Klaus Mann - Das literarische Werk

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»Gestern habe ich Sie im Wintergarten bewundert«, sagt Pierre Larue, nachdem er sich Höfgens Telefonnummer notiert hat. Und er wiederholt scherzhaft, aber klagenden Tones, den populären Refrain: »Es ist doch nicht zu schildern …« Danach hat er ein kleines Lachen, das klingt wie das Rascheln von Herbstwind in trockenem Laub. »Hahaha«, lacht Monsieur Larue; reibt sich die bleichen Knochenhändchen über der Brust gegeneinander und steckt sein Gesicht tief in den dicken, schwarzen Wollschal, den er, trotz der warmen Temperatur in diesen Räumen, über dem Smoking um den Hals geschlungen trägt.

Es ist doch nicht zu schildern – das hat die Welt noch nicht gesehen – das gibt’s nur einmal, das kommt nicht wieder! In Deutschland steht alles glänzend, besser könnte es gar nicht stehen, man darf sorglos und guter Dinge sein. Gibt es eine Krise? Gibt es Arbeitslose, gibt es politische Kämpfe? Gibt es eine Republik, der es nicht nur an Selbstachtung, sondern sogar an Selbsterhaltungstrieb fehlt und die sich vor der ganzen Welt verhöhnen läßt von ihrem frechsten und rohesten Feinde? Dieser wird ausgehalten und begünstigt von den reichen Leuten, die nur eine Angst kennen: Eine Regierung könnte es sich einfallen lassen, ihnen etwas Geld wegzunehmen. Gibt es Saalschlachten in Berlin und nächtliche Straßenkämpfe? Gibt es schon den Bürgerkrieg, der beinah täglich seine Opfer fordert? Wird schon Arbeitern von Burschen in brauner Uniform das Gesicht zertreten und der Kehlkopf durchgeschnitten, der große Volksverführer aber – Chef der »aufbauwilligen Elemente«, Liebling der Schwerindustriellen und der Generale – publiziert schamlos sein Glückwunschtelegramm an die viehischen Mörder? Schwört derselbe Hetzer, der die Nacht der langen Messer fordert und öffentlich gelobt, es würden Köpfe rollen, er wolle »nur auf legalem Wege« zur Macht kommen? Darf er es sich herausnehmen, darf er es wagen, täglich soviel Drohungen und Infamien in die Welt zu schreien mit seiner bellenden Stimme?

Es ist doch nicht zu schildern! Ministerien stürzen, werden neu gebildet und sind nicht klüger als vorher. Soll man denn ganz verwildern? Im Palais des ehrwürdigen Generalfeldmarschalls intrigieren die Großgrundbesitzer gegen eine zitternde Republik. Die Demokraten schwören, der Feind steht links. Polizeipräsidenten, die sich sozialistisch nennen, lassen auf Arbeiter schießen. Die bellende Stimme aber darf täglich ungestört dem »System« Strafgericht und blutigen Untergang verheißen.

Das hat die Welt noch nicht gesehen! Sieht es denn nicht der hochbezahlte Spaßmacher eben jenes Systems, gegen das die infame Kettenhundstimme ihre Verwünschungen schleudert? Fällt es denn dem Schauspieler Höfgen nicht auf, daß die Veranstaltungen, deren fragwürdiger Held er ist, im Grund makabren Charakters sind, und daß der Tanz, zu dessen beliebtesten Anführern er gehört, die grausige Tendenz zum Abgrund hat?

Hendrik Höfgen – Spezialist für elegante Schurken, Mörder im Frack, historische Intriganten – sieht nichts, hört nichts, merkt nichts. Er lebt gar nicht in der Stadt Berlin – so wenig, wie er jemals in der Stadt Hamburg gelebt hat; er kennt nichts als Bühnen, Filmateliers, Garderoben, ein paar Nachtlokale, ein paar Festsäle und versnobte Salons. Spürt er, daß die Jahreszeiten wechseln? Wird es ihm bewußt, daß die Jahre vergehen – die letzten Jahre dieser mit soviel Hoffnung begrüßten, nun so jammervoll verscheidenden Weimarer Republik: die Jahre 1930, 1931, 1932? Der Schauspieler Höfgen lebt von einer Premiere zur nächsten, von einem Film zum andern; er zählt »Aufnahmetage«, »Probentage«, aber er weiß kaum davon, daß der Schnee schmilzt, daß die Bäume und Gebüsche Knospen tragen oder Blätter, daß ein Wind die Düfte mit sich trägt, daß es Blumen gibt und Erde und fließendes Wasser. Eingesperrt in seinen Ehrgeiz wie in ein Gefängnis; unersättlich und unermüdlich; immer im Zustand höchster hysterischer Spannung, genießt und erleidet der Schauspieler Höfgen ein Schicksal, das ihm außerordentlich scheint, und das doch nichts ist als die vulgäre, schillernde Arabeske am Rande eines todgeweihten, dem Geist entfremdeten, der Katastrophe entgegentreibenden Betriebes.

