Klaus Mann - Das literarische Werk

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Sie schaute ihn dankbar an aus ihren etwas hervortretenden, veilchenblauen und dummen Augen. »Ich bin so froh, daß Sie mir das sagen«, flüsterte sie und drückte seinen Arm ein wenig fester an ihren. »Denn ich weiß, daß Sie mir nicht schmeicheln. Ein Mensch, der seinen Beruf so heilig ernst nimmt wie Sie, schmeichelt nicht in künstlerischen Dingen.«

Hendrik seinerseits entsetzte sich geradezu bei dem Gedanken, daß er geschmeichelt haben könnte. »Aber ich bitte Sie!« Er legte die Hand aufs Herz. »Ich – und schmeicheln! Meine Freunde pflegen mir vorzuwerfen, daß ich den Menschen gar zu gerne unangenehme Wahrheiten ins Gesicht sage.« Die Lindenthal freute sich, dies zu hören. »Ich mag aufrichtige Menschen gut leiden«, erklärte sie schlicht. – »Schade, daß wir schon da sind«, sagte Hendrik, der seinen Wagen vor einem stillen, eleganten Haus in der Tiergartenstraße halten ließ; denn hier wohnte Lotte Lindenthal. Er beugte sich über ihre Hand, um sie zu küssen, wobei er den grauledernen Handschuh ein wenig zurückstreifte, auf daß er mit seinen Lippen ihre milchig weiße Haut berühren könne. Sie schien diese kleine Keckheit zu übersehen oder doch jedenfalls nicht zu mißbilligen, ihr Lächeln blieb strahlend. »Tausend Dank dafür, daß ich Sie begleiten durfte!« sprach er, über ihre Hand geneigt. Während sie auf die Tür ihres Hauses zuging, dachte er: ›Wenn sie sich noch einmal umdreht, dann wird alles gut. Wenn sie aber gar winkt, dann ist es ein Triumph, und ich kann es weit bringen.‹ – Sie überquerte in aufrechter Haltung die Straße. Als sie vor der Haustür angekommen war, wendete sie den Kopf, zeigte eine verklärte Miene, und – welche Wonne! – sie hob winkend die Hand. Hendrik spürte einen Glücksschauer; denn Lotte Lindenthal rief schalkhaft: »Ta-taa!« Das war mehr, als er zu hoffen gewagt hatte. Mit einem großen Seufzer der Erleichterung lehnte er sich zurück in die Lederpolster seines Mercedes-Wagens.

Hendrik hatte es gewußt, ehe er noch in Berlin angekommen war: Ohne die Protektion der Lindenthal war er verloren. Die kleine Angelika, die ihn an der Bahn abholte, hätte ihn nicht noch eigens darauf hinweisen müssen, ihm war die Situation ohnedies klar. Er hatte furchtbare Feinde, unter ihnen so einflußreiche wie den Dichter Cäsar von Muck, den der Propagandaminister zum Intendanten des Staatstheaters gemacht hatte. Der Dramatiker hatte Höfgen, von dem seine Stücke immer abgelehnt waren, einen eisigen Empfang bereitet. Sein Gesicht mit den Stahlaugen und dem verkniffenen Mund hatte den Ausdruck unnahbarer Strenge und Würde gehabt, während er sagte: »Ich weiß nicht, ob Sie sich wieder bei uns einleben werden, Herr Höfgen. Hier herrscht nun ein anderer Geist als der, den Sie in diesem Hause gewöhnt waren. Mit dem Kulturbolschewismus ist Schluß.« Hierbei reckte der Dichter des »Tannenberg«-Dramas sich drohend. »In den Stücken Ihres Freundes Marder oder in den bei Ihnen so beliebten französischen Farcen werden Sie nicht mehr Gelegenheit haben aufzutreten. Jetzt wird hier weder semitische noch gallische, sondern deutsche Kunst gemacht. Sie werden zu beweisen haben, Herr Höfgen, ob Sie dazu imstande sind, uns bei so erhabener Arbeit behilflich zu sein. Mir schien, offen gesagt, kein besonderer Anlaß zu bestehen, Sie aus Paris wieder hierherzurufen.« Bei dem Wort »Paris« ließ Cäsar von Muck die Augen erschreckend blitzen. »Aber Fräulein Lindenthal wünscht Sie als Partner in dem kleinen Lustspiel, mit dem sie hier debütiert.« Dies sagte Muck etwas wegwerfend. »Ich wollte nicht ungefällig gegen die Dame sein«, fuhr er mit einer falschen Biederkeit fort und schloß hochmütig: »Übrigens bin ich davon überzeugt, daß Ihnen die Rolle des eleganten Hausfreundes und Verführers keinerlei Schwierigkeiten bereiten wird.« Mit einer militärisch knappen Geste schloß der Intendant die Unterredung.

