Leben ohne Maske

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Heidis Großmutter tat, als habe sie die frivole Bemerkung ihres Schwiegersohns nicht gehört, und sagte: „Als Oskar und ich uns das Jawort gaben, war ich 18 Jahre alt und im dritten Monat schwanger. Lisbeth kam am 10. September 1922 zur Welt.“

9. Kapitel

Als Heidi und Wolfgang am nächsten Vormittag wieder in Arnsbach eintrafen, wollte August Stillmark von Wolfgang unbedingt wissen, wie ihm der Alte gefallen habe. Heidi kam Wolfgangs Antwort zuvor: „Er hat ihn stark beeindruckt.“ Tatsächlich war Wolfgang fasziniert von Oskar Anschütz, weil er groß und kräftig war und einen Stoppelbart wie Hemingway hatte.

August Stillmark hingegen hasste seinen Schwiegervater und sagte: „Wenn der alte Schneidmüller mal stirbt, werde ich nicht zu seiner Beerdigung mitgehen, und mein Name wird auch nicht unter den trauernden Hinterbliebenen zu finden sein.“

Wolfgang wurde das Gefühl nicht los, dass August Stillmark alles unternahm, um seinen Schwiegervater abzuqualifizieren. Es schien, als wolle er dem Niedergang der Schneidmühle den rasanten Aufstieg einer PGH entgegensetzen, die er mit aufgebaut hatte, und Wolfgang hatte das Gefühl, als wolle August Stillmark ihm vor Augen führen, dass er mehr als sein Schwiegervater vorzuweisen habe. Denn von dem Sägewerk, in dem einst 21 Leute beschäftigt waren, war nichts als eine kleine Metallbude übrig geblieben, in der zwei Männer und eine Frau Kofferscharniere stanzten.

„Als ich beim alten Menz vor 13 Jahren als Werkzeugmacher anfing, waren wir drei Leute“, sagte August Stillmark zu Wolfgang. „Aber das war nur in den ersten drei Jahren der Fall. Dann stockten wir jedes Jahr die Personaldecke mehr und mehr auf, und da es sich herumgesprochen hatte, dass es bei uns gutes Geld zu verdienen gab, hatten wir ziemlichen Zulauf und konnten uns die besten Leute raussuchen. Jetzt sind wir 21 Mann. Mit uns geht es bergauf, und durch einen Anbau wollen wir die Werkstatt im nächsten Jahr modernisieren und erweitern.“

Bei Gelegenheit wolle er Wolfgang den Betrieb zeigen, in dem er als Werkzeugmacher und Technologe arbeite, sagte August Stillmark. An diesem Samstagvormittag wurde er nicht müde, Wolfgang gegenüber zu betonen, wie gefragt die Messerköpfe der Firma Menz seien, die er mit entwickelt habe.

Stunden später saß Louis Stillmark gedankenversunken auf der verwitterten, grünen Gartenbank, die an der Giebelseite des alten Holzschuppens stand, und Wolfgang setzte sich zu ihm.

Es war heiß an diesem frühen Nachmittag, und Heidi sagte vom Küchenfenster aus: „Heute Abend muss ich unbedingt zum Gießen auf den Friedhof gehen.“

Louis Stillmark, der trotz der Hitze ein langärmliges, weißes Hemd, eine anthrazitfarbene Strickjacke und gelbe, kariert gemusterte Hauslatschen anhatte, meinte plötzlich unvermittelt zu Wolfgang: „Ich hatte Pech mit meinen Frauen. Zwei Mal bin ich Witwer geworden.“

Im Alter von 60 Jahren habe er seine zweite Frau Karoline verloren. Sie habe es mit der Bauchspeicheldrüse gehabt und sei kurz darauf gestorben, sagte Louis Stillmark. Besonders tragisch aber empfand Wolfgang, was Louis Stillmark ihm über die Todesumstände seiner ersten Frau erzählte, und es störte ihn nicht, dass Heidis Großvater weit ausholte.

„Es war im ersten Weltkrieg“, sagte Louis Stillmark. „Ich war Kanonier. In Metz hatte ich als Ungedienter im März 1915 einrücken müssen, ab Februar 1916 hatte man uns ins Schlachtgetümmel an der Ostfront geworfen. Als unser Regiment bei der Offensive in Französisch Flandern Ende Mai 1918 eine strategisch wichtige Hügelkette erstürmte, bekam ich eine Woche später das Eiserne Kreuz zweiter Klasse und durfte zwei Wochen später auf Heimaturlaub fahren. Aber als ich nach Hause kam, erfuhr ich schon am Bahnfof, dass meine Frau am Tag zuvor beerdigt worden war.“

Louis Stillmark machte eine Pause. „Ich war einen Tag zu spät gekommen“, sagte er. Auguste, seine erste Frau, war an Influenza gestorben. Seine fünfjährige Tochter Minna war von einem Tag auf den anderen Halbwaise geworden.

