Die klare Sonne bringts doch an den Tag

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»Abgesehen von der Leiche in der Kiste mit den ...«

»Hör bloß auf, sonst werfe ich deine Angel in die Alster.«

»Schon gut, was steht denn nun auf dem Wisch?«

Stormann wedelte mit dem Zettel. «... und das hier scheint ein Corpus Delicti zu sein oder sogar ein Geständnis. Bei einem Kommentar zu so einem Titel ahne ich schon den letzten Satz, ohne die Story zu kennen: »... und die Moral von der Geschicht’, erwischt wird jeder Bösewicht!«

»Was steht denn nun drauf?«

Nun fasste Stormann auch mit der rechten Hand das Papier und hielt das Blatt nah vor seine Augen. »Das scheint tatsächlich ein Stück aus einem Schulaufsatz zu sein ... wohl geschrieben von dem aufs Erbe wartenden Buchverkäufer. Als Krakelloge, ähm, Graphologe würde ich diese wackelige Schrift und den Ausdrucksstil einem elf- oder zwölfjährigen Jungen zuordnen.

Also, der hat geschrieben: Gestern habe ich als Vorleseübung meiner Familie das Märchen ‚Die klare Sonne bringt’s an den Tag‘ von den Gebrüdern Grimm vorgelesen. Das Märchen, das ich lesen üben soll, hat mein Opa ausgesucht, er hat einen Fingernagel in das Buch reingesteckt und aufgeklappt und gelacht und gesagt ‚Nun lies mal schön vor‘. Ich habe das Märchen vorgelesen und alle haben gut zugehört, nur mein Opa regte sich auf und sagte ‚Das kommt nicht alles raus, nee, nee. Sowas gibt’s, Gott sei Dank, nur im Märchen, sowas.‘ ,Opa, was kommt nicht raus?‘, habe ich gefragt und meine Eltern haben sich nur angeschaut. Und mein Opa hat sich noch mehr aufgeregt und ist weggegangen und Papa hat gesagt ‚Dein Opa hat was, was ihn bedrückt, ich weiß nicht was, aber er stöhnt nur und sagt nichts und ich soll ihn nie mehr fragen danach und nicht mehr daran denken‘ und es geht mir aber immer noch im Kopf rum und ich schreibe das auch hier und frage nicht weiter. ‚Malte, komm mal her!‘, rief mein Großvater einige Tage später und ich ...«

Stormann ließ mit der Linken das Blatt los und wedelte damit hin und her. »... und der Rest des Aufsatzes fehlt leider.«

Brüwer sah vom Buch auf. »Wohl mit einer schlechten Note bewertet und darum abgerissen und verbrannt worden.« Stirnrunzelnd schlug er eine Seite um. »Tja, dieser Opa scheint ordentlich Dreck am Stecken zu haben. Vielleicht ‘ne alte Jugendsünde. Was meinst du? Wieder reinlegen und das Buch zuklappen?«

»Ich glaube ja auch nicht, dass etwas Besonderes daran ist.« Stormann ließ den rechten Arm sinken und schaute lange auf den Zettel hinab. »Mir geht es eher darum, ob es für unseren Studenten ein Erinnerungsstück sein könnte. Darum würde ich es ihm gerne wiedergeben.«

Ohne das Buch loszulassen, blickte Brüwer auf seine Armbanduhr. »Noch würdest du ihn auf dem Fischmarkt antreffen, ansonsten kannst du ihn suchen wie eine Nadel in einem Heuhaufen namens Hamburg.«

»Es gibt einen Anhaltspunkt: Reederei Jügesen und Sohn. Die darf er eines Tages erben.«

»So? Dann bist du ja schon auf dem richtigen Weg.« Schräg über den Wasserspiegel der Außen-Alster hinweg zeigte Brüwer auf einige Uhlenhorster Stadtvillen. »Dieser Schifffahrtsgesellschaft gehört weiter hinten am Kanal ein rötliches höheres Haus; von hier aus siehst du noch das Glasdach. Das ist der Stammsitz der Firma, und die Familie des Inhabers wohnt oben im Loft. Das weiß ich, dort war ich nämlich mal wegen mehrerer Zeugenbefragungen. Da hast du sogar heute noch eine Chance, obwohl Sonntag ist.«

Stormann schob die Seite des Schulhefts zwischen die nächsten beiden Blätter der märchenhaft geschriebenen Parabel über höhere Gerechtigkeit, nahm Brüwer das Buch ab, klappte es zu und schob den Wälzer wieder in die Umhüllung. Entschlossen wandte er sich um. »Dann gehe ich erst mal weiter statt zurück. Kommst du mit oder willst du hier Wurzeln schlagen?«