Es ist doch nicht zu schildern – es ist doch überhaupt nicht aufzuzählen, was er alles treibt, durch wieviel verschiedenartige Einfälle und Überraschungen er das öffentliche Interesse auf sich lenkt. – Den Vertrag mit den Bühnen des Professors hat er, zum fassungslosen Kummer des Fräulein Bernhard, gelöst, um frei zu sein für all die verlockenden Chancen, die sich ihm bieten. Nun spielt und inszeniert er einmal hier, einmal dort – wenn die einträgliche Filmtätigkeit ihm Zeit für die Bühne übrig läßt. Auf der Leinwand oder auf der Bühne sieht man ihn in kleidsamer Apachentracht – rotes Halstuch zum schwarzen Hemd; das Haar einer blonden Perücke, die seine Miene noch verdächtiger wirken läßt, tief in die Stirn frisiert; im gestickten Kostüm des dandyhaften Rokokofürsten; im üppigen Gewand orientalischer Despoten; in der römischen Toga oder im Biedermeierrock; als preußischen König oder als degenerierten englischen Lord; im Golfanzug, im Pyjama, im Frack oder in der Husarenuniform. In der großen Operette singt er Albernheiten auf so klug pointierte Manier, daß die Dummen sie für geistreich halten; in klassischen Dramen bewegt er sich mit so eleganter Nachlässigkeit, daß die Werke Schillers oder Shakespeares wie amüsante Konversationsstücke wirken; aus mondänen Farcen, die in Budapest oder Paris nach billigen Rezepten hergestellt sind, zaubert er raffinierte kleine Effekte, die des Machwerks Nichtigkeit vergessen lassen. – Dieser Höfgen kann alles! Seine brillante, vor keiner Zumutung versagende Wandlungsfähigkeit scheint genialen Einschlag zu haben. Wollte man jede seiner Leistungen einzeln betrachten, so käme man wohl zu dem Resultat, daß keine von ihnen allerersten Ranges ist: als Regisseur wird Höfgen niemals den »Professor« erreichen; als Schauspieler kann er es mit seiner großen Konkurrentin Dora Martin nicht aufnehmen, die der erste Stern an einem Himmel bleibt, über den er sich als ein schillernder Komet bewegt. Es ist die Vielfalt seiner Leistungen, die seinen Ruhm ausmacht und immer wieder erneuert. Da gibt es nur eine Stimme im Publikum: Fabelhaft, was er alles fertigbringt! Und in gewählteren Ausdrücken wiederholt die Presse die gleiche Meinung.

Er ist der Liebling der links-bürgerlichen und linken Blätter – wie er der Favorit der großen jüdischen Salons ist und bleibt. Gerade der Umstand, daß er kein Jude ist, läßt ihn diesen Kreisen besonders schätzenswert erscheinen; denn die jüdische Berliner Elite »trägt blond«. – Die Zeitungen der radikalen Rechten, die täglich die Erneuerung deutscher Kultur durch die Rückkehr zum volkhaft Echten, zu Blut und Boden zornig propagieren, verhalten sich mißtrauisch und ablehnend gegen den Schauspieler Höfgen; er gilt ihnen als »Kulturbolschewist«. Daß die jüdischen Feuilletonredakteure ihn schätzen, macht ihn ebenso verdächtig wie seine Vorliebe für französische Stücke und die exzentrisch-volksfremde Mondänität seiner Erscheinung. Außerdem verfolgen ihn die nationalistischen Dramatiker mit ihrem Haß, weil ihre Stücke von ihm abgelehnt werden. Cäsar von Muck zum Beispiel, repräsentativer Dichter der aufstrebenden nationalsozialistischen Bewegung, in dessen Dramen erwürgte Juden und erschossene Franzosen die Pointen des Dialogs ersetzen – Cäsar von Muck, höchste Kapazität für kulturelle Fragen im Lager der dezidierten Kulturfeindlichkeit, schreibt über die Neuinszenierung einer Wagner-Oper, mit der Höfgen eben Sensation gemacht hat: Dies sei übelste Asphaltkunst, zersetzendes Experiment, durchaus jüdisch beeinflußt und freche Schändung deutschen Kulturgutes. »Der Zynismus des Herrn Höfgen kennt keine Grenzen«, schreibt Cäsar von Muck. »Um dem Kurfürstendammpublikum eine neue Unterhaltung zu bieten, wagt er sich an den ehrwürdigsten, größten der deutschen Meister – an Richard Wagner.« – Recht herzlich amüsiert Hendrik sich, gemeinsam mit ein paar radikalen Literaten, über diese Redensarten des Blut-und-Boden-Skribenten.