Dies war ein beängstigender Anfang – um so beängstigender für Hendrik, wenn er bedachte, daß hinter dem rachsüchtigen und arrivierten Poeten die Person des Propagandaministers stand. Dieser war in kulturellen Dingen beinah allmächtig, und er wäre es ganz gewesen, hätte es sich der zum preußischen Ministerpräsidenten avancierte Fliegeroffizier nicht in den Kopf gesetzt, auch sein Wörtchen mitzureden, was die Staatstheater betraf. An diesen war der Dicke, schon Lottens wegen, stark interessiert. So kam es zu Kompetenzstreitigkeiten zwischen den zwei Gewaltigen – dem Herrn der Propaganda und dem Herrn der Flugzeuge. Hendrik hatte noch keinen von den beiden Halbgöttern mit eigenen Augen gesehen; aber er wußte, daß er die Feindschaft des einen nur dann eine Zeitlang würde aushalten können, wenn er der Protektion des anderen sicher war. Der Weg zum Ministerpräsidenten ging über die Schauspielerin. Hendrik mußte Lotte Lindenthal gewinnen.

In den ersten Wochen seines neuen Berliner Aufenthalts hatte er keinen anderen Gedanken im Kopf als nur diesen: Lotte Lindenthal muß mich lieben. Juwelenaugen und aasigem Lächeln hat noch keine widerstehen können, und schließlich ist auch sie nur ein Mensch. Diesmal geht es ums Ganze, ich muß alle meine Künste spielen lassen – Lotte soll erobert werden wie eine Festung. Mag sie hochbusig und kuhäugig sein, mag sie noch so provinziell und hausbacken aussehen mit ihrem Doppelkinn und ihren blonden Dauerwellen: für mich ist sie begehrenswerter als eine Göttin.

Und Hendrik kämpfte. Er war blind und taub für alles, was um ihn herum geschah, sein Wille, seine Intelligenz waren konzentriert auf das eine Ziel: die Kaptivierung der blonden Lotte. Nur für sie hatte er Augen, alle anderen übersah er. Die kleine Angelika war gründlich im Irrtum gewesen, wenn sie geglaubt hatte, Höfgen würde sie nun, aus Dankbarkeit, einer gewissen Aufmerksamkeit würdigen. Nur in den ersten Stunden nach seiner Ankunft war er nett zu ihr. Kaum aber, daß sie ihn der Lindenthal vorgestellt hatte, schien Angelika nicht mehr für ihn zu existieren. Sie mußte sich ausweinen bei ihrem Filmregisseur, Hendrik aber ging auf sein Ziel los, es hieß Lotte.

Bemerkte er, wie die Straßen von Berlin sich verändert hatten? Sah er die braunen und die schwarzen Uniformen, die Hakenkreuzfahnen, die marschierende Jugend? Hörte er die kriegerischen Lieder, die auf den Straßen, aus den Radioapparaten, von der Filmleinwand klangen? Achtete er auf die Führerreden mit ihren Drohungen und Prahlereien? Las er die Zeitungen, die beschönigten, verschwiegen, logen und doch genug des Entsetzlichen verrieten? Kümmerte er sich um das Schicksal der Menschen, die er früher seine Freunde genannt hatte? Er wußte nicht einmal, wo sie sich befanden. Vielleicht saßen sie an irgendeinem Caféhaustisch in Prag, Zürich oder Paris, vielleicht wurden sie in einem Konzentrationslager geschunden, vielleicht hielten sie sich in einer Berliner Dachkammer oder in einem Keller versteckt. Hendrik legte keinen Wert darauf, über diese düsteren Einzelheiten unterrichtet zu sein. ›Ich kann ihnen doch nicht helfen‹ – dies war die Formel, mit der er jeden Gedanken an die Leidenden von sich wies. ›Ich bin selbst in ständiger Gefahr – wer weiß, ob nicht Cäsar von Muck morgen schon meine Verhaftung durchsetzen wird. Erst wenn ich meinerseits definitiv gerettet bin, werde ich anderen vielleicht nützlich sein können!‹

