Leben ohne Maske

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17. Kapitel

Nach den eisigen Zeiten, die Wolfgang und Heidi während des Kälteeinbruchs Anfang des Jahres miterlebt hatten, konnten sie dem schneereichen Winter Ende Januar sogar etwas an Reiz abgewinnen.

Schnee trieb am Fenster vorbei, und der Schneepflug und ein Streufahrzeug waren seit den Nachtstunden im Einsatz, ohne die Situation in den Griff zu bekommen.

Im Radio redete man von Ortschaften, die von der Außenwelt abgeschlossen waren und mit Armeehubschraubern versorgt werden mussten. Ganz so schlimm war es in Oberneusitz noch nicht, obwohl der Bürgermeister im Dorffunk den Katastrophenalarm ausrief und die Menschen informierte, dass ein Kettenfahrzeug der LPG die Versorgung der Bevölkerung aufrecht erhalten würde.

Vor den Haustüren türmte sich der Schnee, und die Leute versuchten, sich freizuschaufeln. Es gab nur einen schmalen Weg zum Bürgermeisteramt und zur Kneipe. Drei Tage lang fiel der Bus aus, der die Leute aus dem Dorf morgens zu ihrer Arbeit nach Erfurt brachte, und drei Tage lang brauchten Heidi und Wolfgang nicht zu unterrichten, weil der Schulbus nicht durch die Schneemassen kam.

Heidi stand am Wohnzimmerfenster. Aus dem Radio hinter ihr kamen Katastrophen-Meldungen und auf der Straße unten liefen Kinder Ski oder zogen einen Schlitten hinter sich her. Wie auf alten Gemälden, dachte Heidi.

Dann hörte sie, dass sich im Lautsprecher des Ortsfunks gleich neben dem Fenster etwas tat. Nach einer verzerrten Musik und einem lauten Knacken und Poltern ertönte die Stimme von Zimmermann, dem Bürgermeister. Er sagte mehrmals hintereinander durch, dass die LPG die Brotversorgung übernommen habe und der Jeep bald im Unterdorf eintreffen müsse. Jede Durchsage des Bürgermeisters, selbst wenn er sie wiederholte, hörte sich anders an, weil Zimmermann erst während des Sprechens anfing zu denken. Erst dann fiel ihm ein, was er den Leuten eigentlich sagen wollte, und so geriet fast jede seiner Ansagen zur Farce. Als der Jeep wenig später auf dem tiefverschneiten, kümmerlich geräumten Lindenplatz hielt, stellte sich Wolfgang zu den Frauen und Kindern, die bei Schnee und Kälte auf Brot und Brötchen warteten.

Wenig später saßen sie gemütlich am Wohnzimmertisch, und Heidi säbelte mit einem großen Messer dicke Scheiben vom frischen Brot ab. Wolfgang, der im Sessel ihr gegenüber saß, schnitt sich von der hartgefrorenen Butter, die zu lange in der winterkalten Küche gelegen hatte, ebenfalls dicke Scheiben ab und legte sie auf das frische, warme Brot.

Heidi saß auf der Couch, im Rücken die zusammengerollten Federbetten. Und als sie nach der Brotzeit am späten Mittag die Betten wegräumen wollte, fragte Wolfgang: „Wozu?“ Er stand auf, machte das Radio aus, das in der Schrankwand vor sich hin dudelte, und drückte Heidi auf die ungemachten Betten.

Es war heller Nachmittag, als sie ihr Liebesspiel beendeten, und von der Straße her kam das Geräusch lärmender Kinder, die sich mit Schneebällen bewarfen.

In diesen Tagen der Abgeschiedenheit bekam Wolfgang wieder Lust, an seinem Stück weiterzuarbeiten. „Bevor du das Kind kriegst, möchte ich damit fertig werden“, sagte er zu Heidi, und während der Februar-Ferien entstand ein Großteil der nunmehr dritten Fassung von „Der Gast oder Der Versuch zu leben“, die er seinem Mentor Ende März zuschickte.