„Glücklicherweise nahm ihre Patentante, deren Ehe kinderlos war, sie so lange zu sich, bis ich im Januar 1919 aus dem Militärdienst in Hersfeld entlassen wurde.“

Obwohl diese Geschichte fast 50 Jahre zurücklag, trieb es Louis Stillmark beim Erzählen noch immer die Tränen in seine hellblauen, vom grauen Star getrübten Augen.

Wenig später betrat August Stillmark den Hof und gesellte sich zu seinem Vater und Wolfgang. Er setzte sich in den Schatten der Halle und begann, die Sense zu dengeln, denn er hatte Tante Anna versprochen, ihr beim Mähen der Wiese zu helfen. Heidi sagte Tante Anna zu der alten Frau, obwohl sie mit Stillmarks nicht verwandt oder verschwägert war. Sie war eine gute Nachbarin, die schwer an Asthma litt.

Als August Stillmark mit dem Dengeln der Sense fertig war, setzte er sich zu Heidi, Wolfgang und Louis Stillmark, die schon mit dem Kaffeetrinken begonnen hatten. Der weiße Gartentisch, an dem sie saßen, stand unter einem alten Apfelbaum. Die ersten frühreifen Äpfel lagen wie Billardkugeln im sommerheißen Gras. Die Grillen zirpten laut, und unter dem dichten, großen Blätterdach des knorrigen Apfelbaums sitzend, konnte man hören, wie der Dachstuhl und die Ziegel vor Hitze knackten und knisterten.

Er könne kaum glauben, dass das Haus vor 40 Jahren gebaut worden sei, sagte Louis Stillmark. „Im Oktober 1926 hatten wir uns entschlossen, ein eigenes Haus zu bauen. Zu Weihnachten lag die Bauzeichnung vor, und im Februar, zu meinem 40. Geburtstag, hielt ich den Bauschein in den Händen, und dem Baubeginn im Frühjahr 1927 stand nichts mehr im Weg“, erzählte er. „Das Grundstück, das wir benötigten, hatte Karoline mit in die Ehe gebracht, und der Hausbau sollte insgesamt 9.100 Mark kosten.“

Bis zum Richtfest und dem Decken des Daches sei alles wie am Schnürchen gelaufen, berichtete Louis Stillmark. „Aber als das Haus im November 1927 bezugsfertig war, geriet ich in arge Bedrängnis. Und ich konnte die Handwerker-Rechnungen nicht bezahlen, weil der Landrat in Kassel uns erst ein Jahr später den zugesicherten Kredit über 2.500 Mark gewährte.“

So habe der Vater seiner ersten Frau, der die Tüncherarbeiten ausgeführt habe, fast zwei Jahre auf sein Geld warten müssen, sagte Louis Stillmark. „Wenn er nicht so viel Verständnis für meine missliche Lage aufgebracht hätte, wäre unser Traum vom eigenen Haus noch in letzter Sekunde geplatzt. Ihm war es zu danken, dass wir das Haus zu viert Ostern 1928 beziehen konnten.“

Als Louis Stillmark mit seiner Hausgeschichte endlich zu Ende war, sagte August Stillmark unüberhörbar laut: „Wer Heidi einmal heiratet, erbt das Haus, ob er will oder nicht.“

Als die Hitze etwas nachgelassen hatte, half August Stillmark Tante Anna beim Mähen. Heidi und Wolfgang machten sich auf den Weg zum Friedhof. Der Gang auf den Friedhof war für Heidi etwas Selbstverständliches und an heißen Tagen obligatorisch. Die Blumen mussten gegossen werden, und ein Grab, das ungepflegt war, war eine Schande.

Im Schatten einer großen Fichte stand ein weißer, großer Grabstein, auf dem mit schwarzer Schrift geschrieben stand: Karoline Stillmark, geb. Büchner, *18. Februar 1888, +3. Oktober 1947 in Arnsbach.

„Ich war zwei Jahre alt, als meine Großmutter starb. Und als sie tot war, habe ich nach ihr gefragt. Ich wollte wissen, wo sie ist“, sagte Heidi. „Als Kind habe ich oft mit meinem Großvater vor diesem Grab gestanden.“

Wolfgang sah Heidi zu, wie sie sich über das Grab bückte, welke Blüten von den lilafarbenen Stiefmütterchen zupfte und anschließend zwei Mal hintereinander mit einer großen Zinkgießkanne goss.