Nur widerwillig und mit einem Ohr hörte Hendrik zu, als man ihm von den Gerüchten Mitteilung machte, die über das Schicksal Otto Ulrichs’ im Umlauf waren. Der kommunistische Schauspieler und Agitator, der sofort nach dem Reichstagsbrand verhaftet worden war, habe mehrere jener grauenhaften Prozeduren, die man »Verhöre« nannte und die in Wahrheit unbarmherzige Folterungen waren, auszustehen gehabt. »Das hat mir jemand erzählt, der im Columbiahaus in der Zelle neben Ulrichs untergebracht war.« So berichtete mit angstvoll gedämpfter Stimme der Theaterkritiker Erding, der bis zum 30. Januar 1933 zur radikalen Linken gehört hatte und aggressiver Vorkämpfer einer streng marxistischen, nur dem Klassenkampf dienenden Literatur gewesen war. Nun stand er im Begriff, seinen Frieden mit dem neuen Regime zu machen. Wie sehr hatten alle Schriftsteller, die einer bürgerlich-liberalen oder gar einer nationalistischen Gesinnung verdächtig waren, einst vor Doktor Erding gezittert! Er, der wachsamste und unnachsichtigste Priester einer marxistischen Orthodoxie, hatte sie mit dem großen Bannspruch belegt, hatte sie verdammt und vernichtet, indem er sie als ästhetizistische Söldlinge des Kapitalismus denunzierte. Der »rote Literaturpapst« war nicht geneigt gewesen, zu nuancieren und feine Unterscheidungen zu treffen, seine Meinung war: Wer nicht für mich ist, ist gegen mich, wer nicht nach den Rezepten schreibt, die ich für die gültigen halte, der ist ein Bluthund, ein Feind des Proletariats, ein Faschist – und wenn er es noch nicht weiß, dann wird er es von mir, dem Feuilletonchef des »Neuen Börsenblattes«, erfahren.

Doktor Erdings kategorische Urteile wurden von allen, die sich zur linken Avantgarde rechneten, heilig ernst genommen, obwohl sie in den Spalten einer schwer kapitalistischen Zeitung erschienen. Denn zu jener Zeit liebten es die Börsenblätter, sich den Scherz eines marxistischen Feuilletons zu leisten – es gab eine pikante Note und konnte niemanden ernstlich stören. Des Lebens Ernst herrschte erst im Handelsteil. Unter dem Strich – wohin kein seriöser Geschäftsmann jemals schaute – durfte ein »roter Papst« sich austoben.

Doktor Erding hatte sich jahrelang ausgetobt und war zu einer der entscheidenden Instanzen in allen Dingen marxistischer Kunstbetrachtung geworden. Als die Nationalsozialisten die Macht übernahmen, legte der jüdische Chefredakteur des »Neuen Börsenblattes« sein Amt nieder. Doktor Erding aber durfte bleiben, da er nachweisen konnte, daß alle seine Ahnen, väterlicher- wie mütterlicherseits, »arisch« waren, und daß er niemals einer der sozialistischen Parteien angehört hatte. Ohne lange zu zaudern, verpflichtete er sich, das Feuilleton des »Neuen Börsenblattes« von nun ab im selben streng nationalen Geiste zu redigieren, der jetzt die Spalten des politischen Teils erfüllte und noch bis in die »Gemischten Nachrichten aus aller Welt« spürbar war. »Gegen die Bürger und Demokraten bin ich ja sowieso immer gewesen«, sprach Doktor Erding schlau. Wirklich konnte er, wie bisher, weiter gegen den »reaktionären Liberalismus« wettern – nur das Vorzeichen seiner antiliberalen Gesinnung hatte sich geändert.

 

»Scheußlich, diese Geschichte mit Otto«, sagte der wackere Doktor Erding und sah kummervoll aus. Er hatte das revolutionäre Kabarett »Sturmvogel« in vielen Artikeln als das einzige theatralische Unternehmen der Hauptstadt, das Zukunft habe und überhaupt der Beachtung wert sei, bezeichnet. Ulrichs hatte zum intimsten Kreise des berühmten Kritikers gehört. »Scheußlich, scheußlich«, murmelte der Doktor und nahm nervös seine Hornbrille ab, um ihre Gläser zu putzen.

Auch Höfgen war der Ansicht, daß es scheußlich sei. Sonst hatten sich die beiden Herren nicht viel zu sagen. Sie fühlten sich nicht recht wohl, der eine in der Gesellschaft des andern. Als Ort ihres Zusammentreffens hatten sie ein abgelegenes, wenig besuchtes Café gewählt. Sie waren beide kompromittiert durch ihre Vergangenheit, beide standen vielleicht immer noch im Verdacht einer oppositionellen Gesinnung, und es könnte fast wie eine Verschwörung wirken, sähe man sie zusammen.

