Leben ohne Maske

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„Ich habe eine traurige Nachricht für dich“, sagte sie. „Dein Stück ist abgelehnt worden.“

Dass es zu dieser Entscheidung gekommen sei, habe zum größten Teil an Hetzel gelegen, dem es mit seiner demagogisch plumpen Art gelungen sei, die Mehrheit der Leute hinter sich zu bringen, erzählte Birgit. „Zuerst machte sich Hetzel lustig über die grammatischen Fehler im Text, die eines Germanisten unwürdig seien. Dann bezeichnete er es als Größenwahn, wenn jemand wie du Autor, Hauptfigur und Regisseur in einer Person sein wolle“, berichtete sie. „Und meinen Einwand, dass wir uns schon am Nationaltheater Weimar nach einem jungen Schauspieler umgesehen hätten, der Regie führen könnte, ignorierte er mit einer nicht zu überbietenden Überheblichkeit.“

Hetzel habe den Oberassistenten heraushängen lassen, sagte Birgit Hielscher. Dann habe er mit seinem Verriss losgelegt, ohne dass jemand versucht hätte, ihn zu stoppen.

Hetzel, für den die Lehrstücke Brechts das hohe C der Theaterkunst waren, nahm Wolfgangs Stück wie einen faulen Fisch auseinander. Abgesehen davon, dass die Großbaustellen-Romantik eines Abiturienten kaum jemanden interessiere, war Hetzel der Meinung, dass dem Stück etwas sehr Wesentliches fehle, nämlich die dramatische Substanz. Das Stück habe keine Fabel und drehe sich nur um den Helden, der nichts weiter sei als ein Medium der Selbstverständigung. André, die Hauptfigur, wolle zwar anders sein als die anderen, aber dieses Anderssein würde nicht einleuchtend erklärt. Wie ein Messias käme André daher, wie ein passiver Wanderer aus Strindbergs „Damaskus“ gehe er durch die Welt und versteige sich in existenzialistische Formulierungen. Dies sei politisch untragbar, giftete Hetzel. Auch Mike Mutzke habe nicht mit herber Kritik gespart. Dass ein 18-jähriger Abiturient sich in eine sieben Jahre ältere Kellnerin verliebt, möge noch angehen. Aber dass ein 18-Jähriger und eine nuttige Kellnerin die Welt retten wollten, sei einfach lachhaft, meinte er. Im Übrigen sei die Weltsicht der Kellnerin Irene pessimistisch und menschenfeindlich, was durch nichts zu rechtfertigen sei.

Und Wachsmuth, der große Glattscheißer vor dem Herrn, fühlte sich bemüßigt zu erklären, dass er es ablehne, die Rolle des Karrieristen Frank zu spielen. „So sind unsere Menschen nicht“, habe er gesagt.

„Mit Hetzels Verriss hätte ich noch gerechnet“, sagte Wolfgang. „Aber nicht mit den Reaktionen von Mutzke und Wachsmuth.“

Aufs Schlimmste gefasst, fragte er die Hielschern, mit der er auf dem Krankenhaus-Balkon stand: „Und was haben Doris, Biene und Edda gesagt?“

„Edda hat geschwiegen, den ganzen Abend“, sagte Birgit. Aber Doris und Biene bliesen in Wachsmuths Horn. Biene meinte, sie habe keine Lust, eine Unterhaltungsschriftstellerin zu spielen, der es nur um Geld und Wohlstand gehe. Auch Doris erklärte, dass sie es ablehne, eine junge Journalistin zu spielen, die dem Autor nur als Beweis für die Scheinmoral der Gesellschaft diene, ansonsten aber völlig blutlos sei, und ihr kurzes Statement gipfelte in dem Satz: „Auch ich halte den jetzigen Stückentwurf für nicht spielbar.“

Nunweiler, der sich nur am Versmaß klassischer Dramen berauschen konnte, ging noch einen Schritt weiter. Mit einer unverhohlenen Dreistigkeit habe er am Schluss der Veranstaltung erklärt, dass es vielleicht besser wäre, Wolfgang würde ein neues Stück schreiben und seinen jetzigen „Versuch zu leben“ vergessen.

„Alle meine Versuche zu erklären, warum wir das Stück spielen sollten, fanden kein Gehör“, sagte Birgit Hielscher. „Wenn du dabei gewesen wärst, wäre das nicht passiert“, und ihr war anzumerken, dass sie sich irgendwie schuldig fühlte.

