Klaus Mann - Das literarische Werk

Текст
Автор:
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

7
Der Pakt mit dem Teufel

Wehe, der Himmel über diesem Lande ist finster geworden. Gott hat sein Antlitz weggewendet von diesem Lande, ein Strom von Blut und Tränen ergießt sich durch die Straßen aller seiner Städte.

Wehe, dieses Land ist beschmutzt, und niemand weiß, wann es wieder rein werden darf – durch welche Buße und durch welch gewaltigen Beitrag zum Glück der Menschheit wird es sich entsühnen können von so riesiger Schande? Mit dem Blut und den Tränen spritzt der Dreck von allen Straßen aller seiner Städte. Was schön gewesen ist, wurde besudelt, was wahr gewesen ist, wurde niedergeschrien von der Lüge.

Die dreckige Lüge maßt sich die Macht an in diesem Lande. Sie brüllt in den Versammlungssälen, aus den Lautsprechern, aus den Spalten der Zeitungen, von der Filmleinwand. Sie reißt das Maul auf, und aus ihrem Rachen kommt ein Gestank wie von Eiter und Pestilenz: der vertreibt viele Menschen aus diesem Lande, wenn sie aber gezwungen sind zu bleiben, dann ist das Land ein Gefängnis für sie geworden – ein Kerker, in dem es stinkt.

Wehe, die apokalyptischen Reiter sind unterwegs, hier haben sie sich niedergelassen und aufgerichtet ein gräßliches Regiment. Von hier aus wollen sie die Welt erobern: denn dahin geht ihre Absicht. Sie wollen herrschen über die Länder und über die Meere auch. Überall soll ihre Mißgestalt verehrt und angebetet werden. Ihre Häßlichkeit soll bewundert sein als die neue Schönheit. Wo man heute noch über sie lacht, soll man morgen vor ihnen auf dem Bauche liegen. Sie sind entschlossen, die Welt anzufallen mit ihrem Krieg, um sie dann demütigen und verderben zu können – so wie sie heute schon das Land, das sie beherrschen, demütigen und verderben: unser Vaterland, über dem der Himmel finster geworden ist und von dem Gott sein Antlitz zürnend weggewendet hat. Es ist Nacht in unserem Vaterlande. Die schlechten Herren reisen durch seine Gaue – in großen Automobilen, in Flugzeugen oder in Extrazügen. Sie reisen eifrig umher. Auf allen Marktplätzen plappern sie ihren Schwindel. An jedem Orte, wo sie oder ihre Helfer erscheinen, erlischt das Licht der Vernunft, und es wird finster.

Der Schauspieler Hendrik Höfgen befand sich in Spanien, als, dank den Intrigen im Palais des ehrwürdigen Reichspräsidenten und Generalfeldmarschalls, jener Mann mit der bellenden Stimme, den Hans Miklas und mit ihm eine große Anzahl unwissender und verzweifelter Menschen ihren »Führer« nannten, Reichskanzler wurde. Der Schauspieler Hendrik Höfgen spielte den eleganten Hochstapler in einem Detektivfilm, zu dem die Außenaufnahmen in der Nähe von Madrid gedreht wurden. Nach einem anstrengenden Tage kam er abends müde ins Hotel zurück, kaufte sich beim Concierge Zeitungen und erschrak. Wie – der großsprecherische Geselle, über den man sich so häufig lustig gemacht hatte im Kreise geistvoller und fortschrittlich gesinnter Genossen – er sollte nun plötzlich der mächtigste Mann im Staate sein?! ›Das ist ja scheußlich‹, dachte der Schauspieler Höfgen. ›Eine scheußliche Überraschung! Und ich war fest davon überzeugt gewesen, diese Nazis brauchte man nicht ernst zu nehmen! So ein Reinfall!‹

Er stand in seinem schönen, beigefarbenen Frühlingsanzug in der Halle des Hotel Ritz, wo ein internationales Publikum die unheilschwangeren deutschen Vorkommnisse und die Reaktion der Börse auf sie besprach. Dem armen Hendrik wurde es heiß und kalt, wenn er bedachte, was ihm nun bevorstehen mochte. Zahlreiche Personen, denen er immer nur Böses angetan, würden jetzt vielleicht die Möglichkeit haben, sich an ihm zu rächen. Cäsar von Muck zum Beispiel: Ach, hätte er sich doch nur ein wenig besser mit dem Blut-und-Boden-Dichter gestellt, anstatt alle seine Stücke abzulehnen! Was für unverzeihliche Fehler hatte man gemacht – nun begriff man es, und es war zu spät. Es war zu spät, man hatte bei den Nazis lauter unversöhnliche Feinde. Sogar an den kleinen Hans Miklas mußte der erschütterte Hendrik denken – was hätte er nun drum gegeben, jenen unseligen Zwischenfall im Hamburger Künstlertheater ungeschehen machen zu können! Welche Bagatelle war denn damals der Anlaß gewesen für einen Zank, der sich nachträglich als so beklagenswert herausstellte? Eine Aktrice namens Lotte Lindenthal: sehr wohl möglich, daß selbst aus dieser plötzlich eine Person geworden war, die im entscheidenden Grade nützen oder schaden konnte …

