Leben ohne Maske

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

5. Kapitel

Kurz vor Weihnachten nahm Hetzel Wolfgang beiseite und sagte ihm, dass er unbedingt eine öffentliche Erklärung abgeben müsse, warum „Der weite Weg“ von Arbusow abgesetzt worden sei. Auf der Fachschaftsversammlung Anfang Januar sei dafür die beste Gelegenheit, meinte Hetzel und drückte Wolfgang eine Rede aufs Auge, die gewissenhaft vorbereitet sein wollte. Denn das Absetzen eines sowjetischen Stücks stellte zu dieser Zeit ein Politikum dar. Als ihm dann noch die Kluin (sprich: Tamara) eröffnete, über die Weihnachtsfeiertage müssten 30 Seiten Russisch übersetzt werden, sonst gäbe es die Teilnahmebestätigung für den Russisch-Kurs nicht, drehte Wolfgang durch. Alles schien ihm über den Kopf zu wachsen. Es sei eine Schikane, über die Weihnachtsfeiertage eine solche Aufgabe aufzugeben, schrie er. „Wer mich sprechen will, findet mich in Alt-Jena“, brüllte er und verließ den Raum.

Nach Wolfgangs Auftritt, der die Russisch-Tante mächtig erbost hatte, kam Wachsmuth ins „Alt-Jena“, setzte sich an Wolfgangs Tisch und sagte: „Saufen ist keine Lösung.“

„Ich werde die Scheiße nicht mitmachen, und wenn ich geext werde“, sagte Wolfgang.

Wachsmuth versuchte, ihn zu beruhigen. Er habe da zwei Slawistinnen an der Hand, die ihnen die 30 Seiten bis nach den Weihnachtsfeiertagen übersetzen würden, sagte er.

„Meinst du, die machen das für uns?“

„Auf jeden Fall“, sagte Wachsmuth. „Von Tamara lassen wir uns doch das Leben nicht vermiesen“, und er bestellte zwei doppelte Wodka.

In der Fachschaftsversammlung des Germanistischen Instituts waren die organisatorischen Fragen, die das Frühjahrssemester betrafen, schnell geklärt und so nahm sich Hetzel als FDJ-Hochschulsekretär das Recht heraus, eine Stunde lang über das Thema „Klassenstolz und Nationalbewusstsein“ zu referieren.

„Junge Leute sprechen nicht gerne über ihre Gefühle“, konstatierte Hetzel. „Aber als wir kürzlich mit der Studentenbühne in Berlin waren, kamen zwei unserer Leute mit Westberlinern ins Gespräch, und am nächsten Tag sprachen sie darüber. Einer sagte, so aktiv und parteilich habe er sich selbst noch nie im Gewi-Seminar erlebt“, Hetzel frohlockte. „Bei solchen Anlässen merkt man eben doch, dass wir uns alle schon als Bürger der DDR fühlen und nicht auf die verlogene Losung ‚Wir sind doch alle Deutsche‘ hereinfallen.“

Das Stichwort „Studentenbühne“ war gefallen, und am Ende seiner äußerst zähen Ausführungen, die niemanden vom Hocker gerissen hatten, erteilte Hetzel Wolfgang das Wort.

Da alle sehnsüchtig darauf warteten, dass bald Schluss war, sagte Wolfgang: Obwohl die Geschichte, die sich mit dem Stück „Der weite Weg“ verbinde, eine endlose sei, wolle er sich kurzfassen, und er erklärte, warum die Studentenbühne das Stück abgesetzt habe.

„Ende November, die erste Durchlaufprobe des ersten Aktes war bereits erfolgt, erfuhren wir, dass wir nicht mehr für die Arbeiterfestspiele nominiert sind“, berichtete er. „Daraufhin setzten wir das Stück ab, obwohl wir schon viel Arbeit in dieses Vorhaben investiert hatten.“ Dass die Stimmung nicht rosig sei und der letzte Optimist sich pessimistisch zu färben beginne, ließe sich wohl denken. Aber vom Auseinanderfallen der Studentenbühne könne nicht gesprochen werden, erklärte Wolfgang.