Für Wolfgang war es ein herber Rückschlag. Denn mit der Uraufführung seines Stücks „Der Gast oder Der Versuch zu leben“ verband er die große Hoffnung, als Theaterdichter (sprich: Dramatiker, sprich: Stückeschreiber) Furore zu machen.

Einen Tag später schon musste er einen weiteren Rückschlag hinnehmen: Er bekam Fieber, und die primär verschlossene Wunde wurde aufgemacht. „Die Wunde muss aufbleiben und von unten herauf heilen“, sagte der Stationsarzt. Da die Wunde, in die bequem sechs große Tupfer hineingingen, sehr tief sei, könne das einige Wochen oder gar Monate dauern, prophezeite er Wolfgang.

11. Kapitel

Weil Wolfgangs Wunde am Steiß einfach nicht zuheilen wollte, war lange Zeit ungewiss, ob er sein Studium wie geplant fortsetzen könne. Man erwog sogar, ihn wegen des krankheitsbedingten Ausfalls die versäumten Semester wiederholen zu lassen. Aber zu guter Letzt ließ man ihn doch zum großen Schulpraktikum zu.

Frau Doktor Gärtner, die Methodik-Tante in Deutsch, war nämlich der Meinung, dass Wolfgang das Versäumte schnell aufholen könne, wenn er durch seinen Mentor schrittweise und behutsam ans Unterrichten herangeführt werde.

Aber daraus wurde nichts, denn Wolfgangs Mentor war von einem Tag auf den anderen stellvertretender Direktor geworden. Der bisherige Stellvertreter war über Ungarn, wo er Urlaub gemacht hatte, in den Westen abgehauen. Die Aufregung an der Schule war groß, und Wolfgangs Mentor musste binnen kürzester Zeit in die Leitungstätigkeit eingeweiht werden und auf Grund der veränderten Situation einen neuen Stundenplan erstellen.

Er sagte, Wolfgang müsse für ihn die Grammatikstunde in der 6a halten und drückte ihm seine recht knappe Stundenvorbereitung in die Hand, mit der Wolfgang eine ihm fremde Klasse betrat und ganz auf sich allein gestellt seine erste Stunde hielt.

Als Wolfgang nach dieser Stunde ziemlich geschafft aus der Klassenzimmertür trat, stand sein Mentor aufgeregt auf dem Gang und teilte ihm die nächste Hiobsbotschaft mit. Er sei mit dem Stundenplan-Ändern noch immer nicht fertig, sagte er und bat Wolfgang, für ihn den Unterricht in der 8a zu übernehmen.

Wieder drückte er ihm ein paar spärliche Unterlagen in die Hand, und wieder ging Wolfgang völlig unvorbereitet in eine Klasse, die er nicht kannte. Dieses Mal war es Geschichte, was er zu unterrichten hatte. Er musste die Pariser Kommune behandeln, und wenn er Brechts „Tage der Kommune“ nicht so gut gekannt hätte, wäre er total eingebrochen.

Schon am ersten Tag hatte Wolfgang seine Feuerprobe bestanden, denn keine der Stunden, die er plötzlich aus dem Stegreif halten musste, hatte er vor den Baum gefahren.

Zwei Tage vor Weihnachten war das Praktikum zu Ende. Wolfgang wurde ins Direktorenzimmer gerufen, und sein Mentor händigte ihm die Beurteilung aus:

„Vom 26. August bis 30. November 1968 absolvierte Herr Bruckner an unserer Schule in den Fächern Deutsch und Geschichte seine Praktika. Er unterrichtete in den Klassen 6, 8 und 10. In beiden Fächern schloss Herr Bruckner sein Praktikum erfolgreich mit der Examensprobe ab.

Es kann eingeschätzt werden, dass Herr Bruckner die Anforderungen, die die Schule an einen sozialistischen Lehrer stellt, erfüllt hat. Im Praktikum zeichnete er sich durch parteiliche Haltung, Einsatzbereitschaft, fachliches Wissen und Drang zur Selbständigkeit aus.“

Ganz am Schluss der vierseitigen Beurteilung stand, dass Wolfgang auf Grund der gezeigten Leistungen das Prädikat „Sehr gut“ erteilt wird. Darauf war Wolfgang besonders stolz, denn es strafte alle Lügen, die ihn bisher zum Versager abgestempelt hatten.

Als Wolfgang über die Weihnachtsfeiertage nach Arnsbach fuhr, zeigte er Heidi die Beurteilung. „Kompliment“, sagte sie und gratulierte ihm dazu, dass er beide Examensstunden mit „Eins“ gemacht hatte.