Viele Leute waren an diesem Abend auf dem Friedhof. Gießkannen schwenkend bewegten sie sich zwischen den Grabreihen. Sie verharrten andächtig vor den efeubewachsenen oder blumengeschmückten Gräbern und gedachten ihrer Verstorbenen.

Für Heidi war es ein Leichtes, vor Gräbern in die Familiengeschichte einzutauchen. Für Wolfgang hingegen verlor sich die Spur seiner Vorfahren im Dunkel. Im schlesischen Hausdorf lag sein Großvater begraben, der bei einem Bergwerksunglück ums Leben gekommen war, und Onkel Heinrich, der Bruder seiner Mutter, war in Tschudskoj-Bor südwestlich von Petersburg gefallen.

Krieg und Vertreibung hatten die Familienbande durchschnitten. Die einzige Brücke, die es zwischen damals und jetzt gab, war seine Großmutter, die ihm märchenhaft verbrämt, in Kindertagen Geschichten aus der schlesischen Heimat erzählt hatte.

Als Heidi und Wolfgang vom Friedhof kamen, saß Louis Stillmark noch immer auf der Bank an der Giebelseite des alten Holzschuppens. Er zeigte sich zufrieden, dass Heidi nach Karolines Grab gesehen hatte. „Sie war eine herzensgute Frau“, sagte er. „Aber sie ist leider nur 59 Jahre alt geworden.“

„Ich werde auch mal nicht älter“, sagte August Stillmark, der vom Mähen auf Tante Annas Wiese kam.

Der frühe Tod seiner Mutter beschäftigte ihn sein Leben lang. Er war 26 Jahre alt, als sie gestorben war.

August Stillmark, die Sense in der Hand, fragte Wolfgang, ob er schon mal gemäht habe. „Gesichelt habe ich schon, aber noch nie gemäht.“

Das brachte August Stillmark auf die Idee, Wolfgang zu zeigen, wie gemäht wird.

Er suchte im Schuppen nach einer zweiten Sense, schärfte sie mit einem Wetzstein, der, wie er Wolfgang erklärte, nicht zu hart sein durfte, und drückte Wolfgang den Sensenstiel in die Hand.

„Jetzt kann’s losgehen“, sagte er, und Wolfgang folgte ihm auf das große Stück Wiese hinterm Haus.

Ein Mann müsse in der Reihe mähen können, sagte August Stillmark, und seine Kurzunterweisung geriet zu einem Fachvortrag. Aufrecht müsse man stehen und dürfe sich keinesfalls nach vorn beugen, wenn man zum Mähen aushole. Das Sensenblatt sollte so auf dem Gras aufliegen, dass die Sensenspitze sich nicht in der Erde festhaken könne. Auch dürfe der Halbkreis, den man mit der Sense beschreibe, nicht zu groß sein, und August Stillmark machte Wolfgang vor, wie mit einem gleichmäßigen Kraftaufwand und gleichmäßig großen Schwüngen das Gras gleichmäßig kurz abgemäht wurde.

 

Trotz der eingehenden Belehrung und des Vormachens kam bei Wolfgangs Mähversuchen nur wüstes Hacken heraus, und August Stillmark sah ein, dass Wolfgang ein Großstädter war, der wohl nie das Mähen lernen würde. Wolfgang solle die Sense zurück in den Schuppen hängen, sagte er. Während Wolfgang vom hinteren Grundstück aus auf das Haus zuschritt, die Sense wie Gevatter Tod geschultert, ließ August Stillmark sein scharfes Sensenblatt leicht durch das feuchte Gras gleiten. Mit dem Mähen hörte er erst auf, als die Dunkelheit hereinbrach und der bleiche Mond rund und hell über den nachtschwarzen Bergen aufstieg.

Am nächsten Morgen wartete August Stillmark auf Hartfried, seinen Schul- und Dackelfreund, mit dem er jeden Sonntag einen zweistündigen Spaziergang auf den nahegelegenen Kohlberg unternahm.

Punkt zehn stand Hartfried vorm Hoftor, um August Stillmark abzuholen, und jeder von ihnen hatte zwei Dackel dabei.

Als sie den Kohlberg erreicht hatten, genossen sie den herrlichen Blick in die Rhön, die sich in der Ferne bläulich abzeichnete, und wenig später tauchten sie, ihre Spazierstöcke schwenkend, in den Wald ein, der ihnen ausreichend Schatten bot.