„Wie nun weiter in dieser misslichen Lage, in die wir unverschuldet gekommen sind?“, Wolfgang versuchte, eine Antwort zu geben: „Im Moment sind wir dabei, ein brauchbares Konzept für unsere künftige Arbeit zu finden. Schade ist, dass die Aufführungen, die auf dem internationalen Studentenbühnentreffen in Zagreb 1966 gezeigt wurden, für uns kein Maßstab sein können.“

Die Studentenbühnen der westlichen Länder würden sich auf die Darstellung sexuell gehemmter Menschen versteifen und ergingen sich in Schilderungen pathologischer Fälle, zitierte Wolfgang aus dem Bericht einer Hallenser Beobachtungskommission. „Die Studentenbühnen versuchten, den primitiven, erotischen Bedürfnissen des Publikums gerecht zu werden, und die Würzburger Studentenbühne ging sogar so weit, auf der Bühne eine vollkommene Striptease-Show aufzuführen, um sich finanziell zu sanieren, wie die Vertreter nach dem skandalösen Abbruch der Veranstaltung bekannt gaben.“

„Aber das, was sich gegenwärtig als Trend abzeichnet, entspricht nicht unseren Intentionen“, fuhr Wolfgang fort, ohne dass er verriet, wie der Spielplan aussehen sollte, der ihm bereits vorschwebte. Die zornigen jungen Männer, die in England für Aufsehen sorgten, wollte Wolfgang auf die Bühne bringen, und er dachte dabei an John Osbornes „Blick zurück im Zorn“.

Wenn er auch noch nicht wisse, welches Stück als Nächstes aufgeführt werde, so wisse er mit Bestimmtheit, dass Ende des Monats das Programm „Oktoberlyrik“ im Studentenkeller Premiere habe, schloss Wolfgang. „Das zeigt doch, wie irrig es ist, uns nach dem Absetzen des Stücks ‚Der weite Weg‘ antisowjetische Tendenzen unterstellen zu wollen.“

Nach der Rede, die Wolfgang vor der Fachschaft gehalten hatte, machte ihn Wachsmuth mit den zwei Studentinnen bekannt, die ihnen die 30 Seiten Russisch übersetzt hatten. Schon während des Vorstellens verknallte sich Wolfgang in die füllige Slawistin mit den prallen Lippen. Sie hieß Judith.

Wolfgang sagte, dass er sich fürs Übersetzen revanchieren wolle. Er wolle einen ausgeben, sagte er, und Wachsmuth, Wolfgang, Judith und ihre unscheinbarere Freundin wechselten vom Hörsaal 13 in die „Sonne“, das erste Haus am Platz.

Sie machten mächtig einen drauf und ließen sich die grünen und blauen Cocktails schmecken, die Wolfgang spendierte.

Judith sagte, dass sie für Jewtuschenko schwärme, und Wolfgang drehte sich ihr zu. An der Bar der „Sonne“ sitzend, rezitierte er: „Du flüsterst, so blass, schwach, schwer. Und was nachher?“

Gegen Mitternacht brachen sie auf, und Wolfgang brachte Judith nach Hause. Das Mädchenwohnheim lag am Rande der Stadt und beim Abschiednehmen küssten sie sich. Wolfgang schob Judith seine Hand unter den mit Seide gefütterten dicken Wollrock und spürte die weiche Innenfläche ihrer Schenkel. Judith konnte herrlich küssen. Ihr Mund saugte sich fest und ließ ihn nicht wieder los. Es machte ihm nichts aus, dass er die letzte Straßenbahn verpasste und nun einen zweieinhalbstündigen Nachhauseweg vor sich hatte, und er hatte auch keine Angst, an dem langen Bretterzaun vorbei gehen zu müssen, hinter dem in tiefster Dunkelheit eine Russenkaserne lag.

„Oktoberlyrik“ war das Programm überschrieben, das bald darauf im Studentenkeller Premiere hatte. Edda hatte es zusammengestellt. Obwohl der Titel einen hausbackenen Eindruck machte, steckte es voller unterschwelliger Botschaften, die pur nicht hätten ausgesprochen werden können, und es hatte nichts mit politisch-plakativen Gedichten zu tun, wie sich das der FDJ-Hochschulsekretär Hetzel vorgestellt hatte.

Da Edda wusste, dass sowjetische Lyrik die Leute nicht von den Sitzen riss, hatte sie einige provokante Gedichte von Jewgeni Jewtuschenko ausgewählt, die eine Art Chiffre waren und erlaubten, auszusprechen, was in der DDR unter der Decke schwelte. So wurden Bonzen gegeißelt und Apparatschiks karikiert.

Biene, Wolfgang und Mike, die schon beim Heine-Abend erfolgreich zusammengearbeitet hatten, waren jedenfalls froh, dass es den Russen Jewtuschenko gab. Seine Gedichte erlaubten es ihnen, öffentlich zu lesen, was sie fühlten und dachten, ohne sich selbst ins Schussfeld SED-treuer Assistenten oder Dozenten zu bringen. In einer Zeit des Aufbegehrens und des Zorns gegen den politischen Dogmatismus benutzten sie die Gedichte für ihre eigenen Zwecke, und die Verse Jewtuschenkos waren Wolfgang wie auf den Leib geschrieben.