»Falls du die Fähre nimmst ...«

»Das dauert mir viel zu lange, bis die wieder hier ist, außerdem war ein Spaziergang um die ganze Außenalster abgemacht. Aber bleib getrost hier, denn ich komme auf meiner Runde sowieso bei ‚Fisch Böttcher‘ vorbei und werfe einen Bestellzettel in den Briefkasten ein. Als Spende von mir an dich sollen sie am Dienstagmorgen einen wunderschönen riesengroßen und erst montags frisch in diesem Gewässer gefangenen Fisch zu dir nach Hause bringen.«

Mit solcher Wucht riss Brüwer die Angelrute aus dem Rasen, dass ein Stück Soden am Griff hängen blieb. »Mach dich jetzt auf die Socken, sonst gibt‘s gleich einen frisch gefangenen Stormann-Stör!«

»Störe gibt es hier nicht. Das habe ich dir schon gesagt. Welse erst recht nicht.«

Mit beiden Händen packte Brüwer die Rute wie einen Spieß und versuchte, seinen Ex-Kollegen mit dem stumpfen Ende ins Alsterwasser zu stupsen. »Dann sorge ich jetzt dafür, das es endlich hier einen gibt.«

Jedoch wich Stormann geschickt aus und schmunzelnd deutete er einen Salut an, indem er mit dem rechten Zeige- und Mittelfinger an die Krempe seines Panamahuts tippte. Während des Fortgehens wandte er sich noch einmal um. »Übrigens ist Angeln ohne Schein hier verboten. Pack ein und komm mit, wenn du dein ganzes Angelzeug nicht gleich wieder loswerden willst.«

»Bah, das wird schon gut gehen.« Mit Hingabe widmete sich Brüwer wieder seinem Hobby. »Zisch endlich ab.« Abrupt wandte er sich noch einmal um. »Übrigens wird dein Enkel diese alte Frakturschrift gar nicht lesen können. Du wirst schon sehen.«

*

Schleswig-Holstein, Kreis Herzogtum Lauenburg,

Herrenhaus von Jügesen im Billetal

am Nordrand des Sachsenwaldes

Freitag, 3. Mai 1918 – nachmittags

Banner- und Reichsfreiherr Otto von Jügesen nähert sich zu Fuß der Einfahrt zum Gutshof seiner Familie. Er keucht unter der Last seines Seesacks und der großen Umhängetasche, außerdem trägt er einen wetterfesten Ledermantel über seiner Offiziersuniform. Am gusseisernen, haushohen Torgitter angelangt, stellt er sein Gepäck ab und verschnauft; zum wiederholten Mal verflucht er in Gedanken seinen Wagen, dessen Motor nur drei Kilometer vor dem Ziel elendig verreckt ist. In der freien Natur, mitten auf dem einsamen Weg nach Hause, ist an eine Reparatur nicht zu denken; die ‚Karre‘ samt hilflosem Chauffeur lässt er einfach stehen. ‚Popel-Kiste‘ tauft er seinen nagelneuen ‚Opel 9/25 PS Doppelphaeton‘ sogleich und tritt vorm Fortgehen mit Wucht gegen das linke Vorderrad.

Der 26 Jahre alte Oberleutnant zur See zieht einen handspannenlangen, eisernen Schlüssel mit breitem Bart aus der rechten Manteltasche und steckt ihn ins metallisch glänzende Schloss. Er öffnet, zieht sein Gepäck hinein und schließt hinter sich wieder ab. Ein letztes Mal schultert und hebt er seinen Ballast. Aber das Schreiten auf der knapp einen Kilometer langen Allee zum Herrenhaus fällt ihm bei jedem Ausholen leichter, denn er ist sicher, seine Ehefrau wartet auf ihn; Gertrud von Jügesen ist erst seit vier Monaten mit ihm verheiratet.

Eine Überraschung will er ihr nun bereiten, schleicht sich hinein in die gute Stube und sieht sie nebenan nahe dem Fenster sitzen. Sie beugt sich über eine Stickerei und schaut nicht hinaus, denn sie geht davon aus, das Knattern des Motors zu hören, bevor der Wagen über die viertelbogenförmige Rampe hinauf bis vor die weitgeschwungene Steintreppe des Haupteingangs gelenkt wird. Eine Strähne ihres blonden Haars hat sich aus dem Dutt gelöst und reicht hinab bis auf den Rahmen der Stickerei. Sie schwingt ihren Kopf zur Seite, damit die Strähne nicht bei der Arbeit stört. Ottos Herz schlägt schneller und er würde sich am liebsten zu ihren Füßen niederstürzen.