Der Weg war schmal, und die Bäume waren hoch und August Stillmark und Hartfried atmeten die Waldluft tief ein und hatten Spaß, wenn ihre Dackel eine Wildspur aufnahmen und ihr kläffend folgten, und sie erzählten sich, was sie sonst keinem erzählten. Sie waren eben richtige Freunde seit ihrer Schulzeit, und nur für die Zeit, in der sie beim Militär gewesen waren, hatten sie Arnsbach kurzzeitig verlassen. August Stillmark hatte als Soldat in der 36. Kompanie in Dänemark gedient, und Hartfried, groß und stark, wie er gebaut war, war bei der Waffen-SS gewesen. Aber das hatte ihrer Freundschaft keinen Abbruch getan. Auf Hartfrieds Dritte-Reich-Vergangenheit kamen sie so gut wie nie zu sprechen, sie sparten bewusst aus, was ihre Verbundenheit hätte stören können. Und so drehten sich ihre vielen, endlos langen Sonntagsgespräche fast ausschließlich um Hunde, Familie und Beruf.

Hartfried lobte an diesem Tag seinen Schwiegersohn in den höchsten Tönen. Gleich nach dem Studium an der Ingenieurschule habe dieser eine Stelle in der Abteilung für Forschung und Entwicklung bekommen, sagte Hartfried, der mit seinem Bruder zusammen einen kleinen Metallbetrieb besaß, in dem Rändelräder für Uhren aller Art und Größe gefertigt wurden.

„Ab dem nächsten Jahr werden wir eine Injektionsvorrichtung für Diabetiker auf den Markt bringen“, verriet er. An der Entwicklung dieses neuen Produktes habe sein Schwiegersohn eine große Aktie.

„Einen Schwiegersohn mit technischem Verständnis und handwerklichen Fähigkeiten werde ich wohl nicht bekommen“, sagte August Stillmark enttäuscht. Er stellte mit Bedauern fest, dass Wolfgang völlig unmusikalisch war, Angst vor Hunden hatte, nicht Ski fahren konnte und als Großstädter wenig Verständnis für das Haus und die Belange des Dorfes aufbrachte.

Und schwer hinnehmbar war es für August Stillmark, dass Wolfgang noch dazu ein Evakuierter war. Ein Einheimischer als Schwiegersohn wäre ihm lieber gewesen, was ihn zu dem Satz veranlasste: „Freist du über’n Mist, weißt du, wer er ist.“

Als Hartfried sah, wie untröstlich August Stillmark in diesem Moment war, sagte er: „Bis zur Hochzeit fließt noch viel Wasser den Berg hinunter und vielleicht läuft Heidi bis dahin noch etwas Besseres über den Weg.“

„Schön wäre es“, sagte August Stillmark. „Aber meine Tochter hat sich schon entschieden. In zwei Jahren will sie heiraten“, und er fügte verärgert hinzu: „Ich kenne meine Frau, und ich kenne meine Tochter. Was die sich in den Kopf setzen, machen sie wahr.“

Als Heidi die dampfenden Klöße, den Schweinebraten, das Rotkraut und die Schale mit der braunen Soße, die nicht fehlen durfte, auf den Tisch brachte, sagte August Stillmark: „Ohne Klöße kein Sonntag“, und während er sich zwei Klöße auf seinen Teller gabelte, lobte er Heidis Kochkünste. „Kochen kann sie. Das hat sie von ihrer Mutter“, er goss reichlich Soße über die Klöße.

August Stillmark war ein schwergewichtiger Mann. Obwohl er nur mittelgroß war, wog er über zwei Zentner. Er war ein Genussmensch, der unheimlich gern aß. Seit seiner Operation vor 13 Jahren habe er nur noch ein Drittel Magen, und dass er wieder so essen könne, sei ein wahres Wunder, stellte er schließlich zufrieden fest.

„Es war eine schlimme Zeit“, sagte er und gab endlich einmal zu, dass er es ohne Lisbeth nicht geschaffte hätte, wieder gesund zu werden.

Denn Lisbeth Stillmark hatte alles unternommen, um ihren Mann wieder aufzupäppeln: Sie arbeitete nur stundenweise, damit sie ihrem Mann das Essen immer frisch kochen konnte, und sie kochte nur, was er vertrug. Sie nahm die schlechte Laune ihres Mannes hin, wenn es, besonders in den ersten Monaten nach der Operation, gesundheitliche Rückschläge gab. Das Wichtigste für sie war, dass er wieder auf die Beine kam.

„Zwei Jahre dauerte es, bis ich wieder arbeitsfähig war“, sagte August Stillmark, und putzte das zweite Schälchen Pflaumenkompott weg.