Sie schwiegen und schauten sinnend ins Leere, der eine durch seine Hornbrille, der andere durch sein Monokel. »Ich kann natürlich im Augenblick gar nichts für den armen Kerl tun«, ließ Höfgen sich endlich vernehmen. Erding, der dasselbe hatte sagen wollen, nickte. Dann schwiegen sie wieder. Höfgen spielte mit seiner Zigarettenspitze. Erding räusperte sich. Vielleicht schämten sie sich voreinander. Der eine wußte, was der andere dachte. Höfgen dachte von Erding wie Erding von Höfgen: ›Ja, ja, mein Lieber, du bist ein genauso großer Schuft wie ich selber.‹ Diesen Gedanken errieten sie, einer aus den Augen des andern. Deshalb schämten sie sich.

Da das Schweigen unerträglich wurde, stand Höfgen auf. »Man muß Geduld haben«, sagte er leise und zeigte dem revolutionären Kritiker sein fahles Gouvernantengesicht. »Es ist nicht leicht, aber man muß Geduld haben. Leben Sie wohl, lieber Freund.«

Hendrik hatte allen Grund zur Zufriedenheit: Lotte Lindenthals Lächeln wurde immer süßer, immer vielversprechender. Wenn sie eine intime Szene miteinander probierten – und die Komödie »Das Herz« bestand fast nur aus intimen Szenen zwischen der Gattin eines großen Geschäftsmannes, die Lottens Rolle war, und dem galanten Hausfreund, den Hendrik darstellte – dann geschah es wohl, daß sie ihren Busen seufzend an den Partner drückte und feuchte Blicke warf. Höfgen seinerseits blieb von einer Zurückhaltung, die melancholisch-disziplinierten Charakter hatte und hinter der sich fiebernde Begehrlichkeit zu verbergen schien. Er behandelte Fräulein Lindenthal mit fein akzentuierter Reserviertheit, meistens nannte er sie »Gnädige Frau«, in seltenen Augenblicken »Frau Lotte«, und nur während der Arbeit, im Eifer des gemeinsamen Probierens ließ er sich einmal zum vertraulich-kollegialen Du hinreißen. Seine Augen aber schienen immer sagen zu wollen: Ach, wenn ich nur könnte, wie ich möchte! Wie würde ich dich umfangen, du Süße! Wie würde ich dich pressen, du Holde! Zu meinem Leidwesen muß ich mich bezwingen, aus Loyalität gegen einen deutschen Helden, der dich die Seine nennt … Solche zugleich brünstigen und männlich-gefaßten Gedanken verrieten die schönen Augen des Schauspielers Höfgen. In Wirklichkeit dachte er nur: ›Warum – um Gottes willen, warum hat sich der Ministerpräsident, der doch jede haben könnte, gerade die ausgesucht?! Sie mag ja eine ganz brave Person und eine vortreffliche Hausfrau sein, aber sie ist doch schrecklich dick und dabei so lächerlich affektiert. Eine schlechte Schauspielerin ist sie übrigens auch …‹

Auf den Proben hatte er zuweilen große Lust, die Lindenthal anzuschreien. Jeder anderen Kollegin hätte er ins Gesicht gesagt: Was Sie da machen, meine Gute, ist schlimmstes Provinztheater. Daß Sie eine feine Dame spielen, ist kein Anlaß, mit einer so hohen, verstellten Stimme zu sprechen und auf so groteske Art ständig den kleinen Finger wegzustrecken, wie Sie das zu tun belieben. Feine Damen haben längst nicht immer diese Gewohnheit. Und wo steht geschrieben, daß die Gattin eines großen Geschäftsmannes, wenn sie mit ihrem Hausfreund flirtet, die Ellenbogen vom Körper entfernt halten muß, als habe sie sich die Bluse mit einer stinkenden Flüssigkeit beschmiert und fürchte sich nun, die Ärmel mit ihr in Berührung zu bringen? Lassen Sie doch bitte diese Albernheiten!

Natürlich hütete sich Hendrik sehr wohl, dergleichen Lotten gegenüber auszusprechen. Auch ohne daß sie die verdienten Grobheiten gesagt bekam, schien sie aber zu spüren, daß sie sich auf den Proben blamierte. »Ich fühle mich noch so unsicher«, klagte sie und machte ihr naives Kleinmädchengesicht. »Es ist das Berliner Milieu – das bringt mich ganz durcheinander. Ach, gewiß werde ich schrecklich durchfallen und miserable Presse bekommen!« Sie tat, als wäre sie irgendeine kleine Debütantin, die ernsthaft Angst vor den Berliner Kritikern haben müßte. »Oh, bitte, bitte, Hendrik, sagen Sie mir« – dabei patschte sie babyhaft in die erhobenen Händchen – »wird man mich recht grausam behandeln? Wird man mich zerzausen und verreißen?« Hendrik konnte mit dem Brustton echter Überzeugtheit erklären, daß er dies für gänzlich ausgeschlossen halte.