Postwendend kam Landowskys Antwort. „Jetzt sind Sie auf dem richtigen Weg“, schrieb er. „Ja, das werden Menschen. Ich bin glücklich, dass Sie jetzt noch einmal von vorn angefangen haben.“

Es gab wenig, was Landowsky zu monieren hatte. In manchen Szenen gebe es noch Längen und Wiederholungen, merkte er an. Aber das sei kein Problem. Das könne man schnell in Ordnung bringen.

„Der Grundeinfall, den alten Linke bei einem Fußbad über das Leben und Andrés Abenteuerlust philosophieren zu lassen, ist eine Wucht“, fand Landowsky, und er riet Wolfgang dazu, diese gelungene Szene noch auszubauen.

Überhaupt war Landowsky des Lobes voll über die neugeschriebenen Szenen. „Jetzt stimmt die Exposition, und Andrés Entwicklung, die sich durch die Auseinandersetzung mit der Brigade ergibt, ist Szene für Szene ablesbar“, schrieb er. Er sei schon auf den Schluss gespannt, schrieb er, und machte Wolfgang Mut, die Neufassung des Stücks erfolgreich zu Ende zu bringen.

Selbst zu Ostern saß Wolfgang am Schreibtisch vorm Fenster, das zum Lindenplatz zeigte, und schrieb an seinem Stück, von dem er glaubte, dass es bald aufgeführt werde. Heidi hingegen hatte es sich auf der Doppelbettcouch unter der Schräge bequem gemacht und las – möhrenschnurpsend – in der Broschüre „Schmerzlos gebären“.

Als sie auffallend laut in einen Apfel biss und eine Decke auf dem Fußboden ausbreitete, um gymnastische Übungen für Schwangere zu machen, unterbrach Wolfgang das Hämmern auf seine Schreibmaschine.

„Das Beste wird sein, wir machen einen kleinen Osterspaziergang“, sagte er, und so gingen Heidi und Wolfgang am Ostersonntag durch die Felder hinterm Dorf. Heidi war hochschwanger. Als sie am Vordersee vorbeikamen, der voller Jungenten war, blieb Heidi stehen. Dickbäuchig und etwas kurzatmig machte sie am Zaun zur Entenfarm halt. Ein Hühnerhund zog an einer langen Kette und bellte die beiden Spaziergänger an. Aus dem Meer gelbflaumiger Jungenten, die sich zu Hunderten auf der großen Wiese vorm Vordersee tummelten, fischte ein Mann die Kümmerlinge heraus und warf sie gegen die Holzwand der Entenfarm.

Wolfgang hielt Heidi die Augen zu: Sie sollte sich keinen Schock holen. Und das Kind in ihrem Leib sollte kein Rohling werden.

Sie kehrten der Entenfarm den Rücken und gingen auf einem schmalen Sandweg talwärts. Kühe mit prallen Eutern, belästigt von Fliegen und Bremsen, drängten sich bedrohlich an den dünnen Elektrozaun, der Heidi und Wolfgang von der angsteinflößenden Herde trennte.

Nach der Koppel mit den brüllenden Kühen folgte ein Rapsfeld, das zu blühen begann, und Heidi sagte: „Henry soll er heißen, wenn es ein Junge wird.“

„Henry soll er heißen“, wiederholte Wolfgang. Er riet zur Umkehr. Denn es war unheimlich heiß an diesem Sonntagnachmittag, und er hatte Angst, Heidi könnte Probleme kriegen, kurzatmig und füllig, wie sie war.

Als Heidi vier Wochen später ihren Schwangerschaftsurlaub antrat, verließ sie Oberneusitz und kehrte bis zur Geburt ihres Kindes ins Stillmarksche Haus nach Arnsbach zurück. Die Gründe lagen auf der Hand: In Arnsbach gab es eine Hebamme, in Oberneusitz nicht, und innerhalb von fünf Minuten konnte Heidi im Krankenhaus in Birkenhall sein, wenn es die Situation erforderte.