Wolfgang trug Schlaghosen, hatte die Beatles im Ohr und rebellierte gegen die Väter-Welt. Er versuchte, Jewtuschenkos Draufgängertum an den Tag zu legen, und gefiel sich in der Rolle des zornigen jungen Mannes. Es machte ihm Spaß, die Gedichte Jewtuschenkos wirkungsvoll an den Mann zu bringen, in denen persönlichste Gefühle wie Enttäuschung, Einsamkeit und Depression zum Ausdruck kamen und so verstand es sich von selbst, dass er während des Rezitierens den Blick auf Judith gerichtet hatte, die in der ersten Reihe vor dem kleinen, flachen Bühnenpodest saß. „Es findet stets sich eine Frauenhand, / damit sie kühl und leicht und unverwandt, / aus Mitleid mehr als auf der Liebe Wink, / wie einen Bruder dich zur Ruhe bring“, rezitierte Wolfgang und sah dabei Judith in die großen, braunen Augen.

Mike Mutzke sprach die Verse von Andrei Andrejewitsch Wosnessenski, einem kleinen Russen, der in Amerika mit Allen Ginsburg in einem Stadion aufgetreten war und mit seinen Amerika-Gedichten den Wortführer der Beatgeneration an die Wand gespielt hatte.

Am Ende der Veranstaltung ließ Biene einen Hut herumgehen. Die eine Hälfte der Einnahmen kam in die Kasse der Studentenbühne, die andere Hälfte wurde, wie es Sitte war, versoffen.

Nach Veranstaltungsschluss saßen Wolfgang und Mike noch lange auf den unbequemen, kleinen Holzhockern in einer der Kellernischen und klönten. Ab und an griffen sie nach den großen Bierhumpen, die sie neben sich auf dem flachen Bühnenpodest abgestellt hatten.

„Ich hätte nicht gedacht, dass dieses Programm einen solchen Zuspruch finden würde“, sagte Wolfgang. Mike meinte: „Nach dem Erfolg heute Abend könnten wir doch mal einen Lyrikabend mit eigenen Gedichten machen.“ Bis März sei Zeit genug, sagte er. Gedichte seien genug da, man müsste sie nur geschickt zusammenstellen.

Wolfgang ließ sich auf Mikes Vorschlag ohne großes Nachdenken ein, denn er merkte, dass Judith gehen wollte.

„Abgemacht“, sagte Mike.

„Abgemacht“, sagte Wolfgang, der es äußerst eilig hatte, Judith zu folgen.

 

Auf der Straße, sie waren auf dem Weg zur Straßenbahn, sagte Judith: „Du warst großartig.“

„Ich bin immer großartig.“ Wolfgang glaubte, dass er Judith an diesem Abend rumkriegen könnte.

Nachdem er Judith vor der Tür des Mädchenwohnheimes lange genug geküsst, ihr ungeniert unter den Rock gegriffen und sie nach allen Regeln der Kunst befummelt hatte, nahm er an, dass sie ihn mit nach oben in ihr Zimmer nehmen würde. Aber Judith löste sich aus seiner Umarmung und stieß ihn weg. Sie habe einen festen Freund, eröffnete sie ihm. Er sei Ingenieur und älter als sie.

Wolfgang ließ von Judith ab. Wieder einmal hatte er das Gefühl, jämmerlich versagt zu haben.

In der Folgezeit entstanden eine Reihe von Weltschmerzgedichten über unglückliche Lieben, die Wolfgang an jenem Lyrikabend vortrug, zu dem Mike ihn überredet hatte.

Eine Stunde lang trugen Wolfgang und Mike ihre Gedichte im überfüllten Studentenkeller vor, und Wolfgangs Gedichte waren allesamt Liebeserklärungen, zu denen er im wirklichen Leben nicht fähig war. Dass Edda und Judith an diesem Abend nicht in den Studentenkeller gekommen waren, enttäuschte ihn maßlos.

Waren nicht fast alle Gedichte ihnen gewidmet?