„Es war ein großes Glück, dass ich trotz der versäumten zwei Semester zum Großen Schulpraktikum zugelassen wurde“, sagte er. „Ich hatte richtig Glück im letzten halben Jahr.“

„Das kann ich nicht von mir behaupten“, meinte Heidi. „Mein Start ins Lehrersein an der Dorfschule in Höhnberg hätte nicht schlechter sein können.“

Denn zu Beginn des Schuljahres waren alle Lehrer aufgefordert worden, eine Resolution zu unterschreiben, in der der Einmarsch der fünf Bruderländer in die CSSR für gut geheißen wurde.

Heidi jedoch fand, dass es eine große Schweinerei war, was sich da in der Welt tat, und verweigerte ihre Unterschrift.

Auf Grund dieser Tatsache war sie als Querulant verschrien, und der Direktor konnte sie von Anfang an nicht leiden. Er hielt sie vom ersten Tag an für aufmüpfig und arrogant, und er schikanierte sie, wo es nur ging. So ließ er sie nicht in den oberen Klassen unterrichten, obwohl sie die Befähigung dazu hatte, und er gab ihr den miserabelsten Stundenplan, den man sich denken konnte. Vier Mal in der Woche musste sie ihren Englischunterricht am späten Nachmittag geben. Auch bürdete der Direktor ihr Aufgaben auf, die Heidi als pure Schikane empfand.

„Nach den Weihnachtsferien“, erzählte Heidi Wolfgang, „soll ich vor der Schulleitung darüber berichten, wie ich die Arbeiter- und Bauernkinder in meiner Klasse gefördert habe. Dazu hat man mir noch den Losverkauf für eine Tombola anlässlich der Messe der Meister von Morgen aufgebrummt.“

Der Grund dafür liege auf der Hand, sagte Heidi. „Vorige Woche bin ich unfreiwillig Zeuge einer Parteiversammlung gewesen, da ich in einem Nebenraum saß und Arbeiten korrigierte. Man sprach über die CSSR-Angelegenheit und sagte, auch an unserer Schule wären solche ‚Elemente‘. Es handle sich dabei um den Kollegen Konzak und die Kollegin Stillmark.“

„Wenn du so weitermachst“, sagte Wolfgang, „wirst du noch ein richtiger Revolutionär“, und er freute sich, dass Heidi kein braves, biederes Dorfschulmeisterlein war, das seinen unfähigen Vorgesetzten die Füße küsste. „Ich wäre schon froh, wenn ich im nächsten Jahr nichts mehr mit diesen Hinterwäldlern zu tun hätte und mit dir zusammen an einer anderen Schule unterrichten könnte“, sagte Heidi. „Am liebsten würde ich an einen Ort gehen, wo der Lehrer noch nicht der letzte Dreck ist.“

 

Es war ihr anzumerken, wie sehr sie die Schule in Höhnberg satthatte und wie sehr sie einen Neuanfang herbeisehnte.

Mit Blick auf das kommende Jahr sagte sie: „Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich mich auf unsere Hochzeit und unser Leben danach freue.“

„Vorher heißt es aber noch für mich, die Abschlussprüfung im Juni zu bestehen“, sagte Wolfgang. „Und bis März muss ich die Staatsexamensprüfung geschrieben haben.“

„Das dürfte wohl kein Problem sein“, sagte Heidi.

Aber die häuslichen Verhältnisse ließen es nicht zu, dass Wolfgang ungestört an seiner Staatsexamensarbeit schreiben konnte. Denn seine Großmutter war schon so dement, dass sie beaufsichtigt werden musste. Und dieses Beaufsichtigen fiel Wolfgang zu, weil er der Einzige war, der nicht arbeiten ging.

Wolfgangs Großmutter wusste kaum noch, was sie tat. Von Unruhe getrieben, klimperte sie ständig mit dem Schlüsselbund, tappte durch alle Zimmer, und während Wolfgang am Wohnzimmertisch saß und schrieb, hörte er das unruhige Tappen, und er hörte, wie seine Großmutter an der Klinke der Korridortür rüttelte. Auf der verzweifelten Suche nach einem Ausweg schlug Wolfgangs Großmutter mit der Schutzkette rasselnd gegen die Tür.

Wolfgang konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Entnervt unterbrach er sein Schreiben und wandte sich seiner Großmutter zu, die auf ihren Gängen durch den Korridor manchmal Kot verlor. Wolfgang machte es nichts aus, die Scheißeklümpchen vom braunen Linoleum aufzuwischen. Er war nicht so geruchsempfindlich und reagierte nicht so allergisch wie seine Mutter, die nach jedem Malheur, das Meta Larsen passierte, herumschrie und kotzen musste.