Als Heidi ihm die Kompottschale wegnahm und anfing, das Geschirr abzuräumen, sagte August Stillmark: „Lisbeth wird doch verstehen, dass ich sie heute Nachmittag nicht mit besuchen komme.“ Er müsse bei der Kapelle „Edelweiß“ aushelfen, brachte er als Entschuldigung vor und zog sich nach einem opulenten Mittagessen in die Schlafstube zurück, um ausgiebig Mittagsschlaf zu halten.

Stunden später trat August Stillmark als Gasttrompeter bei einem Sommerfest in der „Hasenhohle“ auf, und Heidi und Wolfgang besuchten Lisbeth Stillmark im Krankenhaus.

Wolfgangs erste Begegnung mit Lisbeth Stillmark kam jedoch nicht über ein „Guten Tag“ hinaus. Denn Krankenhausbesuche waren für Wolfgang seit jeher ein Horror, und die Krankenhausluft, die in Lisbeth Stillmarks Zimmer herrschte, setzte ihm arg zu. Er wurde bleich, fühlte sich einer Ohnmacht nahe und sagte: „Es tut mir leid. Aber ich muss an die Luft, sonst kippe ich hier noch um.“

Lisbeth Stillmark, die Wolfgang sympathisch fand, brachte Verständnis für ihn auf. Sie war ihm nicht böse, dass er vorzeitig das Zimmer verließ und unten vorm Krankenhaus auf Heidi wartete, bis die Besuchszeit zu Ende war.

Als August Stillmark am Abend von seinem Sommerfest-Auftritt ziemlich betrunken nach Hause kam, fragte er Heidi, wie es im Krankenhaus gewesen sei und wie es Lisbeth gehe.

„Es geht ihr so gut, dass sie schon morgen Mittag aus dem Krankenhaus entlassen wird.“

Ihrem Vater war anzumerken, wie froh und erleichtert er darüber war, und für Wolfgang war die Mission Arnsbach erfüllt.

10. Kapitel

Am nächsten Morgen fuhr Wolfgang mit dem Bus von Birkenhall aus zurück nach Erfurt. Auf der Rückfahrt musste er an den ersten Abend in Arnsbach denken: August Stillmark war in Erzähllaune gewesen und hatte sich im Herbeten seiner Vorfahren, die bis ins vierte Glied zurückreichten, gefallen. Die breiten Hüften, die alle Büchnerschen Frauen hätten, seien auf die Urgroßmutter seiner Mutter zurückzuführen. Die habe Maria Barbara geheißen. Und Heidi schlage in diese Linie.

August Stillmark war versessen auf Familiengeschichte, und es interessierte ihn brennend, wo Wolfgang geboren worden war. „In Hausdorf“, sagte Wolfgang. Aber er wusste nicht, wo das lag. Er kannte den polnischen Namen seines Heimatdorfes nicht, und er wusste auch nicht, wo er die ersten beiden Jahre seines Lebens verbracht hatte.

Wolfgangs Auskunft, dass er nicht wisse, wo sein Geburtsort sei, quittierte August Stillmark mit einem Kopfschütteln. Er konnte beim besten Willen nicht verstehen, dass jemand seinen Geburtsort nicht kannte und nichts über seine Vorfahren wusste.

Als Wolfgang sagte, dass er aus Schlesien stamme und in Sachsen aufgewachsen war, meinte August Stillmark: „Also bist du ein Evakuierter“, und ausladend breit erklärte er, dass die Leute in Arnsbach in Hiesige, Unhiesige, Zugezogene, Fremde und Evakuierte eingeteilt würden.

„Ich als Einheimischer bin ein Hiesiger, weil ich in Arnsbach geboren bin“, dozierte er. „Meine Frau ist eine Unhiesige, weil sie aus einem der umliegenden Dörfer stammt. Und wer in Arnsbach wohnt, ohne in eine hiesige Familie eingeheiratet zu haben, ist ein Zugezogener. Und wer von weiter her ist – zum Beispiel aus Berlin – ist ein Fremder. Und Evakuierte sind Leute, die nach dem zweiten Weltkrieg aus Schlesien, Pommern oder Ostpreußen kamen und hier hängengeblieben sind.“

Auf der Stufenleiter der gesellschaftlichen Anerkennung standen die Evakuierten, zu denen Wolfgang zählte, auf der untersten Sprosse der Dorfhierarchie.

„Für kurze Zeit hatten wir auch mal Evakuierte im Haus. Zwangseinquartierung“, sagte August Stillmark. „Butzke hießen die Leute und wohnten oben in der Mansarde.“ Sie seien aus Schlesien, aus der Nähe von Breslau, gekommen und Anfang der 50er-Jahre nach Hessen gegangen, wo ihr Sohn bei einem Bauern untergekommen war.

