Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert

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Roter Oktober

Da die bolschewistische Machtergreifung aus dem Nichts zu kommen schien, sind die Gründe für ihren überraschenden Erfolg bis heute heiß umstritten. Zweifellos hat die verfehlte Politik der Provisorischen Regierung die sich immer weiter steigernde Radikalisierung begünstigt; in dieser Hinsicht folgte die Entwicklung dem Muster der Französischen Revolution eineinviertel Jahrhunderte zuvor. Doch seltsamerweise half die Enttäuschung, die KerenskiKerenski, Alexander dem Volke bereitete, nicht den Sozialrevolutionären und Menschewiki, sondern stärkte vielmehr die Bolschewiki. Eine traditionelle These macht das unterschiedliche Abschneiden der linken Gruppierungen wesentlich an LeninLenin, Wladimir I. fest, der klarsichtiger und skrupelloser geführt habe als seine Konkurrenten. Sowjetische Apologeten meinten dagegen, die bolschewistische Programmatik – ›Brot, Land und Frieden‹ – habe eben mehr und mehr Anklang im Volke gefunden. Dadurch sei ihrer Machtübernahme eine Aura der Legitimität erwachsen, die den anderen fehlte.1 Im Gegensatz dazu betonen postsowjetische Kritiker des untergegangenen Systems, die kommunistische Machtergreifung sei eigentlich das Ergebnis eines Staatsstreichs gewesen. War die »Glorreiche Oktoberrevolution« also ein Triumph der Graswurzeldemokratie – oder der Putsch einer radikalen Minderheit, der zwangsläufig zur Diktatur führte?

Es ist schwierig, den Beitrag von Lenins Führerschaft zum Gelingen der Revolution genau zu bemessen, denn der Kult um seine Person hat ihn zu einer überlebensgroßen Figur mit außergewöhnlichem Charisma stilisiert. Unter dem Namen Wladimir I. UljanowLenin, Wladimir I. in eine liberale Lehrerfamilie hineingeboren, schien er prädestiniert für eine vielversprechende juristische Laufbahn. Doch als sein älterer Bruder wegen Beteiligung an einem terroristischen Attentat hingerichtet wurde, gelobte WladimirLenin, Wladimir I., Revolutionär zu werden, und schloss sich dem radikalen Flügel der Arbeiterbewegung an. Um sich seinen zaristischen Verfolgern und einer möglichen Verbannung nach Sibirien zu entziehen, emigrierte er in die Schweiz, wo er sich eine theoretische Position erarbeitete. Konkret versuchte er, die marxistischen Strukturanalysen auf das rückständige Russland anzuwenden. Während jener Jahre legte er sich das Pseudonym »Lenin« zu, gewöhnte sich einen spartanischen Lebensstil an und wurde der Prototyp dessen, was er in seinen Schriften »Berufsrevolutionär« nannte. Er publizierte zahlreiche Pamphlete, darunter Was tun? (1902), die ihm einen Ruf als brillanter Theoretiker einbrachten; viele attestierten ihm eine imposante Fähigkeit, sozialistische Ideen auf konkrete politische Situationen zu übertragen. Den Ersten Weltkrieg brandmarkte er als einen imperialistischen Kampf. LeninLenin, Wladimir I. beeindruckte seine Genossen mit seinem eisernen Willen und seiner totalen Hingabe an die Sache, aber er hatte weiterhin Schwierigkeiten, sie von jenen seiner Erkenntnisse zu überzeugen, die das Taktische betrafen.2