Während Höfgen und die Lindenthal noch die Komödie »Das Herz« probierten, wurde bekannt, daß der »Faust« wieder ins Repertoire des Staatstheaters aufgenommen werden sollte. Zu seinem Entsetzen mußte Hendrik erfahren, daß Cäsar von Muck – sicherlich im Einverständnis mit dem Propagandaminister – beschlossen hatte, die Rolle des Mephisto mit einem Schauspieler zu besetzen, der schon seit langen Jahren der Nationalsozialistischen Partei angehörte und den man, vor einigen Wochen, aus der Provinz nach Berlin berufen hatte. Dieses war die Rache des »Tannenberg«-Dichters an Höfgen, der seine Stücke abgelehnt hatte. Hendrik spürte: Ich bin erledigt, wenn Muck durchkommt mit seinem scheußlichen Plan. Der Mephisto ist meine große Rolle. Darf ich ihn nicht spielen, dann ist es erwiesen, daß ich in Ungnade bin. Dann ist es deutlich, daß die Lindenthal ihren Einfluß beim Ministerpräsidenten nicht für mich geltend macht, oder daß sie den großen Einfluß gar nicht besitzt, den man ihr zuschreibt. Mir bliebe dann nichts mehr übrig, als meine Koffer zu packen und nach Paris zurückzureisen – wo ich vielleicht überhaupt hätte bleiben sollen; denn hier ist es eigentlich scheußlich. Meine Stellung ist eine traurige, besonders wenn man sie mit der vergleicht, die ich früher hatte. Alle sehen mich mißtrauisch an. Man weiß, daß der Intendant und der Propagandaminister mich hassen, und man hat noch nicht den kleinsten Beweis dafür, daß ich beim Fliegergeneral wirklich in Gunst stehe. Eine feine Situation, in die ich da geraten bin! Der Mephisto könnte alles retten, von ihm hängt jetzt alles ab …

Vor Beginn einer Probe trat Höfgen mit festen Schritten auf Lotte Lindenthal zu, und das Beben seiner Stimme war ausnahmsweise keineswegs künstlich, als er sagte: »Frau Lotte – ich habe eine große, große Bitte an Sie.« Sie lächelte etwas angstvoll: »Ich bin meinen Kollegen und Freunden immer gerne behilflich – wenn ich kann.«

Da sprach er mit tiefem, hypnotisierendem Blick in ihre Augen hinein: »Ich muß den Mephisto spielen. Verstehen Sie mich, Lotte? Ich muß.«

Sein großer, dringlicher Ernst erschreckte sie, und übrigens fühlte sie sich erregt durch die andrängende Nähe seines Körpers, der ihr längst nicht mehr gleichgültig war. Sanft errötend, die Augen niedergeschlagen – wie ein junges Mädchen, dem man den Antrag macht und das verheißt, sie werde sich mit den Eltern beraten – flüsterte sie: »Ich will versuchen, was ich machen kann. Ich spreche noch heute mit ihm

Hendrik hatte ein tiefes Aufatmen der Erleichterung.

Am nächsten Morgen rief das Sekretariat der Staatstheaterintendanz ihn an, um mitzuteilen, er werde am Nachmittag zur Arrangierprobe der neuen »Faust«-Einstudierung erwartet. Das war der Sieg. Der Ministerpräsident hatte sich für ihn verwendet. ›Ich bin gerettet‹, dachte Hendrik Höfgen. – Er schickte einen großen Strauß gelber Rosen an Lotte Lindenthal; den schönen Blumen legte er einen Zettel bei, auf den er in großen, pathetisch eckigen Buchstaben das Wort »Danke« schrieb.

Es erschien ihm beinahe schon selbstverständlich, daß der Intendant Cäsar von Muck ihn, vor Beginn der Probe, in sein Büro bitten ließ. Der nationale Dichter zeigte die einfachste Herzlichkeit – die eine viel beachtenswertere schauspielerische Leistung war als die feine Zurückhaltung, die Hendrik an den Tag legte.