Mit wankenden Knien betrat Hendrik den Lift. Eine Verabredung, die er für den Abend mit einigen Kollegen getroffen hatte, sagte er ab. Er ließ sich das Diner auf seinem Zimmer servieren. Nachdem er eine halbe Flasche Champagner getrunken hatte, wurde seine Stimmung etwas zuversichtlicher. Man mußte kühl und gefaßt bleiben, sich vor Panikstimmungen hüten. Dieser sogenannte »Führer« war also Reichskanzler – schlimm genug. Immerhin war er noch nicht Diktator und würde es aller Wahrscheinlichkeit nach niemals werden. ›Die Leute, die ihn an die Macht geholt haben, diese Deutschnationalen, werden schon dafür sorgen, daß er ihnen nicht gar zu sehr über den Kopf wächst‹, dachte Hendrik. Dann fielen ihm auch die großen Oppositionsparteien ein, die doch schließlich noch existierten. Die Sozialdemokraten und die Kommunisten würden Widerstand leisten – vielleicht bewaffneten Widerstand – so beschloß Hendrik Höfgen in seinem Hotelzimmer und bei seiner halben Flasche Sekt, nicht ohne lustvolles Gruseln. Nein, bis zur nationalsozialistischen Diktatur war es noch weit! Vielleicht würde die Situation sogar überraschend schnell umschlagen: der Versuch, das deutsche Volk dem Faschismus auszuliefern, konnte enden mit der sozialistischen Revolution. Dergleichen war sehr wohl möglich, und dann würde sich herausstellen, daß der Schauspieler Höfgen ungemein schlau und weitblickend spekuliert hatte. – Angenommen aber sogar, die Nazis blieben an der Regierung: Was hatte er, Höfgen, schließlich von ihnen zu fürchten? Er gehörte keiner Partei an, er war kein Jude. Vor allem dieser Umstand – daß er kein Jude war – erschien Hendrik mit einemmal ungeheuer tröstlich und bedeutungsvoll. Was für ein unverhoffter und bedeutender Vorteil, man hatte es früher gar nicht so recht bedacht! Er war kein Jude, also konnte ihm alles verziehen werden, selbst die Tatsache, daß er sich im Kabarett »Sturmvogel« als »Genosse« hatte feiern lassen. Er war ein blonder Rheinländer. Auch sein Vater Köbes war ein blonder Rheinländer gewesen, ehe die finanziellen Sorgen ihn grau werden ließen. Und seine Mutter Bella wie seine Schwester Josy waren einwandfrei blonde Rheinländerinnen.

»Ich bin ein blonder Rheinländer«, trällerte Hendrik Höfgen, vom Sektgenuß wie vom Resultat seiner Überlegungen erheitert, und er ging guter Dinge zu Bett.

Am nächsten Morgen freilich war ihm wieder viel beklommener zumute. Wie würden die Kollegen ihn behandeln, die ihrerseits nie im »Sturmvogel« aufgetreten und die vom Dichter Muck niemals als »Kulturbolschewisten« bezeichnet worden waren? Wirklich schien ihm, daß sie sich etwas frostig gegen ihn zeigten, als man gemeinsam zu den Außenaufnahmen fuhr. Nur der jüdische Komiker begann eine längere Unterhaltung mit ihm, was eher als ein besorgniserregendes Zeichen zu nehmen war. Da Hendrik sich isoliert und schon ein wenig als Märtyrer fühlte, wurde er trotzig und unbeherrscht. Dem Komiker gegenüber gab er der Meinung Ausdruck, daß die Nazis sehr bald abgewirtschaftet und sich lächerlich gemacht haben würden. Der kleine Humorist aber sagte ängstlich: »Ach nein – wenn die erst einmal dran sind, dann bleiben sie lange. Gebe Gott, daß sie ein bißchen Vernunft annehmen und etwas Nachsicht üben gegen unsereinen. Wenn man sich ganz still verhält, kann einem ja wohl nicht viel passieren«, hoffte der Drollige, und Hendrik hoffte es im Grund mit ihm, war jedoch zu stolz, es auszusprechen.