Wolfgang wurde erst von seiner Aufsichtspflicht entbunden, wenn seine Mutter am Nachmittag aus dem Kaufhaus kam. Aber da hatte Wolfgang schon so viele Nerven gelassen, dass ihm die Kraft fehlte, zu einem späteren Zeitpunkt an seiner Arbeit weiterschreiben zu können. Auch bedrückte es ihn sehr, wie schnell der geistige Verfall seiner Großmutter voranschritt.

Wolfgangs Großmutter wollte sich nützlich machen, und so ließ sie sich tagelang von ihrer Tochter das Stricken wieder und wieder zeigen. Sie wollte tun, was sie immer getan hatte. Aber die Nadeln und das Garn gehorchten ihr nicht mehr.

Als Wolfgangs Großmutter merkte, dass ihr nicht mehr gelang, was ihr sonst mit Leichtigkeit gelungen war, war sie zu Tode betrübt und wütend über sich. „Ich bin ein altes Kalb“, sagte sie unglücklich. „Schlagt mich doch tot! Ich bin zu nichts mehr nutze.“

Sie sah keinen Sinn mehr in ihrem Leben. Sie schmiss die Stricknadeln weg und weinte.

Es war zwar schrecklich für Wolfgang, mit ansehen zu müssen, wie verzweifelt seine Großmutter war, als sie merkte, dass sie nicht mehr stricken konnte. Aber den größten Schreck jagte sie ihm ein, als sie auf dem Fensterbrett des dritten Stockes stand.

Wolfgang war gerade auf dem Rückweg von einem Kurzeinkauf, der keine Viertelstunde gedauert hatte, als er von der Straße aus sah, wie seine 78-jährige Großmutter auf dem Fensterbrett stand. Die Fensterflügel waren sperrangelweit offen, und Wolfgang rannte wie um sein eigenes Leben. Er war heilfroh, als er seine Großmutter, die nicht mehr wusste, was sie tat, vom Fensterbrett runter und wieder in der Stube hatte.

Damit seine Großmutter keine Dummheiten mehr machen konnte, schraubten sie ihr die Fenster zu, und am Abend tagte der Familienrat. Jedem war klar, dass Meta Larsen keinen Augenblick mehr aus den Augen gelassen werden konnte und rundum betreut werden musste.

Wolfgangs Vater sagte, dass er sich um einen Pflegeheimplatz kümmern wolle. Obwohl das äußerst schwierig sei und dauern könne. Wolfgangs Mutter erklärte, dass sie so lange zu arbeiten aufhören werde, bis ein Pflegeheimplatz für Meta Larsen gefunden sei. Nachdem sie ihre Stelle im Kaufhaus gekündigt hatte, blieb sie vierzehn Tage später zu Hause, um ihre Mutter fortan ganztägig beaufsichtigen zu können.

Aus diesem Grund brauchte sich Wolfgang tagsüber kaum noch um die Betreuung seiner Großmutter zu kümmern. Aber dafür wurden nachts seine Nerven aufs Ärgste strapaziert. Denn Wolfgangs Großmutter geisterte durch die Zimmer. Urplötzlich stand sie vor Wolfgangs Bett, strich ihm über den Kopf, und wenn er hochschreckte, wich sie zurück. Sie sagte etwas Tröstendes, das Wolfgang nicht verstand, und ging zurück in ihr Zimmer.

Es kam aber auch vor, dass Wolfgangs Großmutter nachts mehrmals aus ihrem Bett fiel und um Hilfe schrie. Sie lag auf dem Bettvorleger aus Ziegenfell, wusste nicht, wo sie war, und Wolfgang und seine Mutter hievten sie zurück in ihr Bett. Auf den Rat ihrer Tochter, nicht alleine in der Nacht aufzustehen, hörte sie nicht, und schon kurze Zeit später war wieder ein Plumpsen und Schreien zu hören. Denn Wolfgangs Großmutter konnte nicht aufhören, ihre Füße immer wieder auf den Bettvorleger zu setzen und aufzustehen, selbst wenn sie schwach und taumelig war.

Nach solchen nächtlichen Aktionen fand Wolfgang kaum in den Schlaf, und wenn er morgens erwachte, fühlte er sich wie gerädert und war zu keiner vernünftigen Arbeit mehr in der Lage.

Es war Ende Januar, und Wolfgang glaubte nicht mehr daran, die Staatsexamensarbeit, die Anfang März abgegeben werden musste, fertig zu kriegen. Verzweiflung suchte ihn heim. Denn von der Staatsexamensarbeit hing sein zukünftiges Leben mit Heidi ab.