„Wir waren heilfroh, als sie endlich auszogen und wir wieder das Haus für uns alleine hatten“, sagte August Stillmark.

Wenn Wolfgang daran dachte, welch großen Wert August Stillmark auf Herkunft, Heimat und all den Kram gelegt hatte, kam ihm die Welt, in der Heidi lebte, bizarr und unendlich fremd vor, und er konnte sich beileibe nicht vorstellen, irgendwann einmal in Arnsbach leben zu müssen. Großstädte hatten etwas Inspirierendes für ihn, und er war froh, wieder zu Hause in Erfurt zu sein.

Wolfgang saß im Wohnzimmer und hämmerte von morgens bis mittags auf seine alte Reiseschreibmaschine ein, und mit Riesenschritten schrieb er sich auf das Ende des Stücks zu, dessen Inhalt schnell erzählt ist: André, die Hauptfigur, hat die Schnauze gestrichen voll von der Schule, dem Lehrmeister und seinem Vater. Von Abenteuerlust getrieben, geht er auf eine Großbaustelle. Als er sich in die sieben Jahre ältere Kellnerin Irene verliebt, gibt sie ihren zwielichtigen Lebenswandel und er sein Frust-Saufen auf. Er versucht ernsthaft, seinen Platz im Leben zu finden. Er geißelt die Scheinmoral und versucht, die Gesellschaft zu ändern. Am Ende des Stücks gibt Irene ihr verruchtes Kellnerinnen-Dasein auf und beschließt, in einer neu erbauten Kaufhalle als Verkäuferin zu arbeiten. Sie glaubt, dass Andrés Liebe so groß sei, dass er bei ihr bleibe. Aber André sieht ein, dass die Großbaustelle nicht seine Endstation sein kann. Er verlässt Schwedt und lässt Irene, die mit ihm ein neues Leben beginnen wollte, enttäuscht zurück und beginnt im Herbst 1965 mit dem Studium.

Die Geschichte, an der Wolfgang schrieb, nahm ihn so gefangen, dass es ihm nichts ausmachte, wenn seine Großmutter, von einer unbändigen Unruhe getrieben, in der Wohnung herumgeisterte. Während er schrieb, ging sie in der Stube unruhig umher, packte Sachen und hantierte an der Schutzkette der Korridortür herum. Nach Hause wollte sie, wenn man sie fragte.

Wolfgang ging äußerst liebevoll mit seiner Großmutter um, selbst wenn das Herumhantieren an der Schutzkette ungeheuer nerven konnte, flippte er nie aus. Vielleicht war ihm deshalb die Anfangsszene so gelungen, in der der alte Linke, etwas vergesslich schon, ständig nach der Zeitung fragt, die noch nicht gekommen ist.

Bis seine Mutter, die halbe Tage im Kaufhaus arbeitete, nach Hause kam, kümmerte sich Wolfgang um seine Großmutter. Sie war leicht dement und konnte nicht mehr alleine auf die Straße gelassen werden. Denn in einem herannahenden Auto sah sie keine Gefahr. So nahm Wolfgang sich oft Zeit und ging mit seiner Großmutter in den Anlagen entlang des Flutgrabens spazieren. Und er hatte sich daran gewöhnt, dass sie ihn mit ihrem Sohn verwechselte und ihn Heinrich nannte. Onkel Heinrich war Theatermaler in Berlin gewesen und 1942 in Russland gefallen.

Sobald seine Mutter die Wohnung betrat, verließ Wolfgang das Haus und erholte sich vom Schreiben und dem Aufpassen auf seine Großmutter, indem er Nachmittage lang die Stadt durchstreifte.

Auf einem seiner Streifzüge begegnete er Trebing, den er seit seiner Oberschulzeit kannte und urig lange nicht gesehen hatte.

Trebing, auf Kurzbesuch bei seinen Eltern, erzählte Wolfgang, dass er sein Studium an der TU Dresden nach drei Jahren geschmissen habe und jetzt Volontär beim Fernsehen sei. „Ich habe riesiges Glück gehabt, dass ich zu den 20 Volontären für Regie gehört habe“, meinte Trebing.

 

„Schon ab diesem Jahr wurde keiner mehr angenommen.“

Wie sie früher in der Mitropa gesessen hatten, saßen sie jetzt in der Bodega, bestellten in schneller Folge Bier, das ihnen die resolute Wirtin mit der verrauchten Stimme und den dicken Oberarmen auf die blank gescheuerte Tischplatte stellte.