Schlechtes Wetter hinderte die deutsche Schauspielertruppe mehrere Tage lang, Aufnahmen im Freien zu machen; man war genötigt, bis zum Ende des Februars in Madrid zu bleiben. Die Nachrichten, die aus der Heimat kamen, waren widerspruchsvoll und erregend. Außer jedem Zweifel schien zu sein, daß Berlin sich in einem wahren Delirium der Begeisterung für den nationalsozialistischen Reichskanzler befand. Ganz anders standen die Dinge – wenn man den Berichten der Zeitungen und den privaten Informationen glauben durfte – in Süddeutschland und besonders in München. Man wollte wissen, daß die Lostrennung Bayerns vom Reich und die Ausrufung der Wittelsbacher-Monarchie zu erwarten sei. Vielleicht waren aber das nur hohle Gerüchte oder doch Übertreibungen tendenziöser Natur. Jedenfalls tat man besser daran, sich auf sie nicht gar zu fest zu verlassen und die Sympathie mit der neuen Macht demonstrativ zu betonen. So hielten es denn auch die deutschen Schauspieler, die in Madrid versammelt waren, um einen Detektivfilm zu drehen. Der jugendliche Liebhaber – ein schöner Mann mit einem langen, slawisch lautenden Namen – prahlte plötzlich damit, daß er schon seit Jahren Mitglied der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei sei, was er bis dahin konsequent verschwiegen hatte; seine Partnerin, deren weiche, dunkle Augen und sanft gebogene Nase zu Zweifeln an ihrer germanischen Reinrassigkeit berechtigten, gab zu verstehen, daß sie mit einem hohen Funktionär derselben Partei so gut wie verlobt sei; den jüdischen Komiker aber sah man immer bedrückter werden.

Höfgen seinerseits hatte sich zu der einfachsten und wirkungsvollsten Taktik entschlossen: er hüllte sich in ein geheimnisvolles Schweigen. Niemand sollte ahnen, wieviel Sorgen er zu verbergen hatte. Denn die Mitteilungen, die er von Fräulein Bernhard und anderen Ergebenen aus Berlin erhielt, waren niederschmetternd. Rose schrieb, man müsse auf das Schlimmste gefaßt sein. Sie erging sich in finsteren Andeutungen über »schwarze Listen«, die von den Nazis schon seit Jahren geführt wurden, und auf denen weder Geheimrat Bruckner noch der Professor noch Hendrik Höfgen fehlten. Der Professor befand sich in London und gedachte, vorläufig nicht nach Berlin zurückzukehren. Fräulein Bernhard legte ihrem Hendrik nahe, sich auch seinerseits zunächst fernzuhalten von der deutschen Hauptstadt – ihm lief es eiskalt über den Rücken, als er es las. Gerade noch war er einer der Feinsten gewesen, und nun sollte er plötzlich ein Verbannter sein! Es fiel ihm nicht leicht, vor den argwöhnischen Kollegen eine kühle Miene zu wahren und bei den Aufnahmen so flott und »aasig« zu sein, wie man es von ihm erwartete.

 

Als die Truppe sich zur Heimreise anschickte und selbst der jüdische Komiker mit besorgter Miene seine Koffer packte, behauptete Hendrik, wichtige Besprechungen in Filmangelegenheiten riefen ihn nach Paris. Sein Gedanke war: Ich muß Zeit gewinnen. Es dürfte kaum ratsam sein, sich gerade jetzt in Berlin zu zeigen. In einigen Wochen hat man sich wahrscheinlich beruhigt …

Hingegen standen die fulminanten Überraschungen erst bevor. Als Höfgen in Paris eintraf, war das erste, was er erfuhr, die Nachricht vom Brande des deutschen Reichstags. Hendrik, durch seine langjährige Tätigkeit als Schurkenspieler geübt im Erraten krimineller Zusammenhänge und nicht ohne natürlichen Instinkt für die niedrigen Kombinationen der Unterwelt, begriff sofort, wer diese provokatorische Untat ersonnen und ausgeführt hatte: die ruchlose und dabei infantile Schlauheit der Nazis hatte sich ja eben an jenen Filmen und Theaterstücken geübt und entzündet, in denen Hendrik die Hauptrollen zu spielen pflegte. Höfgen konnte sich nicht verbergen, daß sich in den Schauer, den er über den rohen Trick dieser Brandstiftung empfand, ein anderes Gefühl mischte, welches Behagen und beinahe Wollust war. Die verderbte Phantasie von Abenteurern entschloß sich zu dem frechen, leicht durchschaubaren Betrug, der nur deshalb Erfolg haben konnte, weil in Deutschland selber niemand mehr wagen durfte, die Stimme gegen ihn zu erheben, und weil die übrige Welt, auf ihre eigene Ruhe mehr bedacht als auf die Sittlichkeit europäischen Lebens, nicht geneigt schien, sich in die unheimlichen Affären dieses verdächtigen Reiches zu mischen.