Genauso wichtig war freilich, dass die bolschewistische Partei dank ihrer kompromisslosen Gegnerschaft zum Krieg und ihrer Brot-und-Land-Versprechen immer mehr an Attraktivität gewann. Im Untergrund hatte die Partei eine ganze Schar talentierter Individuen angezogen, so Leo TrotzkiTrotzki, Leo, Josef StalinStalin, Josef, Lew KamenewKamenew, Lew und Nikolai BucharinBucharin, Nikolai. Als diese Organisatoren nun ungehindert agieren konnten, transformierten sie die Bolschewiki von einem revolutionären Kaderverband in eine Massenorganisation, stark genug, die Macht zu übernehmen. Im Gegensatz zu den Sozialrevolutionären und Menschewiki, die sich durch ihre Teilnahme an der Provisorischen Regierung kompromittiert hatten, profitierte LeninsLenin, Wladimir I. Partei von ihrer strikten Verweigerung jeder Kooperation; und so wuchsen ihre Reihen bis Mittsommer 1917 von ein paar tausend auf eine Viertelmillion. Im Ersten Allrussischen Sowjetkongress, der im Juni 1917 tagte, bekamen die Bolschewiki nur 105 Sitze – zum Vergleich: Die Sozialrevolutionäre hatten 285, die Menschewiki 248. Aber die enttäuschten Arbeiter, Soldaten und Bauern liefen in wachsenden Scharen zu ihnen über; bei den Wahlen zum PetrograderSankt Petersburg (Leningrad, Petrograd) Stadtrat im August gaben sie den Bolschewiki ein Drittel der Stimmen, und beim Urnengang in Moskau Ende September erhielten sie die Hälfte der Sitze.3

Ein weiterer entscheidender Faktor war die Unfähigkeit der Provisorischen Regierung, die Sowjets unter Kontrolle zu bekommen und die militärische Disziplin aufrechtzuerhalten. Als Anfang Juli ein Maschinengewehrregiment zur Front befohlen wurde, fanden sich Arbeiter und Soldaten zu einem Massenprotest zusammen, marschierten in die PetrograderSankt Petersburg (Leningrad, Petrograd) Innenstadt und riefen: »Alle Macht den Sowjets!« Mit einer spontanen Revolte konfrontiert, warnte LeninLenin, Wladimir I.: »Wenn wir jetzt die Macht ergreifen, wäre es naiv zu glauben, wir könnten sie behalten.« Da die Bolschewiki nur eine kleine Minderheit seien, sollten sie warten, bis sie mehr Rückhalt gewonnen hätten. Ihre Weigerung, sich an die Spitze der Menge zu stellen, rettete die Provisorische Regierung – vorerst. KerenskiKerenski, Alexander wurde freilich auch von rechts bedroht. Im August überredeten verängstigte bürgerliche Parlamentarier und zaristische Offiziere General Lawr G. KornilowKornilow, Lawr G., mit seinen Truppen einzugreifen: Er solle Recht und Ordnung wiederherstellen und so das Land vor der drohenden Katastrophe bewahren. Als KerenskiKerenski, Alexander Gerüchte hörte, das Militär sei bereit, die Macht zu übernehmen, musste er ausgerechnet an die Arbeiter und Soldaten appellieren, sie mögen die Truppen stoppen, noch bevor diese PetrogradSankt Petersburg (Leningrad, Petrograd) erreichten. Solche Krisen demonstrierten, dass die Regierung zwischen den politischen Extremen zerrieben wurde.4

Mitte September schien LeninLenin, Wladimir I. die Zeit reif für einen Aufstand unter bolschewistischer Ägide. Aus seinem sicheren Exil in Finnland mahnte er seine Gefolgsleute: »Die Bolschewiki haben in den Arbeiter- und Soldatenräten beider Hauptstädte die Mehrheit. Jetzt können und müssen sie die Macht in ihre eigenen Hände nehmen.« Da er befürchtete, KerenskiKerenski, Alexander könnte, wenn die Konstituierende Versammlung eine demokratische Verfassung beschlösse, eine dadurch legitimierte Regierung bilden, bevorzugte LeninLenin, Wladimir I. ein Mandat durch das Volk: »Die Mehrheit des Volkes ist auf unserer Seite«. Ohne Rücksicht auf demokratische Formalitäten befürwortete er, mit einer »bewaffneten Erhebung in PetrogradSankt Petersburg (Leningrad, Petrograd) und MoskauMoskau« das parlamentarische Regime zu stürzen: »Die Geschichte verzeiht uns nie, wenn wir jetzt nicht die Macht ergreifen.« »Nein, tausendmal nein«, hielt KamenewKamenew, Lew dagegen, denn ein verfrühter Putsch, so seine Sorge, würde die Revolution vereiteln. Aber nach einer heftigen Debatte überzeugte LeninLenin, Wladimir I. auch ihn, ebenso wie andere störrische Parteiführer, und es begannen die Vorbereitungen für die Machtergreifung.5 Dieses Wagnis beruhte auf dem Kalkül, die Bolschewiki könnten die neuen revolutionären Militärkomitees dominieren, die inzwischen sämtliche Truppenbewegungen in der Hauptstadt und um diese herum kontrollierten.