Jedoch besinnt er sich, geht rücklings bis zum Haupteingang zurück, schließt von außen und klopft ans hölzerne Gebälk, erst sacht, dann fester; klingeln will er nicht, denn der Ton der Schelle ist ihm zu schrill. Jedoch ist ein Dienstbote zuerst an der Tür, verbeugt sich tief und abgetaucht bleibend nimmt er die vor der Tür abgestellten Mitbringsel an sich. Eilends zieht er sich zurück, als Gertrud von Jügesen, geborene von Reinern, ihrem Ehemann entgegenkommt und ihn so innig, wie der Anstand es zulässt, in die Arme schließt.

Die junge Baronesse hätte einen Mann von noch höherem Stand heiraten können, ihre Familie jedoch drängte sie zur Verbindung mit dem einzigen Sohn der steinreichen Reedereifamilie von Jügesen. Außerdem erhoffte sich ihr Vater, ein mit finanziellen Widrigkeiten ringender Baron, eine nützliche Beziehung zur Familie von Bismarck. Denn Otto von Bismarck, der ehemalige Reichskanzler, und Ottos Großvater Tormud von Jügesen waren seit ihrer Studentenzeit in Göttingen Korpsbrüder und blieben freundschaftlich verbunden bis zu ihrem Lebensabend.

Nachdem Otto von Bismarck sich zur Ruhe gesetzt hatte, wurden sie sogar gute Nachbarn und in den letzten Lebensjahren des ehemals eisernen Kanzlers besuchte die Familie von Jügesen ihn häufig in Friedrichsruh im Sachsenwald. Tormuds einziger Enkel wurde dem ehemaligen Reichskanzler zu Ehren auf den Namen Otto getauft; selbstverständlich nahm der alte Bismarck die ihm angebotene Taufpatenschaft an.

Der kleine Otto erinnert sich kaum an seinen berühmten Paten, denn dieser verstarb wenige Jahre nach der Taufe. Nur noch vage entsinnt er sich, dass er von ihm häufig auf den Arm genommen wurde und ihm viele Altersweisheiten ins Ohr geflüstert wurden. Aber eine davon hat er für immer und ewig behalten: ‚Was du anfängst, mein Junge, mache auch zu Ende; wenn du fehl gehst, stehe dazu und bring‘s in Ordnung!‘.

Nun ist Otto in den besten Jahren und gerade nach Hause gekommen. Er bedrängt seine Ehefrau, fasst ihre Hände und zieht sie mit sich, denn er will sofort ins Schlafzimmer – gleich nach den Flitterwochen nämlich musste er wieder nach Kiel zur Hochseeflotte und war drei Monate auf See, denn das kaiserliche Deutschland führt Krieg.

»Am helllichten Tag?« Sein gesittetes Eheweib reagiert zutiefst empört. Zwar hat sie sich monatelang nach ihm gesehnt, jedoch ist das für sie partout kein Grund, die Etikette zu missachten – darauf achtet sie penibel. »Es ist Teezeit.«

 

»Zum Kuckuck mit dem Tee, ich war drei Monate auf See!«

»Jetzt bist du aber nicht mehr im Seekrieg, Otto von Jügesen! Rede wieder anständig und benimm dich endlich, wie es sich als Reichsfreiherr gehört. Du wirst dich wieder gedulden und aushalten lernen müssen. Ich jedenfalls hatte überhaupt keine Umstände damit, für längere Zeit auf die Erfüllung meiner ehelichen Pflichten zu verzichten.«

Ihm bleibt nichts anderes übrig, als betrübt blickend loszulassen und, sich der Etikette ergebend, darauf zu warten, bis sie die Zeit für gekommen hält.

Abends jedoch wird ihr, wie seit Tagen, wieder übel und sie klärt ihn darüber auf, dass sie wohl ein Kind von ihm erwartet, was die Erfüllung ehelicher Pflichten ohnehin auf längere Zeit überflüssig mache. Die Freude über den möglichen Nachwuchs hält sich bei ihm in Grenzen, denn ihn treibt gerade anderes um.

Während die Gattin bereits tief schläft, steht er auf, um in den Weinkeller zu gehen. Er braucht jetzt einen Schlaftrunk. Elektrisches Licht gibt es bei ihm im Keller noch nicht, aber bald, das schwört er sich. Mittels einer Laterne findet er den Weg zu den Fässern und stutzt, als er die eichene Tür zum Flüssigkeitsdepot nur leicht angelehnt sieht. Geräusche dringen durch den Spalt, Gläserklingen und leises Kichern sind zu vernehmen. Er zieht am Griff, schwenkt das Türblatt bis zur Wand, stellt sich in Positur und reckt die Laterne ins Dunkle.