›Wie stark das Böse ist!‹ dachte der Schauspieler Höfgen unter ehrfürchtigen Schauern. ›Was es sich alles leisten und ungestraft herausnehmen darf! – Es geht in der Welt wirklich zu wie in den Filmen und Stücken, deren Held ich so häufig gewesen bin.‹ Dies war für den Augenblick das kühnste, was er zu denken wagte. Aber ahnungsweise und ohne es sich noch eingestehen zu wollen, empfand er zum ersten Male einen geheimnisvollen Zusammenhang zwischen dem eigenen Wesen und jener anrüchigen, verderbten Sphäre, in der vulgäre Schurkenstreiche wie diese Brandstiftung ersonnen und ausgeführt wurden.

Zunächst freilich war Hendrik kaum geneigt, über die Psychologie der deutschen Missetäter und über das, was ihn etwa mit diesen Unterwelt-Typen verbinden mochte, lange nachzugrübeln; er hatte Anlaß, sich über die nächste Zukunft ernste Sorgen zu machen. Nach dem Reichstagsbrand waren in Berlin mehrere Personen verhaftet worden, mit denen er auf vertrautem Fuße gestanden hatte, darunter auch Otto Ulrichs. Rose Bernhard hatte ihren Posten an den Kurfürstendamm-Bühnen verlassen und war überstürzt nach Wien abgereist. Von dort aus beschwor sie brieflich ihren Freund Höfgen, er solle unter keinen Umständen deutschen Boden betreten. »Dein Leben wäre gefährdet!« So alarmierend schrieb Rose aus dem Hotel Bristol in Wien.

Hendrik meinte, dies dürfe er für romantische Übertreibung halten. Trotzdem war er beunruhigt. Von Tag zu Tag verschob er seine Abreise. Unbeschäftigt und nervös schlenderte er durch die Pariser Straßen. Er kannte die Stadt nicht, war aber keineswegs in der Stimmung, sich jetzt an ihrem Zauber zu erfreuen oder ihn auch nur zu bemerken.

Das waren bittere Wochen, die bittersten vielleicht, die er jemals durchgemacht hatte. Er sah keinen Menschen. Zwar wußte er, daß einige seiner Bekannten in Paris eingetroffen waren, aber er wagte es nicht, sich mit ihnen in Verbindung zu setzen. Was gab es zu sprechen zwischen ihm und jenen? Sie würden ihn enervieren mit pathetischen Ausbrüchen des Entsetzens über die deutschen Geschehnisse – die in der Tat immer toller, immer grauenerregender wurden. Gewiß hatten diese Leute schon alle Brücken abgebrochen zu einer Heimat, deren Tyrannen sie so unversöhnlich haßten. Sie waren schon Emigranten. ›Bin auch ich einer?‹ – mußte Hendrik Höfgen sich angstvoll fragen. Aber alles in ihm wehrte sich dagegen, dies zuzugeben.

Andererseits begann in den vielen einsamen Stunden, die er in seinem Hotelzimmer, auf den Brücken, Straßen, in den Cafés der Stadt Paris verbrachte, ein dunkler Trotz in ihm zu wachsen – ein guter Trotz, das beste Gefühl, das er jemals aufgebracht hatte. ›Habe ich es nötig, das Mordgesindel um Verzeihung anzubetteln?‹ dachte er dann. ›Bin ich denn auf sie angewiesen? Hat mein Name nicht schon internationalen Klang? Ich könnte mich überall durchbringen – es würde wohl nicht ganz leicht sein, aber es müßte gehen. Welche Erleichterung, ja, welche Erlösung würde es bedeuten: stolz und freiwillig sich zurückzuziehen von einem Lande, wo die Luft verpestet ist; mit lauter Stimme die Solidarität zu erklären mit jenen, die kämpfen wollen gegen das blutbefleckte Regime! Wie rein würde ich mich fühlen dürfen, könnte ich mich durchringen zu solchem Entschluß! Was für einen neuen Sinn, welch neue Würde bekäme mein Leben!‹