Höfgen hat seine Beziehungen zu kommunistischen oder halbkommunistischen Kreisen keineswegs aufgegeben; zuweilen bewirtet er in seiner Wohnung am Reichskanzlerplatz junge Schriftsteller oder Parteifunktionäre, denen er in immer neuen und immer effektvollen Redewendungen seinen unversöhnlichen Haß gegen den Kapitalismus und seine glühende Hoffnung auf die Weltrevolution versichert. Umgang mit den Revolutionären pflegt er nicht nur, weil er meint, diese könnten doch vielleicht einmal an die Macht kommen, und dann würden alle Diners sich reichlich bezahlt machen; sondern auch zur Beruhigung des eigenen Gewissens. Man ist anspruchsvoll und möchte doch mehr sein als nur ein gut verdienender Komödiant; man will nicht ganz aufgehen in einem Betrieb, den man im Grunde zu verachten behauptet, während man doch ganz in seinem Banne steht.

Hendrik schmeichelt sich, daß sein Leben Inhalte und Probleme habe, deren sich die Kollegen kaum rühmen können. Dora Martin zum Beispiel, diese großartige Dora Martin, die immer noch um eine entscheidende Nuance berühmter ist als er selbst: was mag schon vorgehen in ihrem Innern? Sie schläft ein mit dem Gedanken an ihre Gagen und erwacht mit Hoffnungen auf neue Filmverträge: So sagt sich Hendrik, der von Dora Martin nichts weiß. In seinem Innern aber begeben sich die originellsten Dinge.

Die Bindung an Juliette, das grausame Naturkind – sie ist mehr als nur sexuelle Angelegenheit, sondern kompliziert und geheimnisvoll – Hendrik legt Wert auf diesen interessanten Umstand. Manchmal glaubt er auch, daß seine Beziehung zu Barbara – Barbara, die er seinen guten Engel genannt hat – durchaus nicht abgeschlossen und zu Ende sei, sondern noch Wunder, Rätsel und Überraschungen bringen könne. Wenn er vor sich selbst die bedeutenden Faktoren seines Innenlebens Revue passieren läßt, vergißt er nie, Barbara – zu der er in Wahrheit den Kontakt mehr und mehr verliert – mit zu nennen.

 

Die wichtigste Nummer auf dieser Liste seiner außerordentlichen inneren Vorgänge bleibt jedoch die revolutionäre Gesinnung. Auf diese Rarität und Kostbarkeit, die ihn so vorteilhaft von den übrigen »Prominenten« des Berliner Theaterlebens unterscheidet, möchte er um keinen Preis verzichten. Deshalb pflegt er, eifrig und geschickt, die Freundschaft mit Otto Ulrichs, der seine Stellung am Hamburger Künstlertheater aufgegeben hat und im Norden Berlins ein politisches Kabarett leitet.

»Jetzt müssen alle unsere Kräfte der politischen Arbeit zur Verfügung gestellt werden«, erklärt Otto Ulrichs. »Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren. Der Tag der Entscheidung ist nahe.«

In seinem Kabarett, welches »Der Sturmvogel« heißt und durch die Schärfe wie durch die Qualität seiner Darbietungen Aufsehen nicht nur in den Proletariervierteln erregt, produzieren sich junge Arbeiter neben berühmten Schriftstellern und Schauspielern.