Ironischerweise lieferte die Provisorische Regierung selber Ende Oktober den Vorwand für die Erhebung. Nachdem er gehört hatte, dass etwas im Gange war, befahl KerenskiKerenski, Alexander die Schließung zweier bolschewistischer Zeitungen und wollte außerdem die Führer des Petrograder Militärischen Revolutionskomitees verhaften lassen. Die Bolschewiki gaben die Parole aus: »PetrogradSankt Petersburg (Leningrad, Petrograd) ist in Gefahr! Die Revolution ist in Gefahr! Das Volk ist in Gefahr!« Damit appellierten sie an die Sowjets, sich der drohenden Konterrevolution entgegenzustellen. Am Abend des 24. Oktober 1917 drängte LeninLenin, Wladimir I. seine Partei in dramatischem Ton: »Die Regierung wankt. Man muss ihr den Gnadenstoß versetzen, koste es was es wolle. Jede Verzögerung bedeutet den Tod«. Unter dem Oberbefehl TrotzkisTrotzki, Leo setzte das Petrograder Militärische Revolutionskomitee die Roten Garden in Bewegung. Diese paramilitärische Organisation bolschewistischer Freiwilliger okkupierte die Bahnhöfe, die Post- und Telegrafenämter, das Elektrizitätswerk, die Staatsbank und strategisch wichtige Straßen und Brücken. Als KerenskiKerenski, Alexander in einem Wagen der amerikanischen Botschaft floh, war der Aufstand schon erfolgreich beendet – und ohne Blutvergießen. Kein Wunder, denn die Provisorische Regierung besaß keine Truppen mehr, die sie hätte anweisen können, ihn niederzuwerfen. Entgegen der späteren Legende ergaben sich die anderen Minister im Winterpalais kampflos.6

Die Bolschewiken verloren keine Zeit und nutzten ihren Sieg, indem sie sich beim Zweiten Allrussischen Sowjetkongress sofort zur bestimmenden Kraft aufschwangen. Am Morgen des 25. Oktober verkündete ein Flugblatt, unterzeichnet vom PetrograderSankt Petersburg (Leningrad, Petrograd) Militärischen Revolutionskomitee, die Provisorische Regierung sei gestürzt: »Die staatliche Gewalt ist übergegangen in die Hände der Organe des Rates der Petrograder Arbeiter- und Soldatendeputierten.« Zur Rechtfertigung ihres Vorgehens behaupteten die Revolutionäre: »Die Ziele, für die das Volk gekämpft hat: sofortiger Abschluss eines demokratischen Friedens, Beseitigung des Eigentumsrechtes der Gutsbesitzer auf Land, Kontrolle der Arbeiter über die Produktion, Bildung einer Sowjetregierung – all dies ist gesichert«. Stürmischer Applaus empfing LeninLenin, Wladimir I., als er das Hauptquartier des Petrograder Sowjets betrat. Dort erklärte er, dies sei nun »die dritte russische Revolution« gewesen, die schließlich »zum Sieg des Sozialismus« führen werde. Obwohl die Bolschewiki nur 338 von 739 Sitzen im Allrussischen Kongress innehatten, billigte eine klare Mehrheit der Deputierten die Einrichtung einer Sowjetregierung. Im freudigen Überschwang verhöhnte TrotzkiTrotzki, Leo die unterlegenen Menschewiki: »Gehen Sie, wohin Sie gehören – auf den Müllhaufen der Geschichte!«7

 