„Obwohl dieser Abend ein Erfolg war, werde ich keine Gedichte mehr schreiben“, sagte Wolfgang zu Mike. „Und die Weiber können mir gestohlen bleiben.“

Mike sah ihn entgeistert an. Für ihn, der selbst feinfühlige Verse schrieb, war Wolfgang ein begnadeter Lyriker: „Doch nicht, weil ein FDJnik wie Hetzel meint, in einer Gesellschaft, die alle Grundlagen für die Entfremdung des Menschen überwunden habe, sei kein Platz für die Literatur der Einsamkeit?“

„Es hat mit Hetzel, diesem Blödling, der keine Ahnung von Literatur hat, nichts zu tun“, sagte Wolfgang. „Ich habe einfach das Gefühl, mein großes Ziel, Theaterdichter zu werden, aus den Augen verloren zu haben“ In Zukunft werde er sich nur noch aufs Studium und aufs Stückeschreiben konzentrieren, kündigte er an. „Das Bearbeiten und Inszenieren von Stücken, die uns aufoktroyiert werden, führt zu nichts!“ Er habe sich entschlossen, selbst ein Stück zu schreiben. Im vierten Studienjahr komme man nicht mehr zum Theaterspielen, deshalb sei das dritte Studienjahr am geeignetsten, einen solchen Plan umzusetzen. Mit der Uraufführung des Stücks wolle er sich einen würdigen Abgang aus Jena verschaffen und sich als Dramatiker einen Namen machen.

Mike hörte erstaunt zu, als Wolfgang das erste Mal laut über sein Stück nachdachte: „Ich denke, dass ich den Entwurf im Oktober fertig habe und im April 1968 die Uraufführung sein könnte.“

„Und wenn du es bis Oktober nicht schaffst?“

„Auch nicht schlimm.“ Von Schwedt her wisse er, wie es gehe, wenn ein Stück noch während der Proben fertig geschrieben werde. Das Stück heiße „Der Gast oder Der Versuch zu leben“, verriet Wolfgang. „Es ist ein Fünf-Personen-Stück, und ich werde Autor, Regisseur und Hauptdarsteller sein. Die anderen Rollen werden Doris, Biene, Edda und Wachsmuth spielen.“ Und damit er das nötige Handwerkszeug habe, werde er das Dramenseminar bei Frau Professor Doktor Wertheim belegen.

„Ich denke, du stehst auf Osborne, Araball und den jungen Brecht?“

„Das mag sein, dass ich Osborne verehre, weil ich gerne ein solch zorniger junger Mann wäre wie er, und dass ich nicht genug von Brechts ‚Baal‘ kriegen kann, stimmt auch“, sagte Wolfgang. „Und für Fernando Araball begeistere ich mich so, weil ich mal einen Filmbericht über ihn gesehen habe. Er saß in einer Badewanne und vor ihm, auf einem Brett, stand eine Schreibmaschine, auf die er mit zwei Fingern eindrosch. Während er, an seinem Stück schreibend, in der Wanne saß, sprangen zwei schöne Weiber um ihn herum und gossen warmes Wasser nach. Und wenn ihm nicht gefiel, was er geschrieben hatte, zog er das Blatt aus der Maschine, zerknüllte es zu einer Papierkugel und fraß sie auf.“

„Im Seminar ‚Klassisches Drama‘ wird das nicht gefragt sein“, stellte Mike belustigt fest.

„Aber das schließt doch nicht aus, dass man sich fit machen kann fürs Stückeschreiben. Von Schiller, glaube ich jedenfalls, kann man eine Menge lernen.“

„Das mag sein“, sagte Mike. „Und du willst wirklich keine Gedichte mehr schreiben?“

„Nein“, sagte Wolfgang. „Und von den Weibern habe ich auch die Schnauze gestrichen voll.“

Zweiter Teil (1967 bis 1969)

6. Kapitel

Schon eine Woche später hatte Wolfgang vergessen, was er Mike über das Gedichteschreiben und die Frauen gesagt hatte. Da nämlich begegnete er Heidi zum ersten Mal.

Er saß im Arbeitsraum des Germanistischen Instituts, und Heidi, die sich auf ein Hölderlin-Seminar vorbereitete, sah sinnend vor sich hin. Sie schien so in Gedanken zu sein, dass sie gar nicht mitbekam, wie lange Wolfgang sie durchdringend musterte.

Heidi hatte große, hellblaue Augen, und was er von ihrer Brust unter ihrem langärmligen rosa Strickpullover sehen konnte, gefiel ihm sehr.

Als sie aufstand und ihre Bücher in die Bibliothek zurückbrachte, sah er sie von hinten. Er sah ihre auffallend breiten Hüften und wie gebannt starrte er auf ihren Hintern. Als sie zurückkam, auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz war, sah er ihre breiten Schenkel, die sich unter ihrem schwarzen Rock abzeichneten. Was für eine Frau, dachte er, und als sie wenig später im Seminarraum nebenan verschwand, fragte Wolfgang Lieschen, die studentische Hilfskraft war, wer die Studentin mit dem schwarzen Rock und dem rosa Pullover gewesen sei.

