Opfer waren zu bringen, wenn man unbedingt nach oben wollte.

Hendrik schickte einen großen Strauß gelber Rosen an Dora Martin; den schönen Blumen – die er vom Hotelportier hatte bezahlen lassen – legte er einen Zettel bei, auf den er in großen, pathetisch eckigen Buchstaben das Wort »Danke« schrieb. Gleichzeitig verfaßte er einen Brief an die Direktoren Schmitz und Kroge: kurz und trocken setzte er den beiden Männern, denen er so vieles schuldig war, auseinander, daß er, zu seinem Bedauern, den Vertrag mit dem Künstlertheater nicht erneuern könne, da der Professor ihm ein glänzendes Angebot gemacht habe. Während er den Brief ins Kuvert steckte, stellte er sich einige Sekunden lang die bestürzten Mienen in dem Hamburger Büro vor. Beim Gedanken an den tränenfeuchten Blick der Frau von Herzfeld mußte er kichern. In sehr animierter Stimmung fuhr er ins Theater.

Er ließ sich in Dora Martins Garderobe melden, aber die Kammerfrau bedeutete ihm, daß ihre Herrin die Visite des Professors habe.

»Ich habe Ihnen also diesen sonderbaren Gefallen getan«, sagte der Professor und schaute sinnend auf Dora Martins Schultern, deren Magerkeit der Frisiermantel bedeckte. »Dieser Bursche ist engagiert – dieser – wie heißt er noch?«

»Höfgen«, lachte die Martin, »Hendrik Höfgen. Sie werden sich den Namen schon noch merken, mein Lieber.«

Der Professor zuckte hochmütig die Achseln, spielte mit der Zunge in den Backen und brachte knarrende Laute hervor. »Er gefällt mir nicht«, sagte er schließlich. »Ein Komödiant.«

»Seit wann haben Sie etwas gegen Komödianten?« Die Martin zeigte lächelnd ihre Zähne.

»Nur gegen schlechte Komödianten habe ich etwas.«

Der Professor schien ärgerlich. »Gegen Provinzkomödianten«, sagte er böse.

Die Martin war plötzlich ernst geworden; ihr Blick verdunkelte sich unter der hohen Stirn. »Er interessiert mich«, sagte sie leise. »Er ist ganz gewissenlos« – sie lächelte zärtlich – »ein ganz schlechter Mensch.« Sie dehnte sich, beinah wollüstig; dabei ließ sie das kindliche, gescheite Haupt in den Nacken sinken. »Wir könnten Überraschungen mit ihm erleben«, sagte sie schwärmerisch zur Decke hinauf.

Einige Sekunden später erhob sie sich hastig und scheuchte den Professor mit flatternden kleinen Gebärden zur Tür. »Es ist höchste Zeit!« machte sie lachend. »Hinaus! Schnell hinaus mit Ihnen! Ich muß mir meine Perücke aufsetzen.«

Der Professor, schon zum Ausgang gedrängt, fragte noch: »Darf man denn das nicht sehen – wie Sie Ihre Perücke aufsetzen? Nicht einmal das?!« fragte er und bekam gierige Augen.

»Nein, nein – ausgeschlossen!« Die Martin schüttelte sich vor Entsetzen. »Das kommt gar nicht in Frage! Mein Frisiermantel könnte mir von den Schultern rutschen …« Dabei hüllte sie sich enger in das bunte Tuch.

Die Stimme des Professors klang sehr gepreßt, als er »Schade!« sagte. Während der berühmte Hexenmeister – den fast alle Frauen seiner Umgebung durch ein gar zu eifriges Entgegenkommen langweilten – die Garderobe verließ, hatte er ein Gefühl, als würde sich Dora Martin, kaum allein gelassen, hinter seinem Rücken in eine Nixe verwandeln, in einen Kobold oder in ein anderes Geschöpf, welches so fremdartig war, daß niemand auch nur seinen Namen wußte. Die raffinierte und wunderliche Keuschheit der großen Schauspielerin hatte den Professor so nachdenklich gestimmt, daß er den kostümierten Gesellen zunächst gar nicht erkannte, der lächelnd einen bunten Federhut vor ihm zog. Erst nachträglich fiel ihm ein, daß es »dieser Höfgen« gewesen war, der ihn da mit einer so devoten Koketterie begrüßt hatte.

Die neue, überraschende Situation verjüngt Hendrik Höfgen. Hinter ihm liegt der provinzielle Ruhm, der bequem gemacht hat. Er ist wieder Anfänger, muß sich noch einmal bewähren. Um hinauf zu kommen – diesmal ganz hinauf – muß er alle seine Kräfte anspannen. Mit Genugtuung darf er feststellen: sie sind unverbraucht, seine Kräfte; sie sind einsatzbereit. Sein Körper strafft sich, beinah gänzlich ist das Fett verschwunden; die Bewegungen sind tänzerisch und kampfeslustig zugleich. Wer so zu lächeln versteht, wer so die Augen schillern lassen kann, der muß Erfolg haben. Schon enthält seine Stimme Jubel über Triumphe, die in Wirklichkeit noch gar nicht eingetroffen sind, jedoch nicht lange auf sich warten lassen können.

Mit einem sinnenden Interesse, in dem sich eine echte Anteilnahme mit einer kühlen und fremden Neugierde mischt, beobachtet Barbara diesen neuen Elan ihres Gatten. Halb spöttisch, halb bewundernd sieht sie Hendrik zu, der im wehenden Ledermantel und auf beschwingten Sandalen sich immer unterwegs, stets in Aktion und in der Nähe großer Entscheidungen zu befinden scheint. Barbara ist zu Hendrik zurückgekehrt, wie es ihr von ihrem Freund Sebastian prophezeit worden ist. Sie bereut es nicht. Der verwandelte, höchst gespannte Hendrik, mit dem sie nun zwei billige möblierte Zimmer bewohnt, gefällt ihr besser als der provinzielle Liebling, der schon Fett ansetzte, im H.K. Cercle hielt und in der gemütlichen Wohnung der Frau Konsul Mönkeberg den bürgerlichen Ehemann zu spielen versuchte. Barbara fühlt sich gar nicht so schlecht in den beiden finsteren Stuben, die sie jetzt mit ihrem Hendrik teilt. Sie liebt es, sich abends, nach der Vorstellung, mit ihm in einem trüben kleinen Café zu treffen, wo ein elektrisches Klavier durch das Halbdunkel klagt, wo die Kuchen aussehen wie aus Leim und Pappe und wo es keine Bekannten gibt.