Der Rote Oktober entwuchs also dem Staatsstreich einer Minderheit, der als eine Revolution des Volkes, ein Aufstand von unten inszeniert wurde. Im Gegensatz zu den Erhebungen von 1905 und Februar 1917 war die bolschewistische Machtergreifung keine spontane Graswurzelrevolte, sondern der sorgfältig geplante und geschickt ausgeführte Putsch einer radikalen Partei. Zwar konnte LeninLenin, Wladimir I. auf Anzeichen eines wachsenden öffentlichen Zuspruchs verweisen, dem die Bewegung verdankte, dass die Stimme des Bolschewismus innerhalb der Revolutionsräte überall in Russland jetzt lauter klang. Mit der Forderung »Frieden, Brot und Land« sympathisierten eben viele, weshalb sie LeninsLenin, Wladimir I. Leuten ja auch Mehrheiten in den Militärischen Revolutionskomitees beschert hatte, welche die Truppen um PetrogradSankt Petersburg (Leningrad, Petrograd) und MoskauMoskau kontrollierten. Aber nach klassischem Demokratieverständnis war die bolschewistische Machtübernahme keine Revolution durch, sondern für das Volk. LeninLenin, Wladimir I. und seine Partei mochten sich nicht mit den formalen demokratischen Mechanismen abgeben, denn sie glaubten in rousseauistischer Manier, dass sie schon wüssten, was für das russische Volk das Richtige sei; deswegen waren sie auch bereit, es in ihre Gefolgschaft zu zwingen.8 Während der bolschewistische Coup im Inland wilde Turbulenzen auslöste und seine Gewaltsamkeit die Mittelklassen in ganz Europa erschreckte, sahen Russlands kriegsmüde Soldaten und Arbeiter die Oktoberrevolution als Fanal der Hoffnung auf Frieden und Gleichheit.

Die Sowjetmacht

Die Machtergreifung stellte die Bolschewiki vor eine gewaltige Herausforderung: Sie mussten nun tatsächlich ein chaotisches Land regieren und dabei auch noch eine sozialistische Modernisierung durchführen. Konnten sie sich überhaupt an der Macht halten? Selbst so erfahrene Marxisten wie PlechanowPlechanow, Georgi waren da skeptisch, denn »in der Bevölkerung unseres Staates bildet das Proletariat nicht die Mehrheit, sondern die Minderheit«. Um solche Bedenken zu überwinden, hielt TrotzkiTrotzki, Leo dagegen: »Was hier geschehen ist, war ein Aufstand und keine Verschwörung«; schließlich handelten die Bolschewiki im Namen der »Volksmassen«. Um die errungene Macht zu konsolidieren, richtete Lenin rasch ein Führungsorgan ein, den »Rat der Volkskommissare«, russisch Sowjet Narodnych Komissarow, abgekürzt Sownarkom, der zumindest vorgeblich die Sowjets repräsentierte.1 Er hatte sich zu bewähren in einem sich stetig verschlimmernden Chaos, das Zaristen und konterrevolutionäre Parlamentarier, die auf baldige Rückkehr der alten Kräfte setzten, ebenso fleißig beförderten wie moderate Revolutionäre, die nicht verwinden konnten, dass man sie ausmanövriert hatte. In diesen anarchischen Zuständen versuchte das selbsternannte sozialistische Regime seine Autorität zu stabilisieren, indem es populäre Gesetze erließ und Gewalt gebrauchte. Kaum in der Lage, die Straßen der beiden Hauptstädte zu kontrollieren, sah sich das neue Führungsgremium, der Sownarkom – manche nannten ihn auch schon »die Sowjetregierung« –, vor der harten Aufgabe, die Macht zu behalten und sein Programm in die Praxis umzusetzen.