Ohne Staatsexamensarbeit keine Zulassung zu den Abschlussprüfungen, ohne Abschlussprüfungen kein Staatsexamen, ohne Staatsexamen kein Einsatz als Absolvent und ohne Absolventeneinsatz kein gemeinsames Unterrichten an einer Landschule.

Wolfgang wusste sich keinen Rat mehr. Er schrieb Heidi, in welch beschissener Lage er sich befinde. Und Heidi, die Verständnis für Wolfgangs Situation hatte, machte ihm das Angebot, seine Arbeit bei ihr in Arnsbach zu Ende zu schreiben. Bis zum Abgabetermin seien es noch vier Wochen, und in vier Wochen Abgeschiedenheit und Ruhe könne man einiges schaffen, sagte Heidi. So kam es zu Wolfgangs zweitem Besuch in Arnsbach.

12. Kapitel

Als Wolfgang am Sonntagmorgen anreiste, sagte er: „Du glaubst gar nicht, wie sehr ich mich freue, in den nächsten vier Wochen mit dir zusammen zu sein.“

„Mir geht es genauso“, sagte Heidi und umarmte ihn fest.

„Eine betrübliche Nachricht muss ich dir jedoch machen“, sagte Heidi. „Meine Eltern erlauben es nämlich nicht, dass wir zusammen auf der Doppelbettcouch im Mansardenzimmer schlafen. Mein Vater ist der Meinung, solange wir nicht verheiratet seien, müssten wir getrennt schlafen. Meiner Mutter und ihm sei es einst auch nicht anders gegangen.“

„Eine lächerliche Ansicht, wie ich finde“, sagte Wolfgang. „Mit List und Tücke werden wir aber trotzdem zu unserem Vergnügen kommen.“

„Das denke ich auch“, sagte Heidi.

In Heidis Mansardenzimmer angekommen, in dem Wolfgang den ganzen Februar über sitzen und an seiner Staatsexamensarbeit schreiben würde, sagte Heidi: „Das Beste ist, wenn ich unten in der Kammer schlafe und du hier oben in der Mansarde. Da kannst du aufstehen, wann du willst, und an deiner Arbeit schreiben, solange du willst. Ab halb sieben früh hast du deine Ruhe. Da ist keiner mehr zu Hause. Außer meinem Opa. Und der wird dich nicht groß stören. Mittags wird er von meiner Mutter versorgt. Sonst macht er seinen Kram alleine. Im Höchstfall musst du ihm mal aus der Zeitung vorlesen.“

Der Sonntag war wie im Flug vergangen, und gegen zehn Uhr abends räumte Heidi die aufgestapelten Zeugnishefte vom Tisch. „Ich habe wieder nicht geschafft, was ich wollte“, sagte sie zu Wolfgang. „Zwei Drittel der Zeugnisse habe ich erst geschrieben.“

„Den Rest schaffst du doch spielend“, sagte Wolfgang. „Bis Donnerstag ist noch viel Zeit.“

„Ich habe eine äußerst turbulente Woche vor mir“, sagte Heidi. „Viel Zeit bleibt mir da nicht.“

Als Heidi am nächsten Nachmittag nach Hause kam, war sie äußerst geschafft, und ohne sich nach Wolfgangs Arbeitsfortschritten zu erkundigen, sagte sie: „Heute hatte ich acht Stunden Unterricht. Und hospitiert wurde auch noch.“

In den ersten beiden Stunden habe Konzak in seiner Eigenschaft als Kreisfachberater für Englisch hospitiert, erzählte Heidi. Wenn nicht gerade hospitiert werde, komme sie in Englisch fast ohne Vorbereitungen aus.

„Die Englischstunden sind eine wahre Erholung für mich“, sagte Heidi. „Da habe ich festen Boden unter den Füßen, was ich von Deutsch nicht gerade sagen kann. Da schwimme ich manchmal mächtig, und mit oft dürftigen Vorbereitungen hangle ich mich dann wie ein Seiltänzer von einer Stunde zur anderen.“

Davon war aber nichts zu merken, als der Direktor in der dritten Stunde hospitiert hatte. „Ich war gut vorbereitet“, sagte Heidi. „Ich habe Grammatik gemacht. Trotzdem waren die Schüler lieb und haben ganz toll mitgearbeitet. Der Direktor hatte nichts an meiner Stunde auszusetzen. Er war äußerst zufrieden mit meiner Arbeit.“

Dann fragte sie Wolfgang, wie er mit seiner Arbeit vorangekommen sei und womit er sich den lieben langen Tag vertrieben habe.