»Ich freue mich darauf, Sie als Mephisto zu sehen«, sprach der Dramatiker, ließ die stahlblauen Augen warm aufblitzen und ergriff mit männlicher Innigkeit die Hände des Menschen, den er hatte vernichten wollen. »Wie ein Kind freue ich mich darauf, Sie in dieser ewigen, tief deutschen Rolle zu sehen.« – Es war deutlich: der Intendant hatte sich entschlossen, sein Verhalten Höfgen gegenüber mit einem Schlage und total zu ändern, seitdem der Ministerpräsident sich für diesen Schauspieler eingesetzt hatte. Natürlich hatte Cäsar von Muck, nach wie vor, die unerbittliche Absicht, den fatalen Burschen nicht gar zu groß werden zu lassen und ihn, wenn irgend möglich, recht bald vom Staatstheater zu entfernen. Es schien ihm aber geraten, seinen Kampf gegen den alten Feind von jetzt ab auf eine heimlichere und schlauere Art zu führen. Herr von Muck war durchaus nicht geneigt, sich Höfgens wegen mit dem mächtigen Ministerpräsidenten oder mit der Lindenthal zu überwerfen. Als Intendant der Preußischen Staatstheater hatte man allen Grund, sich mit dem Ministerpräsidenten ebenso gut zu stellen wie mit dem Propagandaminister …

»Unter uns gesagt«, fuhr der Intendant mit der Miene kameradschaftlicher Vertraulichkeit fort, »Sie haben es mir zu verdanken, daß Sie den Mephisto wieder spielen werden.« In seiner Aussprache machte sich der sächsische Akzent, mit dem er vielleicht seine markige Biederkeit betonen wollte, heute stark bemerkbar. »Es gab da gewisse Bedenken«, – er dämpfte seine Stimme und schnitt eine Grimasse des Bedauerns – »gewisse Bedenken in ministeriellen Kreisen – Sie verstehen, mein lieber Höfgen … Man fürchtete, Sie könnten den Geist der vorigen ›Faust‹-Inszenierung – einen etwas kulturbolschewistischen Geist, wie man sich ausdrückte – in unsere neue Einstudierung tragen. Nun, es ist mir gelungen, diese Befürchtungen zu widerlegen und zu überwinden!« schloß der Intendant fröhlich, und er schlug dem Schauspieler herzhaft auf die Schulter.

Einen argen Schrecken hatte Höfgen an diesem sonst erfolgreichen Tage noch auszustehen. Als er die Probebühne betrat, stieß er mit einem jungen Menschen zusammen, es war Hans Miklas. Hendrik hatte seit Wochen nicht mehr an ihn gedacht. Natürlich, Miklas lebte, er war sogar am Staatstheater engagiert, und er sollte in der neuen »Faust«-Inszenierung den Schüler spielen. Auf dieses Zusammentreffen war Hendrik nicht vorbereitet; um die Besetzung der kleineren Rollen hatte er sich, bei all den Aufregungen, die es auszustehen gab, noch nicht gekümmert. Nun überlegte er sich blitzschnell: Wie verhalte ich mich? Dieser renitente Bursche haßt mich noch – wenn es nicht selbstverständlich wäre: der bleiche und böse Blick, den er mir gerade zugeworfen hat, müßte es mir verraten. Er haßt mich, er hat nichts vergessen, und er kann mir schaden, wenn er Lust dazu hat. Was hindert ihn, Lotte Lindenthal zu erzählen, warum es damals zu dem Auftritt zwischen uns im H.K. gekommen ist. Ich wäre verloren, wenn er sich das einfallen ließe. Aber er wagt es nicht, so weit wird er wahrscheinlich nicht gehen. Hendrik beschloß: Ich werde ihn fast übersehen und ihn mit meinem Hochmut einschüchtern. Dann denkt er, ich sei schon wieder ganz obenauf, habe alle Trümpfe in der Hand und man könne nichts gegen mich ausrichten. – Er klemmte sich das Monokel vors Auge, machte ein spöttisches Gesicht und sprach durch die Nase: »Herr Miklas – sieh da! Daß es Sie auch noch gibt!« Dabei betrachtete er seine Fingernägel, lächelte aasig, hüstelte und schlenderte weiter.

Hans Miklas hatte die Zähne aufeinandergebissen und geschwiegen. Sein Gesicht war unbewegt geblieben, aber da Hendrik es nicht mehr beobachten konnte, verzerrte es sich vor Haß und vor Schmerz. Niemand kümmerte sich um den Knaben, der trotzig und einsam an einer Kulisse lehnte. Niemand sah, daß er die Fäuste ballte und daß seine hellen Augen sich mit Tränen füllten. Hans Miklas zitterte an seinem schmalen, mageren Körper, der an den Körper eines unterernährten Gassenbuben, zugleich an den eines übertrainierten Akrobaten erinnerte. Warum zitterte denn Hans Miklas? Und warum weinte er denn? Begann er einzusehen, daß er betrogen worden war – betrogen in einem fürchterlichen, riesenhaften und nie mehr gutzumachenden Ausmaß? Ach, er war noch nicht an dem Punkte, dies zu begreifen. Indessen stellten vielleicht doch die ersten Ahnungen sich ein. Schon diese Ahnungen waren von der Art, daß seine Hände sich zusammenkrampften und seine Augen sich mit Tränen füllten.