Hendrik glaubt es sich leisten zu können, in eigener Person auf der engen Bühne des »Sturmvogels« zu erscheinen. Anläßlich einer Feier, die Ulrichs zu Ehren eines Besuches von russischen Autoren veranstaltet, wird dem Publikum als besondere Attraktion der berühmte Höfgen vom Staatstheater angekündigt. Ehe Ulrichs aber ausreden kann, springt Höfgen, der seinen schlichtesten grauen Anzug angelegt hat und übrigens nicht im eigenen Mercedeswagen, sondern im Taxi vorgefahren ist, elastisch hinter der Kulisse hervor. »Nichts von Berühmtheit, nichts von Staatstheater!« ruft er mit der metallisch leuchtenden Stimme und reckt mit schöner Geste die Arme. »Ich bin euer Genosse Höfgen!« Ihm antwortet Jubel. Am nächsten Tag erklärt der streng marxistische Kritiker Doktor Erding im »Neuen Börsenblatt«, der Schauspieler Höfgen habe sich die Herzen der Berliner Arbeiterschaft mit einem Schlag erobert.

So bewegende Erlebnisse in den proletarischen Außenbezirken beschwichtigen sein Gewissen, das sonst dagegen rebellieren könnte, daß man im Westen nur mondäne Albernheiten inszeniert und spielt. Man gehört doch zur Avantgarde: nicht nur das eigene Bewußtsein sagt es einem; vielmehr bestätigen es auch die Literaten, die es wissen müssen – zum Beispiel Erding – und die Angriffe, mit denen so lächerliche Figuren wie Cäsar von Muck einen bedenken. Man gehört doch zur geistigen Vorhut! Die Neuinszenierungen der Wagner-Opern sind kühne Experimente – sehr verständlich, daß sie die ewig Rückständigen in Harnisch bringen. Auch von einem literarischen »Studio«, einer Serie modernster Kammerspielaufführungen ist wieder die Rede; zwar realisiert Hendrik den schönen Plan ebensowenig, wie er das Revolutionäre Theater in Hamburg realisiert hat; aber er spricht doch häufig und verlockend von ihm, so daß viele junge Schauspieler und Dichter sich jahrelang auf das Unternehmen herzlich freuen dürfen. – Man gehört zur revolutionären Elite, und man läßt es sich etwas kosten: Durch Vermittlung des Otto Ulrichs leitet Höfgen Summen, die nicht erheblich sind, aber doch freudig akzeptiert werden, an gewisse Organisationen der Kommunistischen Partei …

Wer wagt zu behaupten, er lebe ahnungslos und eitel in den Tag hinein? Seine intensive Anteilnahme an den großen Zielen und Problemen der Zeit ist bewiesen. Sehr mit Recht schaut Hendrik, seiner tadellos radikalen Gesinnung sich froh bewußt, verächtlich auf so unentschiedene Naturen, wie etwa Barbara eine ist – Barbara, die im Hause des Geheimrats oder auf dem Gute der Generalin ein müßiges und egoistisches Leben führt, eingesponnen in ihre abseitigen intellektuellen Spiele und Sorgen.

Was weiß Hendrik von den Sorgen oder Spielen Barbaras? Was weiß Hendrik überhaupt von Menschen? Ist er, was ihre Schicksale angeht, nicht ebenso ahnungslos wie in den Dingen öffentlichen Lebens? Hat er sich mit denen, die er so gern das »Zentrum seines Lebens« nennt, gründlicher und liebevoller beschäftigt als etwa mit dem kleinen Böck, der nun wirklich sein Diener ist, oder mit Monsieur Pierre Larue, der im Hotel Esplanade feine Abendessen für »mes jeunes camarades communistes« veranstaltet?

Kümmert Hendrik sich etwa um das innere Leben seiner Freundin Juliette? Er erwartet von ihr, daß sie immer grausam und guter Dinge sei. Sie bekommt reichlich Geld und darf die Peitsche schwingen: hat sie nicht allen Anlaß zur Zufriedenheit? Niemals denkt Höfgen darüber nach, was die dunklen Blicke meinen könnten, die das schwarze Mädchen jetzt so oft auf ihn richtet. Hat das fremde Kind vielleicht Heimweh nach den Küsten, aus deren schönerer Landschaft ein launisches Schicksal sie in eine fragwürdige Zivilisation verschlug? Beginnt sie vielleicht, in ihrem rätselvollen Herzen den fahlen, leidenssüchtigen Freund zu lieben, oder fängt sie an, ihn zu hassen? Hendrik weiß nichts davon. Für ihn ist Prinzessin Tebab die verführerische Barbarin, die schöne Wilde, an deren ungebrochener Kraft er sich erfrischt, indem er sich vor ihr erniedrigt.