„Ich habe versucht, mich etwas nützlich zu machen“, sagte Wolfgang. „Zuerst habe ich in der Wohnstube, der Küche, bei deinem Opa und hier oben in der Mansarde Feuer gemacht und ab und an nachgelegt, dann habe ich im Hof zwei Stunden lang Schnee geschippt und zu guter Letzt deinem Großvater eine Zigarre angeschnitten und Feuer gegeben.“

„Und während er rauchte, hat er dir irgendwas von früher erzählt“, sagte Heidi.

„Ja“, sagte Wolfgang, „und ich habe ihm unheimlich gern dabei zugehört.“

„Und was hast du so erfahren, wenn man fragen darf“, höhnte Heidi.

„Von den Russen hat er erzählt.“

„Von den Russen“, wiederholte Heidi.

„Ja, von den Russen“, sagte Wolfgang. Als Historiker wusste er, dass der Erste Weltkrieg durch die Ermordung des österreichischen Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand ausgelöst worden war, und er konnte sich schwach daran erinnern, was ihm in den Geschichtsvorlesungen über den Frieden von Brest-Litowsk und den Versailler Vertrag erzählt worden war. Aber mehr wusste er nicht.

Schon deshalb hatte er aufmerksam zugehört, als Heidis Großvater davon sprach, dass er am 2. Dezember 1915 an die Ostfront gekommen sei und sein Regiment monatelang einen Stellungskrieg in den Pijetsümpfen nahe der Stadt Tschernobyl geführt habe.

Louis Stillmark war beim Durchbruch in Ostgalizien dabei gewesen. Sie hatten am 6./7. Juli 1917 die russischen Angriffe bei Zbrowo zurückgeschlagen, und Louis Stillmark war auch dabei, als zwölf Tage später die deutschen Gegenstöße an der Ostfront begannen und die Russen sich hinter den Fluss Sereth zurückziehen mussten.

Vom Besiegen der Russen am Sereth-Fluss im Ersten Weltkrieg war Louis Stillmark auf das Ende des Zweiten Weltkriegs zu sprechen gekommen, und das hatte sich so angehört: „Als die Amerikaner im Mai 1945 Arnsbach verlassen hatten, tauchten einige Tage später Russen auf. Sie campierten an der Dreschhalle, genau uns gegenüber. Die Soldaten erbaten sich von uns Kartoffeln, Zwiebeln und Holz für die Kochstelle. Wir waren erleichtert, dass sich die so gefürchteten Soldaten ordentlich verhielten. Es waren zehn Mann, und ich versorgte sie mit einem geschlachteten Huhn und Ziegenmilch, an die sie offensichtlich gewöhnt waren.“

„Amen“, sagte Heidi, die diese Opa-Geschichten zur Genüge kannte.

Ein wahrer Sitzungsmarathon erwarte sie morgen: Parteilehrjahr, Gewerkschaftsversammlung und danach die letzte Dienstbesprechung vor den Winterferien, meinte sie. „Das kann spät werden.“

Und es wurde auch spät.

Gegen 23 Uhr wurde sie von einem Kollegen, der in Birkenhall wohnte, vorm Hoftor abgesetzt, und Wolfgang, der noch beim Lesen war, hörte das Klappen einer Autotür.

Heidi war ziemlich aufgekratzt, als sie zu später Stunde die Mansarde betrat. Sie ließ sich in einen der beiden Sessel fallen und fing sofort zu erzählen an, was sich in der Dienstbesprechung, die sie noch immer in Rage brachte, abgespielt hatte. Der Direktor habe sie vor versammelter Mannschaft heruntergeputzt, weil sie keine Elternbesuche gemacht habe, sagte Heidi. Er habe die Anweisung gegeben, dass bis Ende des Schuljahres alle Elternhäuser besucht werden müssten, und als sie zu sagen wagte, dass ihr das nicht möglich sei, habe er in scharfem Ton gemeint: „Ein Lehrer muss sich darüber klar sein, dass er ein sozialistischer Erzieher ist. Wer das nicht einsieht, kann eben nicht Lehrer sein.“

 

„Offensichtlich will man mich abservieren“, sagte Heidi. „Da man mir fachlich nicht beizukommen scheint, will man mir anderweitig einen Strick drehen.“

Heidi lag seelisch und moralisch total am Boden, als sie Wolfgang erzählte, welchen Schikanen sie an der Schule in Höhnberg ausgesetzt war, und am nächsten Tag, Wolfgang half seiner Schwiegermutter beim Abwaschen, erzählte er Lisbeth Stillmark davon.