 

Die ersten Wochen nach der Regierungsübernahme durch die Nationalsozialisten und ihren »Führer« hatte dieser junge Mensch sich gefühlt wie im Himmel. Der schöne und große Tag, der Tag der Erfüllung, auf den man so lange und mit so viel Sehnsucht gewartet hatte, nun war er da! Was für ein Jubel! Der junge Miklas hatte vor Seligkeit geschluchzt und getanzt. Damals hatte sein Gesicht gestrahlt im Licht der echten Begeisterung: auf seiner Stirne war Glanz gewesen, und Glanz in seinen Augen. Als man den Reichskanzler, den Führer, den Erlöser mit dem Fackelzug feierte – wie hatte er da auf der Straße gebrüllt und gleich einem Besessenen die Glieder geworfen, mitergriffen von dem Taumel, in den eine Millionenstadt, in den ein ganzes Volk sich schleuderte. Nun würden alle Versprechungen umgesetzt werden in die Tat. Ohne Frage: ein goldenes Zeitalter war im Begriff anzubrechen. Deutschland hatte seine Ehre wieder, und bald würde auch seine Gesellschaft sich verwandeln und sich zur wahren Volksgemeinschaft wunderbar erneuern: denn so hatte es der Führer hundertmal versprochen, und die Märtyrer der nationalsozialistischen Bewegung hatten sein Versprechen besiegelt mit ihrem Blut.

Die vierzehn Jahre der Schmach waren vorüber. Alles bis dahin war nur Kampf und Vorbereitung gewesen, jetzt fing das Leben erst an. Nun durfte man endlich arbeiten – mitarbeiten am Wiederaufbau eines geeinigten, machtvollen Vaterlands. Hans Miklas bekam ein schlecht bezahltes Engagement am Staatstheater: ein höherer Parteifunktionär hatte es ihm verschafft. Höfgen saß in Paris, Höfgen war Emigrant – und Miklas hatte eine Stellung an der Preußischen Staatsbühne: der Zauber dieser Situation war so mächtig, daß er den jungen Menschen manches übersehen ließ, was er sonst vielleicht als enttäuschend empfunden hätte.

War es wirklich eine neue, eine bessere Welt, in der er sich jetzt bewegte? Hatte sie nicht viele Gebrechen der alten, die man so bitter gehaßt hatte, und noch manch anderen Fehler dazu, der bis dahin unbekannt gewesen war? Dergleichen wagte Hans Miklas noch nicht sich einzugestehen. Aber zuweilen bekam sein junges, angegriffenes, bleiches Antlitz, mit den zu roten Lippen und den dunklen Rändern um die hellen Augen, doch schon wieder jenen verschlossenen, leidvollen Ausdruck des Trotzes, der ihm früher eigentümlich gewesen war.

Hochmütig und böse wandte der widerspenstige Knabe den Kopf, wenn er beobachten mußte, wie man jetzt den Intendanten Cäsar von Muck umschmeichelte, auf eine noch viel schamlosere Manier, als die es gewesen war, auf die man früher den »Professor« umschmeichelt hatte. Und wie Cäsar von Muck seinerseits zusammenknickte und in demutsvoller Liebedienerei zerfließen zu wollen schien, wenn der Propagandaminister das Theater betrat! Das war äußerst peinlich anzusehen. Der Zustand, den die nationalistischen Agitatoren als »Bonzenwirtschaft« zu bezeichnen liebten, hatte also nicht aufgehört, sondern nur noch schlimmere und ausschweifendere Formen angenommen. Auch unter den Schauspielern gab es noch die »Prominenten«, die herabsahen auf die Kleineren, in schweren Limousinen am Bühneneingang vorfuhren und kostbare Pelzmäntel trugen.

Die große Diva hieß nicht mehr Dora Martin, sondern Lotte Lindenthal; sie war keine gute Schauspielerin mehr, sondern eine schlechte, dafür aber die Favoritin eines mächtigen Mannes. Miklas hätte sich, um ihrer Ehre willen, einmal fast geprügelt – wie lange war das her? – und er hatte seine Stellung für sie verloren. Aber das wußte sie nicht, und er war zu stolz, um darauf anzuspielen. Er schob trotzig die Lippen vor, machte sein abweisendes Gesicht und ließ sich übersehen von der großen Dame.