„Meinst du Heidi?“, fragte Lieschen, die in der Studentenbühne für die Requisiten zuständig war, weil sie lispelte. „Ich meine die mit den wasserblauen Augen und dem herrlichen Hintern, wenn du es genau wissen willst“, sagte Wolfgang.

„Das ist Heidi. Heidi Stillmark. Drittes Studienjahr Englisch/Deutsch. Und sie wohnt mit mir auf einem Gang“, sagte Lieschen. „Ich bezweifle aber stark, dass du an sie rankommst. Sie ist äußerst zurückhaltend. Und weil es ziemlich umständlich sein muss, nach Arnsbach zu kommen, wo sie wohnt, fährt sie nur alle drei Wochen nach Hause. Hab ich jedenfalls gehört.“

Auf der nächsten Heimfahrt, es war an einem Freitagnachmittag, wollte es der Zufall, dass Wolfgang, Heidi und der dicke Höhn im selben Abteil saßen. Und da der Zug zwischen Jena und Erfurt an diesem Tag dreieinhalb Stunden brauchte, weil es kurz vor Weimar einen Schienenbruch gegeben hatte, war genügend Zeit, miteinander ins Gespräch zu kommen.

Rudi Höhn, der aus Meiningen stammte, kannte Heidi von den ungezählten Heimfahrten vorher.

„Das ist Heidi“, sagte er. „Sie kommt aus dem Wald wie ich.“

„Was unschwer an dem rollenden R zu erkennen ist“, fügte Heidi hinzu.

„Bis nach Zella-Mehlis fahren wir zusammen“, sagte Rudi. „Dann heißt es für Heidi umsteigen.“

Heidi erzählte, dass sie von Zella-Mehlis aus noch gute anderthalb Stunden brauche, bis sie zu Hause sei. Zuerst gehe es auf einer einspurigen Nebenstrecke bis zur ersten Haltstelle in Birkenhall, und von da aus müsse sie zu Fuß drei Kilometer zurücklegen, bevor sie in Arnsbach sei, einem kleinen Dorf, das in einem schmalen Seitental des Thüringer Waldes liege.

Nachdem Wolfgang erfahren hatte, wo Heidi zu Hause war, riss der dicke Höhn das Wort wieder an sich und machte Heidi mit Wolfgang bekannt.

„Das ist Wolfgang Bruckner“, sagte er und wies mit einer großen Geste auf Wolfgang. „Seine Gedichte, die er schreibt, sind nicht zu verachten.

Theater spielt er auch, und er trägt sich sogar mit dem Gedanken, ein Stück zu schreiben.“

„Ein Dichter also“, sagte Heidi etwas ironisch, und Wolfgang erwiderte:

„Rudi trägt immer mächtig dick auf.“

„Nur nicht das Licht unter den Scheffel stellen“, sagte Rudi. Dann verließ er das Abteil, um auf dem Gang eine Zigarette zu rauchen.

Heidi vertiefte sich wieder in ihre Tucholsky-Lektüre, die sie kurzzeitig unterbrochen hatte.

Wolfgang hingegen, der Heidi genau gegenüber saß, schwieg und starrte wie hypnotisiert auf Heidis Beine und ihre geschlossenen Knie. Er hatte das Gefühl, dass es mit den Frauen und dem Gedichteschreiben auf keinen Fall vorbei war. Es schien ihm, als stehe er vor einem folgenschweren Neubeginn.

Als Rudi nach seiner Raucherpause wieder ins Abteil kam, verwickelte er Wolfgang sofort in ein Gespräch über den Germanistenball.

„Für das beschissene Programm bin ich nicht verantwortlich“, sagte Wolfgang. In einer Szene, die im Olymp spiele, müsse er mit einem Nachthemd auf der Bühne herumspringen und, warum auch immer, „Konfetti, Konfetti“ schreien. Mehr als peinlich sei das.

„Lassen wir uns überraschen“, sagte Höhn, und Heidi, die von ihrem Buch aufsah, meinte: „Ganz so schlimm wird es schon nicht werden.“

Bevor Wolfgang sich mit einem saloppen „Tschüss“ von Rudi und Heidi verabschiedete und den Zug in Erfurt verließ, drückte er Heidi eine Einladung für den Germanistenball in die Hand, auf der in verschnörkelt-alter Schrift geschrieben stand:

„Wird ein großer Spannungsbogen

straflos von ihm zu ihr gezogen,

so stimmt das nur in einem Fall:

Bezugsfeld Germanistenball.“

Für Wolfgang wäre der Germanistenball stinklangweilig gewesen, hätte es da nicht Heidi gegeben, die er sofort mit an die Bar zerrte und in ein Gespräch über die „lost generation“ und Hemingway zu verwickeln versuchte.