Mit diesen Stimmungen, die sehr heftig und auf eine düstere Art genußreich waren, aber nie lange standhielten, stellte sich regelmäßig das Bedürfnis ein, Barbara wiederzusehen und lange mit ihr zu sprechen – Barbara, die er seinen guten Engel genannt hatte: Wie dringend brauchte er sie gerade jetzt! Aber er war seit Monaten ohne Nachricht von ihr, er wußte gar nicht, wo sie sich befand. ›Wahrscheinlich sitzt sie auf dem Gute der Generalin und kümmert sich um nichts!‹ dachte er bitter. ›Ich habe es ihr ja vorausgesagt, sie werde noch dem faschistischen Terror interessante Seiten abgewinnen. So mußte es kommen: Ich bin der Märtyrer, ich irre durch die Straßen dieser fremden Stadt; sie aber plaudert vielleicht gerade mit einem von diesen Mördern und Folterknechten, wie sie mit Hans Miklas zu plaudern pflegte …‹

Da seine Einsamkeit anfing, ihm unerträglich zu werden, spielte er mit dem Gedanken, Prinzessin Tebab aus Berlin nach Paris kommen zu lassen. Welche Erfrischung und Kräftigung würde es sein, ihr grollendes Lachen wieder zu hören, ihre starke Hand, deren Haut sich rauh anfühlte wie die Rinde eines Baumes, wieder zu berühren! Deutschland den Rücken kehren und ein neues, wildes Leben mit Prinzessin Tebab beginnen: ach, wie schön und richtig wäre dies! Konnte es denn nicht sein? War es nicht im Bereich des Möglichen? Man brauchte nur nach Berlin zu telegraphieren, und am nächsten Tage würde die Schwarze Venus eintreffen, mit ihren grünen Schaftstiefeln und der roten geflochtenen Peitsche im Koffer. Hendrik hatte süße und rebellische Träume, in deren Mittelpunkt Prinzessin Tebab stand. In krassen und erregenden Farben malte er sich das Leben aus, das er gemeinsam mit ihr führen würde. Man könnte damit beginnen, als Tanzpaar in Paris, London oder New York sein Brot zu verdienen: Hendrik und Juliette, die zwei besten Step-Tänzer der Welt. Beim Tanzen jedoch würde es wahrscheinlich nicht bleiben. Hendrik erwog kühnere Möglichkeiten. Aus dem Tanzpaar könnte ein Hochstaplerpaar werden – wie lustig würde es sein, die Rolle des mondänen Kriminellen, die man so oft in Filmen oder Theaterstücken verkörpert hatte, auch einmal in der Wirklichkeit zu spielen, mit allen Gefahren, allen Konsequenzen! Seite an Seite mit dieser herrlichen Wilden, eine verhaßte Gesellschaft, die nun im Faschismus ihr wahres, greuliches Gesicht enthüllte, zu betrügen und zu brüskieren – was für eine bezaubernde Vorstellung! Mehrere Tage lang war Hendrik ganz besessen von ihr. Vielleicht hätte er wirklich den ersten Schritt zu ihrer Realisierung getan und der dunklen Fürstentochter depeschiert – wenn nicht eine Nachricht bei ihm eingetroffen wäre, durch die seine Situation mit einem Schlage verändert wurde.

Der bedeutungsvolle Brief war von der kleinen Angelika Siebert – wer hätte gedacht, daß gerade sie, die von Hendrik stets grausam-hochmütig übersehen worden war, noch einmal eine so entscheidende Funktion in seinem Leben haben sollte! Wie lange hatte Höfgen nicht an die kleine Siebert gedacht, und da er nun versuchte, sich ihr Antlitz vorzustellen – dieses liebenswürdige und ängstliche Gesichtchen eines dreizehnjährigen Buben, mit den kurzsichtig zusammengekniffenen, hellen Augen – kam ihm vor, als ob es immer tränenüberströmt gewesen wäre. Hatte die kleine Angelika nicht beinah unaufhörlich geweint? Und hatte man ihr nicht recht häufig Anlaß zum Weinen gegeben? Hendrik erinnerte sich sehr wohl, wie gemein er sie meistens behandelt hatte … Ihr eigensinnig-zärtliches Herz aber war ihm, trotz allem, treu geblieben. Darüber war Hendrik verwundert. Aus guten Gründen – indem er nämlich von sich auf die anderen schloß – rechnete er stets mit der selbstsüchtigen Infamie seiner Mitmenschen. Die gute Handlung, die brave und zärtliche Tat machte ihn fassungslos. In seinem öden Hotelzimmer, dessen Wände und Möbel er schon so gut kannte, daß er sie zu hassen und zu fürchten begann, mußte er weinen, als er den Brief Angelikas gelesen hatte. Nicht nur Nervosität und Überreiztheit ließen ihn schluchzen, sondern auch eine echte Rührung machte ihm die Augen naß. Welche Seligkeit, welche Entschädigung für so viel Erlittenes wäre es für die kleine Angelika gewesen, hätte sie sehen dürfen, daß er, um dessentwillen sie unendliche Tränen vergossen hatte, nun seinerseits weinte, und daß es schließlich doch noch ihre Liebe war, die seine kostbaren, gefährlichen und kalten Augen füllte mit den salzigen Tropfen.