Besonders in der Anfangszeit habe Heidi oft weinend erklärt, dass sie sich nicht als Lehrer eigne und sofort aus dem Schuldienst herauswolle, verriet ihm Lisbeth Stillmark. Da er zum Ausweinen nicht da gewesen sei, habe sie eben Heidi ein bisschen aufgerüttelt und getröstet. „Ich habe ihr ein paar Gläschen Rhöntropfen gegeben und ihr gesagt, dass es nun einmal nicht ihr Charakter sei, zu katzbuckeln und anderen Leuten nach dem Mund zu reden“, sagte Lisbeth Stillmark. Auch ihr Vater habe deshalb seinen Beruf als Lehrausbilder aufgegeben. Das liege nun mal in der Familie.

„Und damit war die Sache aus der Welt?“, fragte Wolfgang.

„So gut wie“, sagte Lisbeth Stillmark.

Als Heidi am Donnerstagabend endlich mit dem Schreiben der restlichen Zeugnisse fertig war, sagte sie: „Wenn das blöde Manöver ‚Schneeflocke‘ nicht wäre, würde ich mich sogar auf den morgigen Tag freuen können. Zeugnisausgabe, ein bisschen Vorlesen aus irgendeinem Buch. Und Schluss. Ist aber nicht so. Zeugnisausgabe in der ersten Stunde, dann Manöver ‚Schneeflocke‘ bis 13 Uhr. Du kannst dir nicht vorstellen, wie mich das ankotzt, dieses Kriegspielen im Schnee.“

Heidi hatte sich eigentlich vorgenommen, Wolfgang in den Winterferien bei seiner Staatsexamensarbeit zu helfen. Aber schon am Sonntagvormittag ging es ihr nicht besonders gut. Sie hatte plötzlich keinen Appetit, ließ das Mittagessen stehen, bekam Schüttelfrost und legte sich sofort ins Bett. Sie glaubte, eine mögliche Erkältung mit Wärme und Teetrinken abfangen zu können. Einen Tag später aber bekam sie Fieber, und der Arzt musste geholt werden. Der Arzt stellte eine Blasenentzündung fest und schrieb sie sofort krank. Eine Woche Bettruhe verordnete er ihr und verschrieb ihr Tabletten. Aus Furcht, dass die recht harmlose Krankheit sich zu etwas Ernstlichem entwickeln könnte, verkroch sie sich in ihrem Bett, und Wolfgang bekam sie nur zu Gesicht, wenn er ihr Tee in die hintere Kammer brachte und sehen wollte, wie es ihr ging.

„Wie habe ich mich auf diese zwei Wochen Ferien gefreut“, sagte Heidi. „Jetzt liege ich auf der Nase, habe mit mir zu tun und kann dir kein bisschen bei deiner Arbeit helfen. So schwer hat es mich erwischt.“

Durch die Tabletten und das ständige Wärmen und Liegen fühlte sich Heidi ziemlich geschwächt, und sie hatte einfach keine Lust, irgendetwas zu tun, was nach Arbeit roch. Und dem Manöver „Schneeflocke“ gab sie die Schuld, dass sie bei herrlichstem Winterwetter im Bett lag und die Tage mit Wolfgang nicht genießen konnte.

Als sie in ihren nassen Schuhen in der Kälte gestanden und auf den Bus gewartet habe, habe sie sofort gemerkt, dass sie sich was weggeholt hatte, sagte Heidi. Drei Stunden habe dieses beschissene Manöver „Schneeflocke“ gedauert, drei Stunden sei sie durch den tiefen Schnee ihren Schülern hinterher getappt.

„Die Marschkolonne übers Feld, auf dem der Wind eisig pfiff, wurde von einem Jungen aus der achten Klasse angeführt. Er ging mit seinem Luftgewehr, das er geschultert hatte, offimäßig voran, und wir folgten ihm durch den knietiefen Schnee. Als wir verschwitzt in einem Steinbruch ankamen, mussten meine Schüler auf Luftballons schießen“, erzählte Heidi. „Nach der Schießstation ging es zurück in die Schule. Auf dem Schulhof stand eine dampfende Gulaschkanone, und für jeden gab es einen Teller Bohnensuppe.“

Danach hätten sie alle durchfroren und mit nassen Füßen auf den Schulbus gewartet, der ewig nicht kam, erboste sich Heidi noch immer.