Vordringlich musste man die Unterstützung der kriegsmüden Soldaten gewinnen. Ein erster Schritt war das Friedensdekret vom 26. Oktober. Diese Proklamation forderte »alle kriegführenden Völker und ihre Regierungen dazu auf, sofort Verhandlungen über einen gerechten und demokratischen Frieden« zu beginnen. Die Bolschewiki übernahmen den menschewikischen Slogan »Frieden ohne Annexionen und Entschädigungen«; zusätzlich gewährten sie den verschiedenen Nationalitäten in Russland das Recht auf Selbstbestimmung. Ebenso erklärten sie die Geheimdiplomatie für abgeschafft und damit auch die Vereinbarungen, die das zaristische Russland inoffiziell mit anderen Staaten geschlossen hatte. Erfreut, einen bedeutsamen Feind loszuwerden, akzeptierte die deutsche Regierung einen Waffenstillstand und trat am 19. November in die Verhandlungen ein. Als jedoch deutlich wurde, dass die sowjetische Seite auf Zeit spielte, weil sie Revolutionen in weiteren kriegführenden Ländern erhoffte, schloss BerlinBerlin am 9. Februar 1918 einen Separatfrieden mit der Ukraine. Zornig verließ TrotzkiTrotzki, Leo den Verhandlungsraum und erklärte: »Weder Krieg noch Frieden«, aber die Deutschen durchschauten seinen Bluff und setzten ihren Vormarsch fort. Das zwang die Sowjets, am 3. März 1918 den Friedensvertrag von Brest-LitowskBrest-Litowsk zu unterzeichnen. Für die Atempause, die Russland dank seinem Ausstieg aus dem Krieg nun zur Konsolidierung der Revolution bekam, zahlte es den Preis, dass es mehrere seiner bisherigen Provinzen in die Unabhängigkeit entlassen musste: Finnland, die baltischen Staaten, Polen und die Ukraine.2

Weiterhin belohnten die Bolschewiki ihre Getreuen mit dem »Dekret über Grund und Boden« sowie dem »Dekret über Arbeiterkontrolle«. Kurz nach dem Umsturz proklamiert, schaffte Ersteres jeglichen Privatbesitz im Agrarbereich ab. Die Ländereien der Adeligen, der Kirche und der Krone wurden konfisziert und dem lokalen Bauernrat, wolost’ genannt, überstellt. Tatsächlich legalisierte die Maßnahme lediglich einen Enteignungsprozess, der ohnehin im Gange war, doch nun hatten die Bauern ganz offiziell die Erlaubnis, sich selbst zu verwalten. Politisch gesehen war der Erlass ein brillanter Zug, entwand er doch den populistischen Sozialrevolutionären einen Hauptprogrammpunkt; ökonomisch jedoch war er von zweifelhaftem Wert, denn die Landverteilung parzellierte und fragmentierte den Grundbesitz. Entsprechend produzierten die Bauern vorwiegend für den Eigenbedarf, sodass sich keine hinreichende Versorgung der Städte mit Lebensmitteln sicherstellen ließ. Die zweite Verordnung etablierte die »Kontrolle der Arbeiter über die Industrie« durch »gewählte Komitees, die Produktion und Verteilung der Produkte beaufsichtigen«; so sollten große Betriebe schrittweise in den Besitz der Stadtgemeinden oder des Staates übergehen.3 Und weitere gewerkschaftliche Forderungen wurden erfüllt, etwa die Einführung des Achtstundentages und der obligatorischen Krankenversicherung. Solche Schritte erleichterten es den Arbeitern in den Fabriken und auf dem Lande, sich von der bolschewistisch kontrollierten Regierung leiten zu lassen; freilich beschnitt ihnen die Sowjetregierung das frisch Errungene bald wieder.

Die Bolschewiki griffen im Namen des »revolutionären Klassenkampfes« auch zu diktatorischen Mitteln. Innerhalb der Sowjets stachen sie Konkurrenten aus oder säten Zwietracht, indem sie besonders zündende Programmpunkte von ihnen übernahmen und ihnen so die Schau stahlen. Um die öffentliche Meinung zu kontrollieren, behinderten sie außerdem das Erscheinen aller Presseorgane, die ihrer Politik kritisch gegenüberstanden. Mehr als einmal schafften sie genau die Rechte ab, die sie von der zaristischen Autokratie gefordert hatten. Anfang Dezember begannen sie ein Kesseltreiben gegen die Führer der Kadettenpartei sowie gegen unkooperative Sozialrevolutionäre und Menschewiki. Indem sie eine eigene Geheimpolizei gründeten, die Tscheka, etablierten sie einen Polizeistaat. Der Tscheka-Chef, ein Fanatiker namens Felix DserschinskiDserschinski, Felix, hielt nichts davon, dass Revolutionäre »gerecht« zu sein hätten, denn er glaubte: »Heute herrscht Krieg. Von Angesicht zu Angesicht – ein Kampf bis zum Ende. Leben oder Tod!« Da LeninLenin, Wladimir I. nicht zum Parlamentarismus zurückkehren wollte, beseitigte er die Konstituierende Versammlung, auf der die Hoffnung aller moderaten Reformer geruht hatte. Im Bewusstsein der Tatsache, dass die Mehrheitsverhältnisse dort sie nicht eben gut aussehen ließen – sie hatten nur 175 von 707 Sitzen gewonnen, die Sozialrevolutionäre hingegen 370 –, sperrten die Bolschewiki die Delegierten nach dem ersten Tage einfach aus und beendeten so das Experiment einer parlamentarischen Regierung in Russland.4