Aber Heidi war kein Hemingway-Fan. Vielmehr hatte sie sich für das Kontrastprogramm zur „lost generation“ entschieden. Sie schreibe ihre Staatsexamensarbeit über Max Walter Schulz und dessen Buch „Wir sind nicht Staub im Wind“, sagte sie. Der Untertitel laute: „Roman einer unverlorenen Generation.“

Wolfgang war baff. Eine Anglistin, die über DDR-Gegenwartsliteratur schrieb, war ihm bisher noch nicht untergekommen. Und völlig verblüfft war er, als Heidi ihm erklärte, dass sie sich besonders für Mittelhochdeutsch interessiere, weil das ihrem Dialekt am nächsten käme.

Irgendwie fällt sie total aus dem Rahmen, dachte Wolfgang, und fand Heidi ungemein anziehend.

Sie hatte ein grünes Samtkleid an, das tief ausgeschnitten war und ihre weiblichen Formen betonte. Von ihren Beinen bekam Wolfgang nur etwas mehr zu sehen, wenn Heidi bei „Baby, Baby, balla, balla“ in die Hocke ging und dabei ihre Knie heftig nach rechts und links schwang. Es schien ihr zu gefallen, wie Wolfgang sie beim Rock and Roll auf der Tanzfläche umherschleuderte.

Als sie wieder auf ihren Barhockern saßen, achtete sie peinlichst genau darauf, dass ihr Kleid nicht zu weit übers Knie rutschte, wenn sie sich Wolfgang beim Cocktailtrinken etwas zudrehte. Vielleicht war es ihrer prüden Erziehung geschuldet, dass sie mit ihren Reizen so geizte, dachte Wolfgang. Sie schien sich sogar für ihren etwas zu breit geratenen Hintern zu schämen.

Vom ersten Augenblick an wusste Wolfgang: die oder keine. Das Gute am Germanistenball, auf dem es unheimlich laut zuging, war, dass man die Köpfe ganz dicht zusammenstecken musste, wenn man verstehen wollte, was der andere sagte.

„Im Dorf kennt jeder jeden, und die Leute sind äußerst nachtragend“, sagte Heidi. So werfe man ihr Hochnäsigkeit vor, weil sie sich mit den Jungen, die mit ihr in die Schule gegangen seien, nicht abgegeben habe. Und seit sie einem Burschen, der mit ihr Kirmes machen wollte, einen Korb gegeben habe, halte man sie für eine arrogante Ziege.

Auf ihn wirke Heidi äußerst zurückhaltend und bescheiden, sagte Wolfgang. Er hätte nicht vermutet, dass sie in ihrem Heimatdorf als hochnäsig und arrogant galt. „In der Stadt ist das anders“, fuhr er fort. „Da schert sich keiner um den anderen.“

„Die Typen auf dem Dorf sind meistens äußerst langweilig“, sagte Heidi. „Da brauche ich ja nicht zu befürchten, dass du schon vergeben bist.“

„Wär‘ das schlimm?“

„Ich tue mich schwer mit Frauen, die schon in festen Händen sind.“

„Warum?“

„Aus falscher Rücksicht? Aus einer gewissen Angst heraus?“

„So ängstlich siehst du nicht aus.“

„Man kann sich auch täuschen“, Wolfgang trank einen Schluck. „Du glaubst gar nicht, was für eine Angst ich vor Hunden habe.“

„Diese Angst kenne ich beileibe nicht“, auch Heidi griff zum Glas. „Mein Vater ist Hundezüchter. Im Moment hat er sieben Dackel.“

„Das kann ja heiter werden“, sagte Wolfgang, „wenn ich mal bei euch aufkreuze.“

„Bis dahin“, sagte Heidi, „hat sich deine Angst vor Hunden sicherlich gelegt.“

 

Sie hatten den ganzen Abend über miteinander geredet, getanzt und getrunken, trotzdem kam Wolfgang nicht so richtig an sie ran. Heidi schien eine uneinnehmbare Festung zu sein. Obwohl sie sich beim Unterhalten und Cocktailtrinken an der Bar ein gutes Stück näher gekommen waren, fiel das Abschiednehmen vor der Tür des Mädchenwohnheimes dürftig aus. Mehr als einen Abschiedskuss gab es nicht, und auf Wolfgangs Frage, wann er sie wiedersehen könne, antworte sie vage. Sie hätte viel zu tun. In acht Wochen gelte es, fünf Prüfungen zu bestehen, drei davon seien wichtig fürs Staatsexamen im nächsten Jahr.