Angelika berichtete in ihrem Brief, daß sie in Berlin sei, ein bißchen filmen dürfe, und daß es ihr leidlich gut gehe. Ein erfolgreicher junger Regisseur habe es sich in den Kopf gesetzt, sie zu heiraten. »Aber natürlich denke ich nicht daran«, schrieb sie, und Hendrik mußte lächeln, als er es las: Ja, so war sie – spröde und ablehnend gegen Werbungen und Angebote, mochten sie noch so verlockend sein; eigensinnig versessen auf das Unerreichbare, und ihr Gefühl immer dorthin verschwendend, wo es übersehen und mißachtet wurde. – Bei den Aufnahmen zu einem großen Biedermeier-Lustspiel hatte sie die Bekanntschaft der Aktrice Lindenthal gemacht – ebenjener Dame, die in Jena erste Sentimentale, gleichzeitig aber die Freundin eines nationalsozialistischen Fliegeroffiziers gewesen war. Hendrik, der die deutschen Ereignisse mit Gier und Haß in den Zeitungen verfolgte, wußte, daß der Fliegeroffizier zu den Mächtigsten des neuen Reiches gehörte. Also war auch Lotte Lindenthal eine einflußreiche Person geworden. Bei ihr hatte sich Angelika Siebert mit Erfolg für Hendrik verwendet.

In schwärmerischen Tönen schilderte der Brief den überlegenen Charme, die Klugheit, Sanftmut und Würde der Lindenthal. Man durfte – nach Angelikas Meinung – sicher sein, daß diese herzensgute und liebliche Dame ihren mächtigen Freund in jeder Hinsicht auf das günstigste beeinflussen werde. Sie tat es jetzt schon, besonders in allen Dingen, die das Theater betrafen. Der große Mann hatte ein huldvolles Interesse für Schauspiel, Operette und Oper. Seine Geliebten – oder die Damen, denen seine besondere Verehrung galt – waren meist Bühnenkünstlerinnen vom üppigen und sentimentalen Typ. Ihnen tat er gerne jeglichen Gefallen, solange es sich um nichts Ernsthaftes handelte, sondern nur um heitere Nebensächlichkeiten, wie etwa um die Karriere eines Schauspielers. – Lotte Lindenthal war von der kleinen Siebert darauf aufmerksam gemacht worden, daß Hendrik Höfgen in Paris sitze und sich nicht nach Deutschland traue. Hierüber hatte die Favoritin des Gewaltigen gutmütig lachen müssen. Was fürchtete dieser Mensch? – wollte sie wissen und machte naive Augen. Höfgen war doch kein Jude, vielmehr ein blonder Rheinländer, und einer Partei hatte er niemals angehört. Übrigens war er ein bedeutender Künstler – Fräulein Lindenthal hatte ihn als Mephisto gesehen. »Leute wie ihn können wir gar nicht entbehren«, sagte die kostbare Frau, und sie versprach, noch am gleichen Tage mit ihrem mächtigen Freund über den Fall zu reden. »Männe ist doch durch und durch liberal«, versicherte die erste Sentimentale aus Jena, die es wissen mußte – und alle Anwesenden spürten einen ehrfürchtigen Schauer, weil sie sich dazu herbeiließ, von dem gefürchteten Riesen auf so traulich-intime Art zu reden. »Er ist auch gar nicht nachträgerisch. Mag dieser Höfgen sich früher allerlei Extravaganzen und kleine Torheiten geleistet haben – für so was bringt Männe Verständnis auf, wenn es sich um einen Künstler von Qualität handelt. Hauptsache ist schließlich der gute Kern«, sprach Lotte ein wenig sinnlos, aber mit herzhafter Betonung. Und sie tat, wie sie verheißen hatte. Als der Mächtige seine Abendvisite machte, bettelte sie: »Männe, sei lieb!« Sie habe sich’s nun mal in den Kopf gesetzt: in dem Lustspiel, mit dem sie am Berliner Staatstheater debütieren solle, müsse Hendrik Höfgen ihr Partner sein. »Keiner eignet sich so für die Rolle wie er«, schwatzte die Sentimentale. »Schließlich liegt doch auch dir daran, daß ich einen netten Partner habe, wenn ich das erste Mal hintrete vor die Berliner Volksgenossen!« Der General erkundigte sich, ob Höfgen ein Jude sei. Da er erfuhr, daß es sich, ganz im Gegenteil, um einen garantiert blonden Rheinländer handelte, versprach er, »diesem Burschen« solle nichts geschehen, was immer er auch früher angestellt haben mochte.