Er ahnt von Juliette so wenig, wie er von Barbara weiß oder von seiner Mutter Bella. Nur flüchtig liest er die Briefe der armen Mama, der ihr Gatte Köbes und ihre Tochter Josy – zwei muntere und bedenklich leichtsinnige Geschöpfe – viel Sorgen bereiten. Vater Köbes ist geschäftlich nun total ruiniert. »Die Krise!« jammert brieflich Frau Bella. »Dein guter Vater gehört zu den zahlreichen Opfern der Krise.« All sein Hab und Gut wäre verpfändet worden, und bittere Schande hätte die Familie heimgesucht, wäre nicht Hendrik gewesen, der in allerletzter Stunde eine größere Summe telegraphisch überwiesen hat. Schwester Josy verlobt sich mindestens einmal jedes halbe Jahr; Frau Bella atmet erleichtert auf, wenn die Verbindungen, die stets irgendwie unglückseligen Charakters sind, wieder gelöst werden.

Einmal erscheint Nicoletta in Berlin; aber sie reist bald wieder ab, zurückgerufen von einem drohenden und klagenden Telegramm ihres Gatten Marder. »Ich bin sehr, sehr glücklich mit ihm«, erklärt Nicoletta und bemüht sich, die schönen Augen funkeln zu lassen wie einst. Aber dann stellt sich heraus, daß Marder seit zwei Jahren in einem Sanatorium lebt: Nicoletta hat ihre Zeit damit verbracht, ihn zu pflegen – sie lächelt sanft und innig, wenn sie von der kindlichen Dankbarkeit spricht, die der geniale Mann für sie hat. »Nun geht es ihm schon viel besser«, sagt sie hoffnungsvoll. »Wir können bald in den Süden ziehen, er braucht Sonne …«

Das »Lebenszentrum«, mit dem Hendrik prahlt: Nicoletta, die Liebende, besitzt es. Auch andere dürfen es ihr eigen nennen; so Ulrichs, der kämpferisch und geduldig auf »den Tag« wartet. »Er wird kommen!« verspricht der Gläubige sich und seinen gläubigen Freunden. – »Er wird kommen, der Tag!« verheißt auch dem jungen Hans Miklas die innere Stimme freudiger Gewißheit. Er meint den schönen Tag, da »der Führer« endlich an der Herrschaft sein wird: seine Feinde aber sind dann alle vernichtet. Vernichtet ist dann vor allem der ärgste und abscheulichste Feind – Höfgen. Der Sturz des Verhaßten, dessen Laufbahn Miklas aus der Ferne mit machtlosem Ingrimm verfolgt, soll das beglückendste Ereignis des »großen Tages« sein und ein Teil seines Sinnes.

Hans Miklas ist – wie Otto Ulrichs, sein politischer Feind – Schauspieler nur noch im Dienste der »großen Sache«, des umfassenden Ziels. Er arbeitet längst nicht mehr an Theatern, sondern nur noch mit den Jugendorganisationen der nationalsozialistischen Bewegung; seine Tätigkeit ist es, für Freilichtbühnen und Versammlungssäle Fest- und Werbespiele mit dem »Jungvolk« seines »Führers« einzustudieren: solche Beschäftigung befriedigt sein unwissendes und enthusiastisches Herz. Im Sprechchor brüllen die Burschen, daß sie siegreich die Franzosen schlagen und ihrem Führer stets die Treue wahren wollen; dies haben sie eingeübt unter der Regie des jungen Miklas, der jetzt viel gesünder und frischer aussieht als in der Hamburger Zeit – die schwarzen Löcher in seinen Wangen sind fast verschwunden.

Der Tag ist nahe: schwärmerischer Gedanke, der Hans Miklas und Otto Ulrichs beherrscht, ausfüllt, begeistert wie Millionen anderer junger Menschen. Auf welchen Tag aber wartet Hendrik Höfgen? Er wartet immer nur auf die neue Rolle. Seine große Rolle in der Saison 1932/33 wird der Mephisto sein: Hendrik spielt ihn in der neuen »Faust«-Inszenierung, die das Staatstheater zu Goethes 100. Todestag herausbringt.