Sie machte ihm wenig Hoffnung, dass sie sich in nächster Zeit öfter mal treffen könnten. „Ab dem dritten Studienjahr ist das Studium kein Zuckerschlecken“, sie entzog sich Wolfgangs Umarmung, als er sie zum Schluss noch einmal wild abknutschen wollte.

Obwohl Heidi sich auch in den folgenden Wochen ungemein spröde zeigte, unternahm Wolfgang alles, um an sie heranzukommen. Bei Seifert, den er gut kannte und der in Heidis Seminargruppe ging, erkundigte er sich, wann sie wo Seminare oder Vorlesungen habe, und lief ihr dann wie zufällig über den Weg. Aber zu langen Gesprächen oder gar Besuchen im Mädchenwohnheim kam es nicht. Wenn sie sich am Rande einer Vorlesung trafen, gingen sie auf einen Sprung in die Kaffeestube oder in die nahegelegene Milchbar.

Es waren flüchtige, kurze Begegnungen, an denen sie beide ihren Spaß hatten. Sie freuten sich, wenn sie sich sahen. Doch weil Heidi stark auf das Schreiben ihrer Staatsexamensarbeit und die entscheidenden Abschlussprüfungen fokussiert war, lehnte sie jegliches Schwofen im Studentenkeller ab. „Ich bin doch nicht zum Saufen nach Jena gekommen“, erklärte sie Wolfgang kategorisch, als er nicht verstehen konnte, dass sie keine Zeit für ihn und ausschweifende Abende im Studentenkeller fand.

Trotzdem schien Heidis Haltung auf Wolfgang abzufärben. Er stürzte sich in sein Studium, wie man es bisher von ihm nicht gekannt hatte.

Sein Zimmer sah aus wie eine Räuberhöhle. Auf seinem Schreibtisch türmten sich Textbücher, Fachliteratur über „Deutsche Klassik“ und eigene Texte. Das Referat über Schillers „Fiesko“ nahm er sehr ernst, und er wälzte viel Sekundärliteratur. Wenn er nicht gerade die Dramen Schillers beackerte, schrieb er an seinem Stück „Der Gast oder Der Versuch zu leben“.

Es sollte autobiografische Züge tragen und die drei Frauenrollen schrieb er Biene, Doris und Edda auf den Leib. Auch schien es, als sei das Stück eine Art Therapie, um die Auseinandersetzungen mit seinem Vater, sein bisheriges Versagen und seine unglückliche Liebe zu Edda bewältigen zu können.

Die Veränderungen, die in Wolfgang vor sich gingen, waren offensichtlich. Er machte kein Hehl mehr daraus, dass er eine Vorliebe für vollbusige Frauen mit breiten Hüften hatte. Er schwärmte für Renoirs „Diana, die Jägerin“. Da von ihr keine billige Kopie zu bekommen war, begnügte er sich mit der „Badenden“ von Auguste Renoir und hängte sich das Bild direkt über sein Bett. Seine Vermieterin konnte ruhig sehen, auf welchen Typ Frau er stand.

An einem Abend, als Heidi untröstlich war, weil sie in Psychologie nur eine Drei bekommen hatte, sagte Wolfgang, der sie im Wohnheim besuchte: „Lass uns einen Spaziergang durch die Gärten unten am Hang machen.“

Sie gingen durch üppig blühende Gärten, die schwer nach Flieder dufteten, und Wolfgang überraschte Heidi mit einem Gedicht. Es hieß „Bleibe“ und war ihr gewidmet. Sie war verlegen und glücklich zugleich, als sie las: „Der Dornenstrauch in mir hat eine Knospe, / die keinen Frühling braucht, um aufzublühen. / Nur eines, eigentlich nur dieses: dich. / Und einen Preis hat dieses Blühen: BLEIBE.“

Sie umarmte ihn, und er spürte, wie erregt sie war.

„Und ich“, sagte sie, „möchte alt werden mit dir.“

Dass sie vom Altwerden sprach, obwohl sie erst 21 Jahre alt war, verwunderte Wolfgang, und er dachte: Sie ist eben eine ungewöhnliche Frau. Schwer zu durchschauen.

Ihre Beziehung wurde immer fester und so war es kein Wunder, dass Heidi ihn zu einer Feier im kleinen Kreis einlud, auf der die bestandenen Examensprüfungen begossen werden sollten.