Sie fühle sich in Arnsbach einfach sicherer als hier, sagte Heidi. „Und zur Not kann mir meine Mutter beistehen.“

Wolfgang hatte Verständnis für Heidis Lage und akzeptierte schweren Herzens, dass er bis Ende Juni ein Strohwitwer-Dasein führen musste. Einen Vorteil jedoch hatten die endlos langen Abende, die er jetzt in Oberneusitz verbringen musste: Er hatte viel Zeit zum Korrigieren der Arbeiten, die bis zum Schuljahresende noch durchzusehen waren, und mit dem Umschreiben des Stücks wurde er eher fertig als gedacht.

Landowsky jedoch war vor Spielzeitende als Oberspielleiter von Erfurt nach Cottbus gewechselt. Auf Grund der räumlichen Entfernung sei eine weitere Mentorenschaft nicht mehr möglich, teilte er Wolfgang Mitte Juni mit. Er sei aber überzeugt, dass Wolfgangs Stück in Bälde zur Bühnenreife geführt werden könne. Als Maßstab fürs Schreiben, fügte Landowsky hinzu, könne Wolfgang das Stück „Der Betrug“ dienen, das gegenwärtig noch am Erfurter Schauspielhaus gespielt werde und das er sich unbedingt ansehen müsse.

„Da ich ja nun nicht mehr direkt mit Ihnen zusammenarbeiten kann, habe ich den Chefdramaturgen gebeten, dass sich das Theater und besonders er sich direkt um Sie kümmert. Als Ihr zukünftiger Betreuer wird er ganz sicher in den ‚Arbeitskreis Dramatik‘ kooptiert. Ich bin gespannt, was Sie über das Stück ‚Der Betrug‘ denken. Das Stück wurde von mir mit entwickelt und war wohl mit ein Grund, weshalb ich als Oberspielleiter nach Cottbus berufen wurde.“

Wolfgang staunte nicht schlecht, als er sich das Stück ansah. Schon nach den ersten Szenen merkte er, dass er einem windigen Theatermann auf den Leim gegangen war, dessen Ratschläge er genau befolgt hatte.

Obwohl es in dem Stück „Der Betrug“ um Normenschaukelei und um eine ungerechte Prämienvergabe ging, bestand die Brigade, die Wolfgang auf der Bühne sah, aus Typen wie Massig, Böhlke und Simmel, und es gab auch einen alten Mann, der viel Verständnis für den ungestümen, jungen Helden aufbrachte und ihm während eines ausgiebigen Fußbads, das er nahm, die Welt und das Leben erklärte. Dass dieser alte Mann Böstel und nicht Linke hieß, war nur ein schwacher Trost für Wolfgang.

Und als die Brigade den jugendlichen Empörer, der lautstark für die Durchsetzung der sozialistischen Arbeitsmoral eingetreten war, zum Studium delegierte, trennte er sich von seiner Freundin, einer Kellnerin. Die Ähnlichkeiten zwischen André und Irene in Wolfgangs Stück und dem Bernd und der Helga in „Der Betrug“ waren unverkennbar. Wolfgangs Stück gab es schon, und Landowsky, von dem Wolfgang tief enttäuscht war, hatte ihn als Ideengeber benutzt.

Als die Taxe auf der nächtlichen Chaussee auf Oberneusitz zufuhr, dachte Wolfgang: Vielleicht ist es besser, dass ich Lehrer bin.

Zu Hause angekommen, warf er sich auf die Doppelbett-Couch und weinte und er war froh, dass er alleine war und Heidi nicht mit ansehen musste, was für eine Heulsuse er war.

Dennoch schwor er sich in jener Nacht, seine Theatererfahrungen, die er zum Stückeschreiben brauchte, auf eigene Faust zu sammeln, und insgeheim beschloss er, Dramaturg zu werden.

18. Kapitel

Nach der Geburt ihres Sohnes, der mit vierzehntätiger Verspätung Mitte Juli in Birkenhall zur Welt gekommen war, hatte sich die Lebenssituation für Wolfgang und Heidi grundlegend verändert.

 

Heidi war zu Hause, wusch Windeln und bügelte Baby-Sachen. Nur durch das Radio, das Musik und Nachrichten brachte, war sie mit der Welt verbunden. Aber wenn Reklame-Sprüche West („Was eine ideale Hausfrau unbedingt braucht“) oder Kommentare Ost über „Die Frau im Sozialismus“ kamen, machte sie sofort das Radio aus. Idiotische Werbung und plumpe Agitation ertrug sie nicht.