Mephistopheles, »des Chaos wunderlicher Sohn«, große Rolle des Schauspielers Höfgen – für keine andere hat er jemals so viel Eifer aufgebracht. Der Mephisto soll sein Meisterstück sein. Schon die Maske ist sensationell: Hendrik macht aus dem Höllenfürsten den »Schalk« – eben jenen Schalk, als den der Herr des Himmels in seiner unermeßlichen Güte den Bösen begreift und ab und zu seines Umgangs würdigt, da er ihm am wenigsten zur Last ist von allen Geistern, die verneinen. Er spielt ihn als den tragischen Clown, als den diabolischen Pierrot. Der kahlgeschorene Schädel ist weiß gepudert wie das Gesicht; die Augenbrauen sind grotesk in die Höhe gezogen, der blutrote Mund zu einem starren Lächeln verlängert. Die breite Partie zwischen den Augen und den künstlich erhöhten Brauen schillert in hundert verschiedenen Farben; hier haben Fachleute die Gelegenheit, eine kosmetische Leistung von außergewöhnlichem Rang zu bewundern. Alle Töne des Regenbogens vermischen sich auf den Augenlidern Mephistos und auf den Bögen unter seinen Brauen: das Schwarz spielt ins Rot, das Rot ins Orangefarbene, ins Violette und Blaue; silberne Punkte leuchten dazwischen, ein wenig Gold ist klug und sinnig verteilt. Was für eine bewegte Farbenlandschaft über den verlockenden Edelsteinaugen dieses Satans!

Mit der Anmut des Tänzers gleitet Hendrik-Mephisto im eng anliegenden Kostüm aus schwarzer Seide über die Szene; mit einer spielerischen Akkuratesse, die verwirrt und verführt, kommen die verfänglichen Weisheiten, die dialektischen Scherze von seinem blutig gefärbten Munde, der immer lächelt. Wer zweifelt daran, daß der schaurig elegante Spaßmacher sich in einen Pudel zu verwandeln vermag, Wein aus dem Holz des Tisches zaubern kann und auf seinem gespreiteten Mantel durch die Lüfte fährt, wenn er irgend Lust dazu spürt? Diesem Mephisto wäre das Äußerste zuzutrauen. Alle im Saale fühlen: Er ist stark – stärker selbst als Gott der Herr, den er von Zeit zu Zeit gerne sieht und mit einer gewissen verächtlichen Courtoisie behandelt. Hat er nicht Grund genug, ein wenig auf Ihn herabzusehen? Er ist viel witziger, viel wissender, jedenfalls ist er sehr viel unglücklicher als jener – und vielleicht ist er stärker eben darum: weil er unglücklicher ist. Der riesenhafte Optimismus des erhabenen Alten, der von den Engeln sich selbst und die Schönheit Seiner Schöpfung im deklamatorischen »Wettgesang« lobpreisen läßt – die euphorische Gutmütigkeit des Allvaters wirkt beinahe naiv und ehrwürdig-senil neben der furchtbaren Melancholie, der eisigen Traurigkeit, in welche der satanisch gewordene Lieblingsengel, der Verfluchte und zum Abgrund Gefahrene zuweilen, zwischen all seinen fragwürdigen Munterkeiten, plötzlich verfällt. Welch ein Schauer geht durch das Auditorium des Berliner Staatstheaters, da Höfgen-Mephistopheles mit seinen grellen Lippen die Worte formt:

»… denn alles, was entsteht,

ist wert, daß es zugrunde geht;

drum besser wär’s, daß nichts entstünde.«

Nun bewegt er sich nicht mehr, der gar zu gewandte Harlekin. Nun steht er regungslos. Ist er vor Jammer erstarrt? Unter der bunten Landschaft aus Schminke haben seine Augen jetzt den tiefen Blick der Verzweiflung. Mögen die Engel frohlocken um Gottes Thron – sie wissen nichts von den Menschen. Der Teufel weiß von den Menschen, er ist eingeweiht in ihre argen Geheimnisse, ach, und der Schmerz über sie lähmt seine Glieder und läßt seine Miene versteinern zur Maske der Trostlosigkeit.

Nach der »Faust«-Premiere, die mit Ovationen endet, verschließt sich der Schauspieler Höfgen in seine Garderobe: er will niemanden sehen. Eine Besucherin aber wagt der kleine Böck nicht abzuweisen. Es kommt selten vor, daß Dora Martin sich Vorstellungen ansieht, in denen sie selbst nicht beschäftigt ist. Ihre Anwesenheit heute abend hat Aufsehen gemacht. Der kleine Böck verneigt sich tief vor ihr und öffnet die Tür zum Heiligtum: zu Hendrik Höfgens Garderobe.