Als Wolfgang das Gartenlokal im Seidelpark betrat, brauchte ihm niemand zu sagen, wo Heidi, Beate und Anne saßen. Er hörte sie schon von weitem lautstark schnattern, und als er vor dem rustikalen Sechser-Tisch stand, sagte Heidi: „Da bist du ja endlich.“

Bernd, der mit Beate liiert war, sagte: „Somit wäre unsere Männerrunde komplett.“ Und Jochen, ein Sportstudent, sagte: „Ich gehöre zu Anne.“

„Alles klar“, sagte Wolfgang und setzte sich zu Heidi, die schon mächtig in Stimmung war. „Jetzt sind wir dem Staatsexamen schon ein ganzes Stück näher gekommen“, sagte sie. „Drei von fünf Prüfungen haben wir schon geschafft.“

„Mit Bravour geschafft“, ergänzte Beate, die sich vor jeder Prüfung vor Aufregung erbrechen musste.

Obwohl an diesem Abend viel getrunken wurde, musste keiner kotzen.

Und als man gegen Mitternacht aufbrach, hatte jeder von ihnen zwölf Rhöntropfen, etliche Biere und eine halbe Flasche Gamza-Rotwein intus.

Heidi hatte mehr getrunken als sonst, sie war ausgelassener als sonst, und sie war nicht so zugeknöpft wie sonst. Vor der Tür des Gartenlokals schien Heidi zu spüren, wie warm die Nacht war. Der Vollmond stand hell am Himmel, und sie sagte übermütig: „Wir sollten im Schleichersee baden gehen.“

„Jetzt?“

„Jetzt“, sagte Heidi.

Sie stürzten sich nackt in den Schleichersee, bis der ABV mit seinem großen Schäferhund am Strand erschien und das Badevergnügen bei Nacht unterband. Wahrscheinlich hatte ihn jemand, der neidisch auf die ausgelassenen Nacktbader war, informiert. Der Vollmond schien durch die majestätisch großen Bäume. „Kommt raus!“, rief er. „Es ist streng verboten, hier zu baden!“

Wolfgang hatte Angst vor dem Schäferhund und nur zögernd folgte er Heidi, die, im flachen Wasser angekommen, mutig auf das Ufer zuschritt. Der ABV hatte nur Augen für Heidi, Beate und Anne. Zu Wolfgang, Bernd und Jochen sagte er süffisant: „Dann noch viel Spaß.“ Und drohend fügte er hinzu: „Und verhaltet euch ruhig auf dem Heimweg. Sonst gibt’s Ärger!“

Heidi, die sich mit ihrem Unterrock und ihrem Schlüpfer notdürftig abgetrocknet hatte, war völlig nackt unter ihrem dünnen Sommerkleid, als sie durchs nächtliche Jena liefen, und Wolfgang konnte sehen, wie das Kleid auf ihren nassen Hüften klebte.

Als sie Richtung Stadt auf den Paradiesbahnhof zuliefen, sagte Wolfgang: „Ich muss jetzt links weg.“

„Ich auch“, sagte Heidi zur Überraschung aller. „Ich will doch endlich sehen, wo Wolfgang haust.“

Im Dunkeln betraten sie Wolfgangs Kellerwohnung und Heidi sagte:

„Licht brauchen wir nicht zu machen. Der Mond ist hell genug.“

„Aber zur Orientierung ist es vielleicht nicht schlecht, wenn ich mal kurz das Licht anmache“, sagte Wolfgang.

„Orientierung kann nicht schaden“, Heidi klang ziemlich beschwipst.

„Orientierung ist immer gut.“

Als sie „Die Badende“ über Wolfgangs Bett sah, sagte sie: „Da bin ich ja in bester Gesellschaft“ und fing an, sich auszuziehen. Als sie nackt in der Stube stand und ihr Kleid über den Stuhl vorm Schreibtisch legte, musste Wolfgang, der in der Tür zur Küche stand, daran denken, wie er die dicke Frau Fendrich nackt unter der Dusche gesehen hatte.

Er löschte das Licht, zog sich aus und legte sich zu Heidi auf das weiche Federbett. Später sagte Heidi, die entspannt und erschöpft neben ihm lag: „Sind wir nicht geschaffen füreinander?“

„Ich denke schon.“ Wolfgang war mit seinen Gedanken bereits beim ersten gemeinsamen Ostsee-Urlaub. Drei Wochen zusammen in einem Zelt, dachte er. Was Schöneres kann es doch gar nicht geben.