„Wenn das beschissene Manöver ‚Schneeflocke‘ nicht gewesen wäre, würde ich jetzt nicht mit dieser unangenehm-schmerzhaften Blasenentzündung im Bett liegen“, motzte Heidi.

In ihr dickes Federbett gemummelt, fragte sie, wie Wolfgang mit seiner Arbeit vorankäme und versuchte, ihm gute Ratschläge zu geben. Mit fiebernasser Stirn riet sie ihm, so viel wie möglich Fakten zu sammeln, die sich exakt auswerten ließen, und sie legte ihm dringend ans Herz: „Lass dich auf keinen Fall zu vorschnellen Verallgemeinerungen hinreißen. Und vermeide allzu subjektive Meinungsäußerungen. Das hat man in wissenschaftlichen Arbeiten nicht gern.“

Ob man es gern hatte oder nicht, Wolfgang würde seine Arbeit auf jeden Fall mit einem Affront gegen die lahmarschige Literaturwissenschaft der DDR beginnen, und er wusste auch schon wie. Als Autor wollte er etwas bewegen, etwas umstürzen wollte er, und das las sich dann so: „Statt einer Monographie über den Dramatiker Claus Hammel, der zwischen 1962 und 1967 fünf Stücke schrieb, die allesamt erfolgreich aufgeführt wurden, liegen nur ein paar dürftige Rezensionen vor, und die Umstrittenheit des Stücks ‚Morgen kommt der Schornsteinfeger‘, das das Publikum in ein Für und Wider spaltet, wird von der Kritik weitgehend unterschlagen. Hier offenbart sich, dass die Literaturwissenschaft nur ungenügend auf sozialistische Zeitstücke und Gegenwartsautoren wie Hammel reagiert. Mir scheint, die Literaturwissenschaft wartet darauf, bis Hammel gesehen werden kann, wie wir die Klassiker heute sehen. Wenn die Gegenwartsdramatik nach einer Analyse verlangt, so muss sie heute von uns getroffen werden. Ein Warten auf die nötige Distanz ist ein Warten auf Godot, der nicht kommt.“

Nach einer Woche strenger Bettruhe war Heidi auf dem Weg der Besserung und half Wolfgang, wie versprochen, seine Staatsexamensarbeit zu einem glücklichen Ende zu bringen.

Gemeinsam gingen Heidi und Wolfgang das bisher Geschriebene durch, und stundenlang diskutierten sie darüber, was gut herausgearbeitet war, unbedingt überarbeitet oder neu bedacht werden sollte.

Einig waren sich Heidi und Wolfgang darüber, dass der „Versuch über das Glück“, wie Hammels Stück im Untertitel hieß, ins Zentrum der Betrachtung gestellt werden müsse. Sie konnten sich gut in die Lage der Hauptfiguren hineinversetzen: Jette und Jule waren Mitte zwanzig. Als sie von einem alten Mietshaus, das abgerissen wird, in eine geräumige Hochhauswohnung zogen, glaubten sie, ihr Glück gefunden zu haben. Aber Jette stellte plötzlich fest, dass ihre Arbeit sie nicht glücklich machte. Sie suchte nach dem Glück, konnte es aber weder auf der Seite ihrer früheren Freunde noch auf der Seite ihrer neuen Freunde finden. Auch gelang es ihr nicht, nach dem Umzug, der ein Neubeginn sein sollte, unbelastet von der Vergangenheit zu leben.

Auch Heidi und Wolfgang sehnten sich nach Zweisamkeit, Liebe und Verständnis, nach einer eigenen Wohnung und nach einer Arbeit, bei der sie Erfüllung spürten.

Wolfgang und Heidi konnten Jette verstehen, die, im Gegensatz zu Jule, unter Glück etwas anderes verstand als Wohlstand, Arbeit und berufliche Karriere. Auch sie verurteilten Wohlstandsdenken und jene neureichen Schmarotzer, die sich die Mangelwirtschaft der DDR zunutze machten und durch Schwarzarbeit und Schachern ziemlich viel Geld scheffelten. Und im Gegensatz zur Widerstandskämpferin Sellin, einer Figur des Stückes, hielten es Wolfgang und Heidi auch nicht für das große Glück, dass sie im Sozialismus leben konnten.

Während Wolfgang verstehen konnte, dass Jette Glück empfand, wenn sie die Welt veränderte, konnte Heidi mit Jettes Aussage, dass der Sozialismus für sie Heimat sei, nichts anfangen. Denn unter Heimat verstand Heidi etwas grundsätzlich anderes. Arnsbach war für sie Heimat und nicht der Sozialismus.