»Was geht hier vor?«, schnarrt er, ganz der Offizier. Breitbeinig mit in die Hüfte gestemmter linker Faust blickt er hinab in den Kellerraum. Was er im Licht der Laterne und den flackernden Flämmchen von zwei Kerzen auf einem winzigen Tisch sieht, verschlägt ihm die Stimme: Zwei in Wolldecken eingemummelte Frauen hocken dort unten und scheinen sich am flüssigen Schatz des Hauses zu laben.

Als junge Mädchen traten die Schwestern Willmersen ihre Stellen als Dienstmägde bei den Herrschaften von Jügesen an, lange bevor der von Deutschland durchaus gewollte Krieg ausbrach. Obwohl nun im besten Heiratsalter wirtschaften sie immer noch im Herrenhaus. Zutiefst erschrocken sind sie jetzt und blicken bänglich auf. Im nächsten Augenblick jedoch erkennen sie die Gunst der Stunde, denn der schneidige Oberleutnant mit dem nach beiden Seiten gezwirbelten hellblonden Oberlippenbart und den gegelten glatt nach hinten gekämmten Haarsträhnen gefiel ihnen schon, als er noch in der Pubertät steckte.

»Huch, da haben Sie uns aber einen gehörigen Schrecken eingejagt, Herr Oberleutnant von Jügesen.« Die Martina sagt das, die Jüngere. Sie schmeißt den ganzen Haushalt, ist die geistesgegenwärtigere und hübschere von beiden. Außerdem macht der Alkohol intus sie schon etwas mutiger. »Unsere Arbeitstage sind so anstrengend, da brauchen wir mal hin und wieder etwas zum Ausgleich.«

»Ihr sauft meinen Wein!«

»Nur ein klitzekleines Gläschen war‘s, wir haben nämlich etwas noch Besseres.«

»Auch aus meinem Lager? Auch geklaut?«

Geübt macht die Martina ein Schnütchen. »Aber Herr Oberleutnant von Jügesen, sein Sie doch nicht so streng zu uns. Sie wissen doch, wie fleißig wir für Sie jeden Tag zu Werke gehen. Gönnen Sie uns doch diese kleine Belohnung.« Jetzt schnurrt sie sogar ein wenig.

Recht hat sie, die Martina, denkt er sich, die beiden sind eilfertig. Jedesmal sieht er das, aber er weiß nicht, dass sie nur so flott sind, wenn dies von ihm bemerkt werden kann. Trotzdem müsste er nun den Freiherren herauskehren und für Zucht und Ordnung sorgen. Lust dazu hat er nicht, denn deswegen hat er sich nicht hierher geschlichen.

»Was Besseres soll ich denn noch auf Lager haben als meinen edlen Wein?«, fragt er lauernd, während er das Türblatt hinter sich sacht ins Schloss zieht und die Stufen hinabgeht.

»Das hier!«, meldet sich zum ersten Mal die Josefa zu Wort; die Ältere herrscht über die Küche. Sie umfasst eine kantige, nachtdunkle Flasche und hebt sie ein wenig an. »Dieser ganz feine Likör, Herr Oberleutnant von Jügesen.« Dumm ist sie nicht; sie hat darauf geachtet, wie ihre Schwester mit dem Herrn umgeht, und macht es ihr nach. Josefa schnalzt mit der Zunge, verzückt auf die Flasche blickend.

»Das habe ich hier im Keller?« Otto tritt an den niedrigen eichenen Tisch, nimmt der Köchin die verstaubte Flasche ab, hält diese gegen das schummrige Licht der Laterne und mustert das stockfleckige Etikett. »Nanu, dieses Zeugs kenne ich ganz bestimmt nicht.«

»Hat Ihr hochverehrter Vater stets besorgen lassen und gerne getrunken«, flüstert die Martina ihm ins Ohr, denn er steht vorgebeugt neben ihr. Hastig richtet er sich auf und blickt düster, denn der Vater ist erst ein Jahr tot, in Frankreich während der Schlacht an der Aisne heldenhaft gefallen fürs hehre deutsche Vaterland. Erschrocken hält die jüngere Schwester die Hand vor den Mund. »Nun kann er‘s nicht ja mehr. Das tut mir ja immer noch so leid.«