Henry, der, im Stubenwagen sitzend, auf einer Gummipuppe kaute, sah ihr zu, wie sie mit dem Staubsauger über die Auslegeware fuhr, und beim Entstauben der Bücher im Gelben Salon stieß Heidi auf alte Hefter aus ihrer Studienzeit und Brechts „Lied von der Kapitulation“. Es war bitter, aber sie musste lachen, wenn sie daran dachte, dass sie ihre Staatsexamensarbeit über das Weltbild Hölderlins und die tatenarmen, gedankenschweren Deutschen geschrieben hatte.

Warum habe ich eigentlich studiert, fragte sie sich, wenn ich in diesem Dorf rumhänge und nur sechs Stunden Englisch in der Woche geben kann? Wehmütig griff sie nach den Briefen mit den gutgemeinten Ratschlägen, die ihre Mutter ihr gab. Sie probierte die vorgeschlagenen Kochrezepte aus und achtete peinlichst genau darauf, dass das Mittagessen pünktlich auf dem Tisch stand, wenn Wolfgang aus der Schule kam.

Wenn Henry schrie, sah sie besorgt nach ihm. Sie griff nach den Windeln und weichte sie im Windeltopf ein. Nachdem sie Henry frisch gewickelt hatte, gab sie ihm die Flasche.

Als die ersten Herbststürme kamen, Regen gegen die Scheiben klatschte, wurde Heidi von einem gewaltigen Stimmungstief heimgesucht. Ihr missfiel alles, und Wolfgang gelang es nicht, sie zu trösten. Denn Heidi fühlte sich ausgeschlossen vom Leben in der Schule, vom Leben im Dorf, von der Welt, und sie sah keine Perspektive für sich.

Sechs Stunden Unterricht in der Woche, sonst hörte und sah Heidi nichts von der Welt, und das ging ihr auf die Nerven. „Zuerst genießt du die Ruhe, aber dann bringt sie dich um“, sagte sie. „Zuerst ist man froh, dass man eine Wohnung hat, aber dann erkennt man, was das für eine Wohnung ist, und man weiß, warum man sie so leicht bekommen hat.“

Wolfgangs Versuch, die Widrigkeiten des Alltags herunterzuspielen, schlugen fehl. Heidi hörte nicht auf, die untragbaren Zustände zu beklagen. „Wenn du denkst, jetzt könntest du den Kleinen baden, ist plötzlich das Wasser weg, und wenn du denkst, jetzt könntest du einkaufen gehen, hat der Konsum, die einzige Verkaufsstelle im Dorf, garantiert geschlossen, und da merkst du, wohin es dich eigentlich verschlagen hat“, sagte sie. „Und wenn ich daran denke, dass es in Oberneusitz keine Kinderkrippe und keinen Kindergarten gibt und alles so weitergehen soll wie jetzt, könnte ich mir den Strick nehmen.“

Sechs Jahre lang nur auf den Haushalt und das Kind festgelegt zu sein und im Höchstfall sechs Stunden Unterricht in der Woche geben zu können, hielt Heidi für unzumutbar, und auch für Wolfgang wurde die schulische Situation in diesem zweiten Jahr Oberneusitz immer prekärer.

Als der Direktor einen Ersatz für Heidi gefunden hatte und es dadurch plötzlich zu einem Lehrerüberhang im Fach Deutsch kam, erwog Sandruschek ernsthaft, aus Wolfgang einen Hauptsportlehrer zu machen. Dass Wolfgang andere Ambitionen hatte, schien den Direktor nicht zu interessieren. Gemeinsam mit dem Kreisturnrat, der extra aus Erfurt angereist war, versuchte Sandruschek vergeblich, Wolfgang auf den gewünschten Kurs zu bringen.