 

Vom freundlichen Verlauf ihrer Unterredung mit Männe machte die Lindenthal ihrer kleinen Kollegin, der Siebert, sofort Mitteilung, und diese wieder konnte es kaum erwarten, Hendrik von der schönen Wendung der Dinge zu unterrichten.

So war die trübe Leidenszeit in Paris beendet! Keine einsamen Spaziergänge mehr, den Boulevard St. Michel hinunter, am Seine-Ufer oder durch die Champs-Élysées, für deren Schönheit man so blind gewesen war. Hatte Hendrik Höfgen jemals kühnen und rebellischen Träumen in einem öden Hotelzimmer nachgehangen? Hatte er irgendwann das heftige und auf eine düstere Art genußvolle Bedürfnis gespürt, sich zu reinigen, sich zu befreien, aufzubrechen zu einem neuen und wilden Leben? Er wußte es schon nicht mehr; während er die Koffer packte, war es vergessen. Trällernd vor Vergnügen und sehr in Versuchung, jähe Luftsprünge zu machen, eilte er zum Reisebüro Thomas Cook and Son bei der Madeleine, um sich die Schlafwagenkarte für den Zug nach Berlin zu bestellen.

Beim Rückweg zu seinem Hotel, das in der Nähe des Boulevard Montparnasse lag, kam Hendrik am Café du Dome vorüber. Das Wetter war milde, viele Leute saßen im Freien, die Tische und Stühle waren, unter einem leichten Zeltdach, bis weit auf das Trottoir hinausgerückt. Hendrik, dem vom Gehen warm geworden war, hatte Lust, sich hier für eine Viertelstunde niederzulassen und ein Glas Orangensaft zu trinken. Er blieb stehen; aber während er einen hochmütigen Blick über die schwatzende Menge gleiten ließ, überlegte er es sich anders. Sein Gedanke war: ›Wer weiß, was für Leute man hier treffen könnte. Vielleicht sind alte Bekannte darunter, die ich lieber vermeide. Ist dieses Café du Dome nicht ein Treffpunkt der Emigranten? Nein, nein, es ist wohl besser, weiterzugehen.‹ Er war schon im Begriff, sich abzuwenden, als sein Blick an einer Gruppe von Personen hängenblieb, die schweigend an einem der runden kleinen Tische saß. Hendrik fuhr zusammen. Er erschrak so sehr, daß er einen Stich in der Magengegend empfand und sich einige Sekunden lang nicht bewegen konnte.

Zuerst erkannte er Frau von Herzfeld; dann erst bemerkte er, daß neben ihr Barbara saß. Barbara war in Paris, sie war die ganze Zeit in seiner Nähe gewesen, er hatte Sehnsucht nach ihr gehabt, er hatte sie gebraucht wie noch nie, und sie hatte in derselben Stadt, im selben Viertel wie er, vielleicht nur ein paar Häuser entfernt von ihm, gewohnt! Barbara hatte Deutschland verlassen, und da saß sie auf der Terrasse des Café du Dôme, da saß sie neben Hedda von Herzfeld, mit der sie doch in Hamburg keineswegs befreundet gewesen war. Nun aber hatten besondere und harte Umstände diese beiden zueinander geführt … Sie saßen an einem Tisch. Beide schweigend, beide mit dem gleichen schwermütig sinnenden und tiefen Blick, der an den Gegenständen vorbei ins Ferne zu gehen schien.

›Wie blaß Barbara aussieht!‹ dachte Hendrik, dem zumute war, als säßen die Personen ihm gegenüber gar nicht in Wirklichkeit hier, sondern wären das Produkt seines erregten Hirnes, existierten nur in seiner Vorstellung und als eine Vision. Wenn sie lebten, warum bewegten sie sich dann nicht? Warum saßen sie so stumm und regungslos und hatten so traurige Augen?