»Schon gut«, murmelt Otto von Jügesen. Seine Trauer hält sich in Grenzen, denn seinem Erzeuger trägt er nach, ihn zum Militärdienst auf hoher See gezwungen zu haben. Er wäre lieber Kunstmaler, frei schaffend hoch oben auf irgendeiner Bergalm. »Es ist zu dunkel hier, die Schrift kann man kaum lesen.«

»Aber schmecken kann man‘s selbst im Finsteren«, säuselt die Martina, nimmt ihm kurzerhand die Flasche ab und gießt ein in ihr Wasserglas, halbvoll. »Probeschlückchen gefällig?«

»Ist denn hier kein Glas übrig?«

»Ach was, Herr Oberleutnant von Jügesen, von meinen Mundabdrücken werden Sie doch wohl nicht krank.«

»Na gut, meinetwegen.« Im Grunde macht es ihm gar nichts aus, denn auf See unter seinesgleichen ist er raue Sitten gewöhnt, aber hier muss er den feinen Herrn geben. »Ich erlaube mir diesen einen Schluck.«

Im Kerzenlicht mustert er mit skeptischem Blick den gläsernen Rand, dreht das Glas, bis er die sauberste Stelle findet, und nippt. Der Likör brennt auf der Zunge, erhitzt den Rachen und rinnt spürbar hinab zum Magen. »Aaah.«

»Na bitte, haben wir zu viel versprochen?«

Er schüttelt den Kopf, setzt ab und nimmt sich vor, zu gehen, obwohl er lieber einen zweiten Schluck nehmen würde.

»Das war doch noch gar nichts, der Geschmack kommt doch erst mit den nächsten paar Schlückchen.«

»Hm«, brummt er nur, hebt das von der Martina hastig nachgefüllte Glas an die Lippen. Während des Trinkens reckt er den Kopf immer weiter nach hinten, sodass der Bodensatz der Flüssigkeit direkt den Hals hinab träufelt. »Aaah.«

»Schmecken Sie‘s, Herr Oberleutnant? Ist nicht von schlechten Eltern, stimmt‘s?«

Anerkennend hebt Otto von Jügesen die hellblonden Brauen und zwirbelt mit linkem Daumen und Zeigefinger den Schnurrbart beidseitig. »Ein feines Schnäpschen habe ich da, ohne es zu wissen.« Aber er nimmt sich sofort wieder zusammen und droht beiden mit ausgestrecktem linken Zeigefinger. »Hatte! Bestimmt raubt ihr nicht zum ersten Mal davon.«

»Aber es wäre doch wirklich jammerschade«, säuselt die Martina und formt routiniert ihr Schnütchen, »wenn er uralt und ungenießbar würde, nur weil Ihr hochverehrter Vater ihn nicht mehr trinken kann.«

Gekonnt füllt ihre Schwester beide Gläser nun randvoll. »Darum sollten wir ihn trinken, bevor er verdirbt. Das nächste Gläschen lässt Sie bestimmt besser schlafen, Herr Oberleutnant. Darum kamen Sie doch runter, nicht wahr.« Die Josefa kann sich ein vertrauliches Zwinkern nicht verkneifen.

Recht hat sie, die Josefa, denkt er sich, deswegen bin ich hier. Ein Gläschen in Ehren will er sich noch gönnen, dann aber Kehraus machen. Otto nimmt das Glas und kippt den Inhalt in sich rein. Auf einmal wird ihm ganz anders und ...

»Setzen Sie sich doch erst mal hin, Herr Oberleutnant, Sie stehen ja die ganze Zeit wie im Dienst und halten die Laterne hoch wie ein Nachtwächter. Nehmen Sie meinen Stuhl.« Josefa streift ihre Decke zurück, schiebt ihm die Sitzgelegenheit unter und schnappt sich einen freien Hocker.

Ohne Widerspruch lässt er sich behutsam auf dem Schemel nieder und stellt die Laterne neben dem Tisch ab. Immer seltsamer wird ihm zumute und es ist ihm sogar gleichgültig, dass er auf Augenhöhe nur noch mit dem Gesinde ist. Hauptsache er kommt dazu, sich müde zu trinken. Angenehm vorgewärmt ist das Holz, auf dem er sitzt, zusehends fühlt er sich entspannter. Er hat nichts dagegen, das Glas wieder gefüllt zu bekommen, und beim vierten Mal ist ihm es immer noch recht. Er beginnt, mit den Frauen zu schäkern, die abwechselnd aus dem zweiten Glas trinken, sein geweiteter Blick erfasst deren Weiblichkeit. Hatte er denn keine Augen dafür gehabt? Sein Begehren erwacht.