Der nun folgende Bürgerkrieg, den Boris PasternakPasternak, Boris in seinem berühmten Roman Doktor Schiwago verewigt hat, beschleunigte die Einrichtung einer bolschewistischen Diktatur und entfesselte einen unsäglichen Terror, unter dem das zwischen den Fronten gefangene Volk leiden musste. Die Auflösung der Konstituierenden Versammlung zeigte deutlich genug, dass das sowjetische Regime nur mit Gewalt gestürzt werden konnte. Zwar schickten die westlichen Alliierten ein paar Truppen nach Nord- und Südrussland, um ihre militärischen Lieferungen zu sichern, aber sie konnten sich nicht so recht entscheiden, wen sie eigentlich unterstützen sollten. Während des Jahres 1918 gab es eine verwirrende Serie bewaffneter Aktionen gegen die Sowjetmacht, an der die deutschen Okkupanten, das ukrainische Parlament, genannt Rada, die Tschechische Legion und die Sozialrevolutionäre beteiligt waren, die in SamaraSamara eine Gegenregierung gebildet hatten. Im folgenden Jahr begannen die Generäle der gegen die Bolschewiki kämpfenden russischen Weißen Armee, Alexander KoltschakKoltschak, Alexander, Anton DenikinDenikin, Anton und Pjotr Wrangel,Wrangel, Pjotr konzentrische Offensiven auf Moskau, aber wegen mangelnder Koordination erlitten sie eine Niederlage nach der anderen. Der unermüdliche TrotzkiTrotzki, Leo befeuerte derweil den Kampfeswillen des neuen russischen Staatsmilitärs, das er zuvor aus ehemaligen zaristischen Offizieren und revolutionären Soldaten formiert hatte. Dieses Heer, die Rote Armee, triumphierte über alle Feinde und eroberte 1920 auch die UkraineUkraine zurück.5 Die Streitkraft wurde sogar so stark, dass sie mit dem wiedererstandenen polnischen Nationalstaat einen veritablen konventionellen Krieg führen konnte, der in einem Unentschieden endete.

Der Kriegskommunismus radikalisierte das Sowjetregime noch mehr, denn es erkannte nun, dass es »Ordnung und Disziplin« brauchte, um zu überleben. Da die industrielle und die agrarische Produktion absackten, während die Inflation hochschnellte, entwickelte sich eine Art Tauschwirtschaft. Getreide musste das Regime zwangsrequirieren, und bestimmte Waren gab es nur noch auf dem Schwarzmarkt. Gleichzeitig wuchsen die Aktivitäten der Tscheka mächtig an; sie beschuldigte Tausende des Verrats und sperrte sie ein, ohne dass man den Festgesetzten Zugang zu Rechtsmitteln gewährte. Auch traten jetzt scharenweise Opportunisten in die Partei der Bolschewiki ein, da sie das Monopol der politischen Macht innehatte. Als die Soldaten der Marinebasis KronstadtKronstadt energisch eine Rückkehr zu den ursprünglichen revolutionären Zielen Freiheit und Gleichheit verlangten, schlug die Sowjetregierung die Revolte unbarmherzig nieder, womit sie sich selber diskreditierte.6 Sogar LeninLenin, Wladimir I. erkannte die Gefahr, dass solch drakonische Maßnahmen das Regime genau jenen Arbeitern und Bauern entfremdeten, die es zu repräsentieren vorgab. Folglich führte er widerwillig die »Neue Ökonomische Politik« ein, die in beschränktem Rahmen marktwirtschaftliche Anreize wieder zuließ. Gleichzeitig stellte er freilich seine Parteigenossen unter eine noch schärfere interne Kontrolle.