Barbara hielt ihr schmales und bleiches Gesicht in die Hand gestützt. Zwischen ihren dunklen, zusammengezogenen Brauen trat ein Zug hervor, den Hendrik früher nicht an ihr bemerkt hatte: er mochte vom angestrengten, erbitterten Nachdenken kommen und gab ihrem Gesicht einen grüblerischen, beinah zornigen Ausdruck. Sie trug einen grauen Regenmantel, zwischen dessen hochgeschlagenem Kragen ein grellroter Schal sichtbar wurde. Durch diese Tracht wie durch die leidvoll gespannte Miene bekam ihre Erscheinung etwas Wildes und beinahe Fürchterliches.

Bleich war auch Frau von Herzfeld; aber auf der breiten und weichen Fläche ihres Gesichtes fehlte der drohende Zug, es zeigte nur sanfte Betrübtheit. Außer Barbara und Hedda gab es an dem Tisch noch ein Mädchen, das Hendrik nie gesehen hatte, und zwei junge Männer, von denen der eine Sebastian war: Höfgen erkannte ihn an der vorgestreckten Haltung des Kopfes, an den verschleierten, weich und nachdenklich schauenden Augen und an der Strähne aschblonden Haars, das ihm auf die gesenkte Stirn fiel. Hendrik wollte etwas rufen, wollte grüßen, sein spontanes Bedürfnis war, Barbara zu umarmen, mit ihr zu sprechen – über alles mit ihr zu sprechen, wie er es sich so oft gewünscht und vorgestellt hatte in all den einsamen Tagen. In seinem Kopf aber jagten sich die Überlegungen. ›Wie werden sie mich empfangen? Man wird Fragen an mich richten – wie könnte ich sie beantworten? Hier, in meiner Brusttasche, habe ich die Schlafwagenkarte nach Berlin, durch die Vermittlung von zwei blonden, freundlichen Damen bin ich schon so gut wie ausgesöhnt mit dem Regime, das diese Menschen da vertrieben hat und dem ich, Barbara gegenüber, so oft unversöhnliche Feindschaft geschworen habe. Was für ein verächtliches Lächeln würde dieser Sebastian mir zeigen! Und wie könnte ich Barbaras Blick ertragen, ihren dunklen, spöttischen, unbarmherzigen Blick? … Ich muß fliehen – keiner von ihnen scheint mich bisher bemerkt zu haben, sie schauen ja alle auf eine so sonderbare Art ins Leere. Ich muß machen, daß ich davonkomme, diese Begegnung ginge über meine Kräfte …‹

Die am Tisch rührten sich immer noch nicht, sie schienen durch Hendrik Höfgen hindurchzuschauen wie durch Luft. Sie saßen unbeweglich, als hätte ein großer Schmerz sie versteinert, während Hendrik davoneilte, mit kleinen und steifen Schritten, so wie jemand geht, der sich in großer Angst von einer Gefahr entfernen, aber doch verbergen möchte, daß er flieht.

Nach der ersten Probe sagte Lotte Lindenthal zu Höfgen: »Es ist ein Jammer, daß der General jetzt gerade so ungeheuer beschäftigt ist. Wenn er es irgend einrichten könnte, würde er sicher einmal auf die Probe kommen und uns ein bißchen bei der Arbeit zuschauen. Sie können sich gar nicht vorstellen, was für glänzende Ratschläge er uns Schauspielern manchmal gibt. Ich glaube, er versteht vom Theater ebensoviel wie von seinen Flugzeugen – und das will etwas heißen!«

Hendrik konnte es sich vorstellen, und er nickte respektvoll. Dann fragte er Fräulein Lindenthal, ob er sie in seinem Wagen nach Hause bringen dürfe. Sie gestattete es mit einem huldvollen Lächeln. Während er ihr den Arm bot, sagte er leise: »Es bedeutet eine so große, große Freude für mich, mit Ihnen spielen zu dürfen. In den letzten Jahren habe ich gar zu viel unter den Manieriertheiten meiner Partnerinnen zu leiden gehabt. Dora Martin hat die deutschen Schauspielerinnen durch das schlechte Beispiel ihres krampfhaften Stils verdorben – das war ja kein Theaterspielen mehr, sondern hysterisches Gemauschel. Und nun höre ich von Ihnen wieder einen klaren, einfachen, seelenvollen und warmen Ton!«