»Trinken wir Freundschaft?«, fragt die Martina frech und schält sich aus ihrer Decke – ihre Hemmschwelle ist überflutet.

»Hm«, brummt er nur, während er ihre Oberkörper anstiert. Ihm ist längst egal, dass dies kein Umgang für ihn sein sollte.

»Aber mit Kuss!«, fordert die Josefa, obwohl die Kühnheit ihrer Schwester sie noch ein wenig erschreckt.

»Hm«, murmelt er nur, nickt der Josefa zu und greift nach dem Glas, aber die Martina zieht er erst einmal vor.

»Otto.«

»Martina.«

Dann ist die Josefa dran, nicht so hübsch wie ihre Schwester, dafür aber mit Rundungen gesegnet, an denen selbst gespreizte Hände nicht abrutschen.

»Otto.«

»Josefa.«

Während er sie küsst, greift er ihr an die linke Brust. Sie ziert sich überhaupt nicht, sondern macht sich frei, überraschend geschwind trotz der unhandlichen Kleidung. Während er mit der Josefa beschäftigt ist, spürt er, wie die Martina mit ihrer rechten Hand über seinen geknöpften Hosenschlitz streichelt. Wie wohl tut ihm das, dieses Mal muss er nicht werben, nicht warten, weder betteln noch barmen, um das Mindeste wenigstens noch zu erreichen. Seine Manneskraft ist nicht mehr zu bändigen und er will sich auch nicht mehr zurückhalten.

Ohne wenn und aber darf er alles mit ihnen machen und einiges mehr, was er noch gar nicht kennt. Dass er sich in beider Leiber ergießt, mehr als einmal, und dies unangenehmste Folgen haben kann, ist ihm nun gleichgültig. Auch den Schwestern ist alles längst einerlei. Der leeren Flasche folgt eine volle, gesoffen wird nun ohne Umweg von Hals in Hals, denn die beiden Gläser waren nach dem zweiten Freundschaftsritus rücklings in irgendwelche Ecken geworfen worden. Nach jedem Umtrunk wird die Flasche in eine Lücke zwischen zwei Fässern zurückgestellt, denn auch der Tisch wird für andere Zwecke gebraucht.

Am nächsten Morgen wacht der Herr des Hauses erst gegen Mittag auf, der Kopf dröhnt, alles dreht sich vor seinen Augen.Der Diener hat seit Stunden vergebens versucht, ihn zu wecken, die Frühstückstafel ist immer noch gedeckt, der Kaffee neu gekocht, neue Brötchen frisch aufgebacken. Er windet sich aus seinem Bett, schwankt ins Bad und steckt seinen Kopf mehrmals, lange den Atem anhaltend, in die von ihm randvoll mit eiskaltem Wasser nachgefüllte Waschschüssel. Er hört unzählige Tropfen herunterplätschern und spürt an seinen nackten Füßen die Wasserlachen, die sich rund um das Gestell mit dem Becken ausdehnen – sein Zustand ist ihm ein Rätsel, denn er erinnert sich nicht. Erst im Lauf des Tages, während er zwei seiner weiblichen Bediensteten beobachtet, wie vertraulich sie ihn mit ihren verquollenen Augen ansehen, dämmert es ihm. Dann will er nur noch weg, aber wie?

Am darauf folgenden Tag fälscht er einen hoheitlichen Brief und zeigt ihn so traurig wie möglich blickend seiner Frau: Der restliche Urlaub ist gestrichen aufgrund sofortiger Einberufung wegen des bevorstehenden Auslaufens zu einer Feindfahrt – die vor zwei Monaten besetzten Åland-Inseln müssen gegen eine feindliche Flotte verteidigt werden.

Zu Tode betrübt wirkt die Baronesse jedoch nicht, erst recht nicht, als die ‚Feindfahrt‘ sich schon monatelang hinzieht. Nun schwant ihr etwas, denn zwei ihrer Dienstmädchen sind ersichtlich in guten Umständen. Sie stellt die beiden Schwestern zur Rede, jedoch ist nichts aus ihnen herauszubekommen. Darum hält sie es nicht mehr auf dem Gut aus und hochschwanger reist sie nach Norden zu ihren Eltern auf Schloss Lütjenstein. Ende Oktober 1918 gebiert sie einen Jungen und sofort benennt sie ihn Hans, ohne ihren absenten Otto wegen dieses Namens um Einverständnis zu befragen.