Wolfgang sagte, dass er zwar das Fußballtraining der Schulmannschaft leiten könne, aber sonst sportlich eine Null sei. „Von daher eigne ich mich keinesfalls zum Hauptsportlehrer“, meinte er, und Sandruschek und der Kreisturnrat waren mächtig sauer, weil Wolfgang den bereits vorbereiteten Qualifizierungsvertrag nicht unterschrieb.

„Ich habe Deutsch und Geschichte studiert. Und das habe ich aus gutem Grund getan“, sagte er. „Und da möchte ich schon fachgerecht eingesetzt werden.“

Falls mal ein Lehrer, der Sport gebe, ausfalle, würde er natürlich einspringen, erklärte er noch bereitwillig. Aber das genügte Sandruschek nicht.

Mit so viel Sturheit habe er nicht gerechnet, sagte der Direktor verärgert. Der Kreisturnrat zeigte sich äußerst enttäuscht darüber, dass ein junger Lehrer nicht bereit sei, den Gegebenheiten einer kleinen Landschule Rechnung zu tragen. „Sportunterricht kann jeder junge Lehrer geben, ob er nun ein Ass im Turnen war oder nicht“, meinte er. Das sei nur eine Frage der Einstellung.

„Ich denke, dass das nicht das letzte Gespräch über Ihre Perspektive an dieser Schule gewesen sein wird“, sagte der Kreisturnrat, als er sich von Wolfgang verabschiedete.

Sport statt Stückeschreiben kam für Wolfgang nicht in Frage, und er widersetzte sich vehement Sandruscheks Plan, aus ihm einen Hauptsportlehrer zu machen. Immer häufiger lehnte er sich in den Dienstbesprechungen über Sandruschek und seinen autoritären, selbstherrlichen Leitungsstil auf.

Aber eine Anweisung Sandruscheks hatte Wolfgang strikt zu befolgen: Er musste an jeder Gemeinderatssitzung in Oberneusitz teilnehmen und die Belange der Schule vertreten, was höchst selten nötig war. Auch hatte Wolfgang dem Direktor über jeden Besuch des Gemeinderates kurz zu berichten. Denn Sandruschek wollte unbedingt wissen, wie der Gemeinderat tickte, um für die Schule das Maximale an kommunaler Unterstützung herausholen zu können.

So besuchte Wolfgang auf Geheiß von Sandruschek seit einem Jahr die Gemeinderatssitzungen, und wenn es nicht so traurig gewesen wäre, hätte man laut loslachen können. Denn jedes Mal wurde sich fürchterlich über dieselben Dinge gestritten, und jedes Mal, egal, was auf der Tagesordnung stand, meldete sich der Feuerwehrhauptmann Bartsch zu Wort und forderte, was er immer forderte: eine Kleiderkammer für die Freiwillige Feuerwehr das Dorfes.

„Kameraden“, rief er, als gehe es in eine Schlacht. Der Bürgermeister versuchte jedes Mal, die allbekannten, wortreichen Angriffe des Feuerwehrhauptmanns abzuwehren, indem er mit seinen großen, klobigen Händen ratlos in der Luft herumfuchtelte. Es gäbe keinen Raum in der Gemeinde, den er der Feuerwehr zur Verfügung stellen könne. Und das Jugendzimmer, auf das Bartsch spekuliere, sei tabu.

Dass das Jugendzimmer nur zum Hören lauter Musik und zum heimlichen Saufen benutzt würde, wies der Bürgermeister zurück. In der sozialistischen Gesellschaft müsse sich die Jugend frei entfalten können, erklärte Zimmermann kategorisch, und alles lachte.

Die ständigen Querelen zwischen Bartsch und Zimmermann, die sich unheimlich lange hinziehen konnten und jegliche Tagesordnung sprengten, fand Wolfgang unerträglich. Aber noch unerträglicher fand er es, dass Sandruschek ihn zum Hauptorganisator eines Sportfestes am „Tag der Republik“ verdonnert hatte, für das er die Jugendlichen und Erwachsenen des ganzen Dorfes begeistern sollte.

Nachdem Wolfgang im Gemeinderat erläutert hatte, dass es sich bei diesem Sportfest um einen Fernwettkampf zwischen allen Landgemeinden republikweit handle, an dem möglichst viele Erwachsene jeglichen Alters teilnehmen sollten, sahen sich alle Gemeindevertreter etwas erstaunt an.