Obwohl die Sowjetregierung sich daheim nur knapp über Wasser hielt, fand ihre Botschaft von Frieden und Gleichheit in Europa bei bestimmten Schichten durchaus Anklang. Sie motivierte Arbeiter und Bauern aller kriegführenden Länder, noch stärker auf ein Ende des Gemetzels zu drängen. Aus Furcht, ihre Untertanen könnten sich mit Pazifismus und Sozialismus anstecken, verdoppelten die Bolschewiki ihre Propagandabemühungen, um den Streiks und Demonstrationen etwas entgegenzusetzen. Doch ihre Hoffnungen auf Hilfe durch eine »Weltrevolution« wurden enttäuscht. Wohl beschleunigten die Antikriegsparolen den Zusammenbruch in den Staaten der Mittelmächte, aber Republiken nach sowjetischem Muster existierten nur kurz in MünchenMünchen und in BudapestBudapest. Um den Rest der Welt gegen den revolutionären Virus zu isolieren, schuf die PariserParis Friedenskonferenz einen entsprechend dem Vertrag von Brest-LitowskBrest-Litowsk angelegten Schutzstreifen oder cordon sanitaire unabhängiger Staaten zwischen Russland und Mitteleuropa. MoskauMoskau hielt aber fest an seiner Intention, die Revolution zu verbreiten; auch die Gründung der Komintern 1919 diente diesem Ziel. Und so blieb die Sowjetregierung denn international geächtet: Kein Staat erkannte sie an, mit keinem hatte sie vertragliche Beziehungen. Erst als sich die ehemaligen Alliierten nicht über die Reparationen einigen konnten, die Deutschland zu zahlen habe, unterzeichneten die beiden Parias BerlinBerlin und MoskauMoskau 1922 in RapalloRapallo einen Normalisierungsvertrag, in dem jede Seite auf finanzielle Forderungen an die andere verzichtete. Gleichzeitig begann eine verdeckte militärische Kooperation.7

 

Letztendlich waren die Gründe für das Überleben der bolschewistischen Minderheitsdiktatur doch komplexer, als es geläufige Erklärungen suggerieren. Allein die Legitimierung durch das Volk gab den Ausschlag, meinen die einen, allein rücksichtsloser Zwang, meinen die anderen, und beide greifen zu kurz. Falsch ist auch die Unterstellung, es sei eine kapitalistische Verschwörung am Werke gewesen. Vielmehr waren es die Unfähigkeit ihrer Feinde und ihr Mangel an Koordination, die den umkämpften Sowjetführern Luft verschafften. Kein Zweifel, die frühen Dekrete über sofortigen Frieden, Neuverteilung des Agrarbesitzes und Arbeiterkontrolle über die Betriebe erfüllten die Wünsche einer kriegsmüden, bodenhungrigen und ausgebeuteten Unterschicht in Russlands metropolitanen Zentren und seinen ländlichen Weiten. Eine nicht minder wichtige Rolle spielten die systematische Ausschaltung tatsächlicher oder vermeintlicher Konterrevolutionäre durch die Tscheka und das siegreiche Vorgehen der Roten Armee gegen diverse Verbände der »Weißen« und der »Grünen« (mit Letzterem sind lokal operierende antisowjetische Bauern-Partisanen gemeint). Ebenso aber waren bestimmte personale und gruppenspezifische Eigenschaften bedeutsam: LeninsLenin, Wladimir I. beharrlicher Wille und der Pragmatismus, mit dem er seine Politik den jeweiligen Bedingungen anpasste, aber auch die eiserne Disziplin, mit der sich die wachsende bolschewistische Partei den postrevolutionären Herausforderungen stellte.8 Trotz vieler unleugbarer Enttäuschungen blieb die Vision einer sozialistischen Moderne – Frieden, genug zu essen und menschlichere Arbeitsbedingungen – verheißungsvoll, versprach sie doch, das ehemalige Zarenreich mit Macht einer besseren Zukunft entgegenzusteuern.