In diesem Herbst 1918 erklärt die Oberste Heeresleitung den Krieg für verloren und befürwortet Waffenstillstandsverhandlungen, der Kaiser wird entmachtet, in Kiel meutern die Matrosen, die arbeitende Bevölkerung revoltiert, der Kaiser wird zur Abdankung genötigt, die Republik wird ausgerufen, gleich zweimal, aber nur die vom Kasseler SPD-Politiker Scheidemann ausgerufene regiert und lässt Staatssekretär Erzberger die bedingungslose Kapitulation unterschreiben.

 

Otto von Jügesens Pflicht wäre eigentlich, dafür zu sorgen, dass die Soldaten für die alte Ordnung kämpfen. Sein neues Motto jedoch lautet ‚ohne Leutnants kein Krieg‘ und er fährt nach Hause. Dieses Mal hat sein Opel-Landaulet keine Panne, sondern kutschiert ihn mit 28 Pferdestärken bis vor den Haupteingang. Ihm ist mancher scheele Blick seines Fahrers nicht entgangen. Darüber wundert er sich aber nicht mehr lange, denn als auch die beiden Schwestern auf der Treppe vor ihm Aufstellung nehmen und einen artigen Knicks tun, sieht er ihnen die Bescherung an, die offensichtlich er ihnen bereitet hat.

Auf der Stelle macht Otto kehrt, zerrt den Fahrer aus dem Wagen, setzt sich hinter das Lenkrad seines flotten Opels, gibt Vollgas und rast mit 65 Stundenkilometern Höchstgeschwindigkeit auf und davon. Vor den eisernen Gattern des Außentores legt er eine Vollbremsung hin bei der die Bremsbänder qualmen, denn das haushohe Portal ist geschlossen und den Schlüssel dafür hat sein Fahrer noch in der Tasche.

Während er tobend vor Wut wieder und wieder den Handblasebalg des Signalhorns zusammenquetscht, steigt in ihm eine Erinnerung auf: ‚Was du anfängst, mein Junge, mache auch zu Ende; wenn du fehl gehst, stehe dazu und bring‘s in Ordnung!‘ Lange sinnt er nach, dann lässt er den Balg los, wendet und fast im Schritttempo lässt er den Wagen zurückrumpeln, um sich dem Schicksal zu ergeben.

Anfangs reißt er sich noch am Riemen, übernimmt Verantwortung und sorgt sich um Hab und Gut. Den ohnehin ungeliebten Dienst in der Marine quittiert er; die Geschäfte der Reederei führt nach wie vor ein Vertrauter seines Vaters. Jeden Abend belohnt er sich für sein Durchhalten mit einem Likör – nun weiß er auch, wie die Marke heißt, die ihn im Handumdrehen in des Teufels Küche brachte: ‚Stichpimpulibockforcelorum‘.

Trotzdem hofft er noch, seine Frau wiederzusehen, nachdem er ihr einen Brief geschrieben hat, in dem er ihr seine Fehltritte gesteht. Obwohl er wortreich barmt und zutiefst bereut, erblickt er sie nie wieder; seinen Sohn lernt er gar nicht erst kennen, denn ihm wird strengstens verboten, nach Schloss Lütjenstein zu kommen. Des Abends ertränkt er seinen Kummer nun mit mehr als einem Glas Likör.

Die Martina gebiert ihm den Hilmar und die Josefa einen Tag später die Theresia. Dabei bleibt es nicht, denn nicht nur den Likör braucht er immer häufiger, auch die Weiber sollen ihm jederzeit die einzigen Freuden bereiten, die er noch hat. Das tun sie gern, denn dies sichert ihnen ihren Einfluss. Sie sorgen auch dafür, dass der Fahrer sowie alle anderen Diener von ihm entlassen werden, damit sie ungestört mit ihm und den Kindern allein zu Hause sind.

Die Martina wird noch zweimal Mutter mit der Svenja sowie der Saskia und die Josefa bekommt sogar Zwillinge – den Hendrick sowie den fünf Minuten jüngeren Horst.

Längst ist dem hochwohlgeborenen Banner- und Reichsfreiherrn Otto von Jügesen im wahrsten Sinn der Worte ‚alles scheißegal‘. Hauptsache es ist genüg Likör im Haus und seine Frauen bleiben willig, sonst macht er gar nichts mehr. Die Willmersen-Schwestern schmeißen den Herrenhaushalt, sorgen für Likör-Nachschub und halten ihn mit ihren Leibern bei Laune. Das ist auch nötig, denn er verändert sich, auch äußerlich lässt er sich gehen; außer ihnen und seinen Bälgern will er niemanden mehr sehen und verlässt seinen Besitz kein einziges Mal mehr. Es ist ihm auch egal, dass die Nachbarn über seine Lebensweise lästern und ihn höhnen als ‚Baron Stichpimpulibock und sein Forkelorumharem‘. Alles rundum auf der Welt ist ihm egal, aber wenn der Likör auszugehen droht oder seine Weiber nicht sofort bereit sind, dann wird er fuchsteufelswild.