Deutschland hatte seine Ehre wieder, da die Kommunisten und Pazifisten nun in den Konzentrationslagern saßen, teilweise auch schon getötet waren, und die Welt anfing, sich sehr zu ängstigen vor einem Volk, das einen so besorgniserregenden »Führer« sein eigen nannte. Die Erneuerung des gesellschaftlichen Lebens hingegen ließ auf sich warten: vom Sozialismus war noch nichts zu merken. ›Alles kann nicht auf einmal geschafft werden‹, dachte ein junger Mensch wie Hans Miklas, der zu innig geglaubt hatte, als daß er sich jetzt schon zur Enttäuschung hätte entschließen mögen. ›Nicht einmal mein Führer bringt es fertig. Wir sollen Geduld haben. Erst muß Deutschland sich einmal erholen von den langen Jahren der Schmach.‹

So vertrauensvoll war dieser Knabe noch immer. Den entscheidenden Schock aber empfing er, als er auf dem Probezettel las, daß Hendrik Höfgen den Mephisto spielen würde. Der alte Feind, der höchst Geschickte, ganz Gewissenlose – da war er wieder, der Zyniker, der überall durchkommt, sich bei allen beliebt macht: Höfgen, der ewige Widersacher! Die Frau, um derentwillen man sich fast mit ihm geprügelt hätte, sie hatte ihn selber herbeigeholt, weil sie ihn in der mondänen Komödie als Partner brauchte. Und nun hatte sie ihm auch noch die klassische Rolle verschafft, und mit ihr die große Erfolgschance … Konnte er, Miklas, nicht hingehen und dieser Lotte Lindenthal erzählen, was Höfgen damals, in der Kantine, über sie geäußert hatte? Wer hinderte ihn daran? – Aber war es der Mühe wert? Würde man ihm denn glauben? Konnte er sich nicht auch noch lächerlich machen? Und hatte schließlich Höfgen so ganz unrecht gehabt, als er diese Lindenthal eine blöde Kuh nannte? War sie nicht eine?

Miklas schwieg, ballte die Fäuste und wandte den Kopf der Dunkelheit zu, damit niemand die Tränen sähe in seinen Augen.

Eine Stunde später mußte er seine Szene mit Höfgen-Mephistopheles probieren. In demütiger Haltung hatte er sich dem Schriftgelehrten, der eigentlich der Teufel war, zu nahen und vorzubringen:

»Ich bin allhier erst kurze Zeit

und komme voll Ergebenheit,

einen Mann zu sprechen und zu kennen,

den alle mir mit Ehrfurcht nennen.«

Die Stimme des Schülers klang rauh, und sie wurde zu einem Stöhnen, als der Jüngling auf all die verwirrenden Weisheiten, die höhnischen Sophismen des maskierten Satans zu erwidern hatte:

»Mir wird von alledem so dumm,

als ging’ mir ein Mühlrad im Kopf herum.«

Der »Faust«-Aufführung des Staatstheaters wohnte der Ministerpräsident und Fliegergeneral in Begleitung seiner Freundin Lotte Lindenthal bei. Die Vorstellung begann mit einer Viertelstunde Verspätung, weil der große Herr auf sich warten ließ. Aus seinem Palais wurde telefoniert, er sei festgehalten durch eine Besprechung mit dem Reichswehrminister. Die Schauspieler in ihren Garderoben aber flüsterten sich spöttisch zu, daß er einfach wieder einmal nicht rechtzeitig fertig werde mit seiner Toilette. »Er braucht doch immer eine Stunde, um sich umzuziehen«, kicherte die Darstellerin des Gretchens, die so blond war, daß sie sich kleine Aufsässigkeiten leisten durfte. Übrigens vollzog sich der Eintritt des hohen Paares dann mit betonter Dezenz. Der Ministerpräsident hielt sich im Hintergrund seiner Loge, solange Licht im Saal war. Nur die Leute in den ersten Parkettreihen bemerkten ihn und schauten ehrfurchtsvoll auf seine geschmückte Uniform, die einen purpurnen Kragen und breite silberne Manschetten zeigte, und auf das blitzende Brillantendiadem seiner hochbusigen, ährenblonden Freundin. Erst als der Vorhang sich hob, setzte sich der Minister, wobei er ein leises Ächzen hören ließ, denn es bereitete Mühe, die Fettmassen seines Leibes auf dem relativ schmalen Fauteuil in Ordnung zu bringen.