Beide sehen überanstrengt aus, sowohl Höfgen als auch seine Kollegin und Konkurrentin: Er ist mitgenommen und erschöpft von den Ekstasen des Spiels, die hinter ihm liegen; sie von Sorgen, die ihm unbekannt sind.

»Es war gut«, sagt die Martin leise und sachlich; sie hat sich sofort auf einen Stuhl gesetzt, ehe er ihn ihr noch anbieten konnte. Auf dem schmalen Sessel kauert sie sich zusammen, ihr Gesicht, mit der hohen Stirn, den weiten, kindlich sinnenden Augen, steckt tief im Kragen des braunen Pelzes. »Es war gut, Hendrik. Ich wußte, daß Sie das können. Der Mephisto ist Ihre große Rolle.«

 

Höfgen, der am Schminktisch sitzend ihr den Rücken wendet, lächelt ihr durch den Spiegel zu. »Sie sagen das nicht ohne Bosheit, Dora Martin.«

Sie erwidert, immer noch mit dem ruhigen, sachlichen Ton: »Sie irren sich, Hendrik. Ich nehme es niemandem übel, daß er ist, wie er ist.«

Nun wendet Hendrik ihr sein Gesicht zu, von dem er die Teufelsbrauen und die Farbenpracht auf den Lidern entfernt hat. »Danke, daß Sie heute abend gekommen sind«, sagt er weich und läßt die Augen schimmern.

Aber sie winkt ab, fast verächtlich, als wolle sie sagen: Lassen wir doch nun diese Scherze! – Er scheint ihre Geste zu übersehen und erkundigt sich zärtlich: »Was sind Ihre nächsten Pläne, Dora Martin?«

»Ich habe Englisch gelernt«, antwortet sie.

Er macht ein erstauntes Gesicht. »Englisch? Wieso das? Warum gerade Englisch?«

»Weil ich in Amerika Theater spielen werde«, sagt Dora Martin, ohne den ruhigen, prüfenden Blick von ihm zu wenden.

Da er immer noch den Verständnislosen spielt und wissen will, wieso und warum gerade in Amerika, spricht sie mit einer gewissen Ungeduld: »Weil hier Schluß ist, mein Lieber. Ist Ihnen das noch nicht aufgefallen?«

Da ereifert er sich. »Aber was reden Sie, Dora Martin! Für Sie wird sich doch nichts verändern! Ihre Position ist doch unerschütterlich! Sie werden doch geliebt – wirklich geliebt von so vielen Tausenden! Keiner von uns – Sie wissen es doch – keiner von uns empfängt so viel Liebe wie Sie!«

Hier wird ihr Lächeln so traurig und höhnisch, daß er verstummt. »Die Liebe von vielen Tausenden!« sagt sie, beinah tonlos vor Verachtung. Dann zuckt sie die Achseln. Und, nach einem Schweigen, an Hendrik vorbei, ins Leere: »Man wird andere Lieblinge finden.«

Er schwatzt aufgeregt weiter. »Aber die Theater machen doch Geschäfte! Das Theater wird die Leute immer interessieren, was sonst auch in Deutschland geschieht.«

»Was sonst auch in Deutschland geschieht«, wiederholt Dora Martin leise und steht plötzlich auf. »Ja, dann wünsche ich Ihnen also alles Gute, Hendrik«, sagt sie schnell. »Man wird sich lange nicht sehen. Ich reise schon dieser Tage.«

»Schon dieser Tage?« erkundigt er sich verwirrt; und sie erwidert, den dunklen Blick in die Ferne gerichtet: »Es hat keinen Sinn, noch zu warten. Ich habe hier nichts mehr zu suchen.« Nach einer Pause fügt sie hinzu: »Aber Ihnen wird es schon gut gehen, Hendrik Höfgen – was sonst auch in Deutschland geschieht.«

Ihr Gesicht unter der rötlichen Fülle des Haares – ein etwas zu großes Gesicht für den schmalen und kleinen Körper – hat Züge von Stolz und Gram, während sie langsam auf die Tür zugeht und Hendrik Höfgens Garderobe verläßt.