Den Schwestern jedoch ist dieses ‚alles rundum auf der Welt‘ überaus wichtig, denn sie sind darauf bedacht, das unerwartet Errungene zu erhalten, zu verteidigen und womöglich zu mehren, vor allem ihrer Kinder wegen. Das Erbe nämlich ist ihr Problem: Stirbt ihnen der Otto weg, dann gehört ihnen nichts, sondern dem Hans, seinem unbekannten Sohn auf Schloss Lütjenstein.

Ihren Otto heiraten geht jedoch nicht, denn Gertrud von Jügesen lässt sich nicht scheiden. Daran scheitert ihr Plan: Erst heiratet ihn die Martina mit anschließender Scheidung, dann soll die Josefa drankommen. Daher bedrängen und umgarnen sie ihren Otto, er solle seine unehelichen Kinder adoptieren, es wäre doch das Mindeste, was er für sie tun könnte. Macht er auch, Hauptsache ...

Als die Leber zu schmerzen beginnt, ist ihm das auch vollkommen egal, dann säuft er so viel, bis nichts mehr weh tut. Otto kommt kaum noch aus dem Keller, obwohl es dort erbärmlich kalt ist, er hustet und kuriert sich mit Likör, bis eines Tages in den ‚Goldenen Zwanzigern‘ die Josefa ihn zwischen zwei Fässern eingepresst findet – bereits mausetot. Beim volltrunkenen Erklettern eines mannshohen Fasses, um an das offene Spundloch zu gelangen, war er ausgerutscht, hatte eingeklemmt das Bewusstsein verloren und erstickte elendiglich. Schlicht und ohne Anteilnahme wird er beerdigt unter einer uralten Eiche in der Nähe der Auffahrt und das Leben geht weiter.

Die Sorgen der Schwestern jedoch werden größer: Was wird aus ihnen? Wann nimmt Ottos Ehefrau Gertrud das Erbe in Anspruch? Oder vertreibt Hans von Reinern sie erst später vom Gut, wenn er volljährig und Baron geworden ist? Nichts dergleichen geschieht, denn die Familie von Reinern will den Gutshof nicht. Selbst die Reederei tasten sie nicht an, sondern begnügen sich mit dem Ertrag – den sie nach wie vor dringend brauchen und welcher ja auch der Zweck der Heirat war. Dies wissen die Schwestern aber nicht und sie streben nach einer Gelegenheit, ihren Status zu verbessern.

Schon Mitte der zwanziger Jahre treten sie der NSDAP bei, melden ihre Jungs in der Hitlerjugend an, sobald sie 14 Jahre alt werden, die Mädels werden schon mit 10 Jahren Mitglied im Deutschen Jungvolk. NSDAP- und SA-Funktionäre geben sich im Herrenhaus von Jügesen die Klinke in die Hand, denn die beiden Weiber bieten ihnen mehr als nur Wein und Gesang.

Mit feinem Gespür setzen sie auf das richtige Pferd, indem sie zusehends Alfred Naujocks hofieren. Dieses Raubein ist Mitglied der Schutzstaffel, einer Gruppierung im Schattendasein unterhalb der mächtigen SA. Der nimmt die Jungs in seine Staffel auf und steckt sie unter seine Fittiche.

Nach Ausschaltung der SA-Führung in der Nacht vom 30. Juni zum 1. Juli 1934 befinden sich die Schwestern auf der Gewinnerseite. Später sind sie hellauf begeistert, dass am frühen Morgen des 1. Septembers 1939 Polen überfallen wird. Besonders stolz sind sie darauf, dass ihre Jungs tags zuvor beim fingierten Angriff auf den Sender Gleiwitz von ihrem Förderer Naujocks eingesetzt wurden. Erzählen dürfen sie das aber niemandem.

Mit diesem Beginn der Angriffe auf die europäischen Nachbarn ergibt sich endlich die Gelegenheit, einiges zu ändern. Als auch ihre Jungs in den Kampf gegen den Rest der Welt ziehen, schärfen sie ihnen ein, dass es immer noch einen Erben gibt, der ihren nachfolgenden Besitzansprüchen im Weg steht. Womöglich sorgt nun der Krieg von selbst dafür, dass sich etwas daran ändert, und wenn nicht, dann sollen sie sich gefälligst mal selber darum kümmern.

*

Freie und Hansestadt Hamburg,