„Wir Volontäre haben uns sehr schnell angefreundet“, sagte Trebing, und trank den Schaum ab, bevor er am beschlagenen Bierglas herunterlaufen konnte. „Jeden Abend treffen wir uns irgendwo und diskutieren, und in einem Punkt sind wir uns alle einig: Im Suff hat man die besten Ideen.“

Daher seien sie selten nüchtern, meinte Trebing lächelnd, bestellte sich einen doppelten Weinbrand und kam mächtig in Fahrt. Wolfgang, der an allem interessiert war, was Trebing über‘s Fernsehen zu berichten wusste, unterbrach den Dicken, wie Trebing auch genannt wurde, kein ein einziges Mal in seinem Redefluss.

Gleich am ersten Tag habe man ihnen gesagt, dass der Fernsehfunk nicht die Aufgabe hat, Kunst zu produzieren, sondern ein Propaganda- und Agitationsinstrument der SED sei, erzählte Trebing.

„Ziemlich hart“, sagte Wolfgang. Er wusste zwar, dass die Fernsehproduktionen nicht viel mit Kunst zu tun hatten, aber dass man das so offen zugab, erstaunte ihn schon.

„Das Beste, was wir haben, ist unser Berufsausweis“, sagte Trebing. „Damit kommt man praktisch in jede Veranstaltung. Man zeigt nur den Ausweis vor und sagt ‚Deutscher Fernsehfunk‘, da machen alle sofort eine tiefe Verbeugung und lassen dich hinein.“

Die Wirtin beugte sich über den Tisch, griff nach den leeren Biergläsern und fragte: „Noch’ne Runde?“

„Na, klar“, sagte Trebing, und Wolfgang nickte.

„Zum Fernsehen bin ich nur gegangen, damit ich an der Filmhochschule Babelsberg mal Regie studieren kann“, sagte Trebing. Zurzeit beschäftige er sich hauptsächlich mit regietechnischen Arbeiten für den Filmzirkel, erzählte Trebing. Daneben schreibe er auch Lieder und lyrische Prosa, und er zeigte Wolfgang ein Vietnamgedicht, das er in der letzten Zeit geschrieben hatte:

Vietnam

Die Blume

Zertreten im Staub

Verstummt das Lachen

Die Stadt ist wie tot

Und vor den Palästen der Kaiserzeit

Stehn feindliche Söldner, das Volk ist in Not

Da tönt der Ruf – FNL – durchs Land

Und eh‘ sich der Morgen im Flusse spiegelt

Ist die Stadt in ihrer Hand

Es weht eine Fahne über HUE

Geschmückt von Blumen

Die Fahne des Sieges

Es kam eine neue Zeit nach Hue

Mit Menschen, die schwören: Was auch gescheh –

Immer lebe Hue

„Vietnamgedichte sind eine schwierige Kiste“, sagte Wolfgang. „Ich hab mich noch nicht dran versucht.“

„Aber du könntest es“, sagte Trebing. „Du bist der größere Lyriker von uns beiden.“

„Im Moment jedoch“, sagte Wolfgang, „habe ich der Lyrik abgeschworen und schreibe gerade an einem Stück.“

„Thema?“

„Großbaustelle.“

„War ja auch nicht anders zu erwarten“, sagte Trebing und erinnerte sich daran, wie er und Wolfgang nach der Premiere der „Irkutsker Geschichte“ in der nächtlichen Mitropa gesessen hatten und, der Oberschule und der Lehrer überdrüssig, bis in den frühen Morgen Aufbruchspläne geschmiedet hatten. Sie hatten Brühe mit Ei gelöffelt und viel zu kaltes, schales Bier getrunken, und sie hatten durchs schmutzige Fenster der verräucherten Mitropa gesehen, wie sowjetische Soldaten, die Heimaturlaub bekommen hatten, auf dem Bahnsteig standen und mit ihrem schweren Gepäck in den Zug nach Brest stiegen.

„Sobald du fertig bist mit dem Stück, musst du mir unbedingt ein Exemplar schicken“, sagte Trebing.

„Versprochen“, sagte Wolfgang, als er mit Trebing die Bodega verließ.

Wenn Wolfgang über den Anger ging, traf er immer Freunde, mit denen er übers Theater und das Gedichteschreiben sprechen konnte. Meistens liefen ihm Meyer, ein Volontär bei der „Thüringischen Landeszeitung“, oder Jungschauspieler Pollatschek, der gerade probenfrei hatte, über den Weg. Meyer war zwei Jahre jünger als Wolfgang. Er war rothaarig und hatte mächtig viel Pomade in seine Haare geklitscht. Wie er sie am Morgen gekämmt und gescheitelt hatte, lagen sie noch am Nachmittag.