Hocke, der LPG-Vorsitzende, sagte süffisant: „Ich weiß nicht, ob die Frauen, die im Schweinestall arbeiten und um die fünfzig sind, ein großes Interesse am Weitsprung oder am 100-Meter-Lauf haben.“ Alles lachte.

„Aber Kugelstoßen, das müsste doch gehen“, sagte der Vorsitzende der BSG Traktor Oberneusitz. Er zeigte sich aufgeschlossen gegenüber den Fernwettkämpfen der Landgemeinden und versprach hoch und heilig, dass alle Fußballer sich daran beteiligen würden.

Das zeige, dass die Sportler der Betriebssportgemeinschaft den Staatsratsbeschluss über Körperkultur und Sport richtig verstanden hätten, meinte der Bürgermeister. Er sagte Wolfgang seine volle Unterstützung zu und hoffte auf eine große Beteiligung am Sportfest.

Nach der Gemeinderatssitzung setzte sich Wolfgang noch ein bisschen an den Tisch zu dem Vereinsvorsitzenden der BSG Traktor, dem LPG-Vorsitzenden, dem Bürgermeister und dem stumpenpaffenden Feuerwehrhauptmann, die an diesem Abend nur ein Ziel hatten: sich gegenseitig unter den Tisch zu saufen.

Als Wolfgang Stunden später die schmale Korridortreppe hoch polterte, merkte er, wie betrunken er war. Bevor er sich ins Bett neben Heidi legte, holte er aus der Küche einen Eimer und stellte ihn neben sein Bett. Durch Wolfgangs lautes Hantieren wurde Heidi wach, und es dauerte nicht lange, und Wolfgang musste sich übergeben.

Henry fing zu weinen an, und Heidi sagte erbost: „Eine Zumutung ist das!“, und wechselte mit Henry vom gelben in den blauen Salon.

„Hilf mir doch“, rief Wolfgang mit dem Kopf überm Eimer. Aber Heidi reagierte nicht. Am „Tok Tok“ hörte sie, dass der alte Sickel aus der Kneipe kam, und sie hörte, wie sich Wolfgang im Nebenzimmer erbrach und nach ihr rief.

Henry lag neben ihr auf der blauen Ausziehcouch unter der Schräge, und Heidi steckte ihm den Nuckel in den Mund, um ihn zu beruhigen.

Wolfgang, im Zimmer nebenan, hing mit dem Kopf über dem Eimer. „Ich kann nicht mehr“, sagte er wehleidig. „Hilf mir doch!“ Er hörte, wie eine der ungezählten Mausefallen, die er auf dem Korridor aufgestellt hatte, zuschnappte, und er hörte, wie der alte Sickel seine Krücken unüberhörbar laut auf dem Pflaster aufsetzte. Der Beckmann aus „Draußen vor der Tür“ geisterte durch Wolfgangs versoffenes Gehirn, und jedes Mal, wenn er das Geräusch der Krücken auf dem Pflaster vorm Haus hörte, lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter. Es war ein Gefühl der Ohnmacht und der Angst, einer Maschinerie ausgesetzt zu sein, die den Menschen deformiert.

Am nächsten Morgen stand Wolfgang vor dem Spiegel, der über dem Waschbecken in der Küche hing. Brechreiz schüttelte ihn, und er unterbrach das Rasieren.

Heidi, die grußlos hereingekommen war, stand vorm Gaskocher und machte in einem Emailletopf Henrys Flasche warm.

„Saufen und kotzen – das ist alles, was du kannst“, sagte sie und probierte, ob Henrys Baby-Milch warm genug war.

„Nicht zum Aushalten ist das“, Heidi verließ angewidert die Küche, und Wolfgang, der mit Sandruschek im Clinch lag, weil er sich nicht fügen wollte, wie er sich früher immer seinem Vater hatte fügen müssen, gab Heidi Recht. Er sah ein, dass sie in Oberneusitz keine Perspektive hatten und irgendwas passieren musste.