Meyer war immer in Eile und hatte eine komische Art, sich die Werke der Weltliteratur anzueignen. „Im Moment lese ich nur Stücke, weil mir die Zeit zum Romanelesen fehlt“, sagte er. „Strindberg steht auf meinem Programm. Den solltest du lesen“, riet er Wolfgang.

„Wie ich dich kenne, wirst du dich für ‚Fräulein Julie‘ begeistern“, sagte Meyer, der auf dem Sprung zum nächsten Pressetermin war.

Wesentlich mehr Zeit für ein Gespräch nahm sich Pollatschek. Unter der großen Angeruhr stehend, erzählte er Wolfgang von Claus Hammels „Morgen kommt der Schornsteinfeger“, einem Gegenwartsstück, das am Erfurter Schauspielhaus erfolgreich uraufgeführt worden war. Bei der Premiere habe es drei Mal Zwischenapplaus gegeben, einen davon habe er als Lyriker bekommen, sagte er. Dass man jetzt erwäge, die Rolle des Lyrikers aus Zeitgründen zu streichen, konnte er nicht verstehen und fühlte sich in seiner Ehre gekränkt.

Die Literaturwissenschaft, die von Hammel kaum Notiz nehme, sollte sich mal näher mit diesem Autor befassen, meinte Pollatschek und brachte Wolfgang auf die Idee, die Staatsexamensarbeit über Claus Hammels „Morgen kommt der Schornsteinfeger“ zu schreiben.

Aber vorerst schrieb Wolfgang an seinem Stück „Der Gast oder Der Versuch zu leben“, das Mitte September schon in seiner Gesamtheit vorlag, und es schien, als könne es, wie geplant, im April 1968 von der Studentenbühne aufgeführt werden.

Aber diesen Plan durchkreuzte eine Fisteloperation, der sich Wolfgang kurzzeitig unterziehen musste. Zuerst hatte er einen Furunkel am Hintern gehabt, dann war der Furunkel aufgegangen, aber eine stecknadelkopfgroße Öffnung war geblieben, aus der es ständig nässte. Obwohl es Wolfgang ziemlich peinlich war, ging er deshalb zum Arzt. „Eine Steißbeinfistel“, sagte der Arzt. „Keine große Sache. Das ist schnell gemacht“, und für Wolfgang war es beruhigend zu hören, dass mit einem längeren Studienausfall nicht zu rechnen sei.

Anfang Oktober sollte die OP sein, und so fuhr Wolfgang Ende September nach Jena, übergab Birgit Hielscher die Geschäfte der Studentenbühne und vervielfältigte mit ihr zusammen das Stück. Da nicht sicher war, ob Wolfgang zur Spielplanbesprechung Mitte Oktober schon wieder fit sein würde, instruierte er die Hielschern.

Er sagte ihr, wie sie beim Vorstellen des Stücks vorgehen solle und welche Besonderheiten sie unbedingt erwähnen müsse. Die erste Besonderheit sei, dass ein Student ein Stück für Studenten geschrieben habe, das in der Gegenwart spiele, sagte Wolfgang. Die zweite Besonderheit sei, dass er den Hauptdarstellern die Rollen buchstäblich auf den Leib geschrieben habe. Und drittens liege der besondere Reiz der Inszenierung darin, dass die Endfassung des Stücks während der Proben erarbeitet werde.

„Und was muss unbedingt gesagt werden, wenn es um den Inhalt des Stücks geht?“, wollte die Hielschern wissen. „Dass die Frage nach dem Sinn des Lebens aufgeworfen wird, die jede Generation neu für sich beantworten muss“, meinte Wolfgang. Schon der Titel „Der Gast oder Der Versuch zu leben“ weise unmissverständlich auf diese Problematik hin.

Vier Wochen nach seiner Operation lag Wolfgang noch immer im Krankenhaus und hatte keine Kunde, wie die Spielplan-Diskussion Mitte Oktober ausgegangen war, und seine telefonischen Versuche, Birgit Hielscher zu erreichen, waren gescheitert. Vielleicht wurde der Termin verschoben, dachte Wolfgang, den das Schweigen der Hielschern arg beunruhigte. Erst Ende Oktober ließ sich Birgit Hielscher blicken. Sie kam laut lachend ins Krankenzimmer geschneit, und an der übertriebenen Freundlichkeit, die sie zur Schau stellte, spürte Wolfgang sofort, dass etwas nicht stimmte.