Der letzte Ball

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5.

Frisch gewaschen, wohlig gesättigt und neu geschminkt trat Smeralda in das vollgefüllte Musikzimmer ein. Überall standen Herren in Smokings neben Damen mit Stirnbändern oder enganliegenden Hüten, die sich über ihre Köpfe stülpten, sogenannten Cloches. In den Händen hielten sie Sektgläser oder Zigarettenhalter, Gesichter schauten entspannt auf ihre Gegenüber oder desinteressiert in eine unbestimmte Richtung. Die Bühne, die in der Mitte des Saals am hinteren Ende platziert war, war bis auf den Flügel und zwei Standmikrofone noch leer. Während Smeralda sich durch die Reihen quetschte, um sich zu den Stuhlreihen vorzuarbeiten, suchte sie den Raum nach bekannten Gesichtern ab. Sie erkannte Tarnoff, der in einem Kreis mit Menschen verschiedensten Alters und Aussehens stand und nur darauf gewartet zu haben schien, dass sie ihn erblickte – er warf ihr eine Kusshand zu. In einer anderen Ecke standen einige Fußballer in ihren dunkelblauen Jacketts und lachten, so vermutete sie, über anzügliche Witze. Den feschen jungen Mann, dem sie einen Platz freihalten sollte, konnte sie nicht in der Gruppe erkennen. Auf der anderen Seite des Saals, unter einem Ölgemälde nackter Musen, stand Moritz Fischer. Er schien sie gerade noch angesehen zu haben, hatte dann aber seinen Blick auf die roten Vorhänge am Rande der Bühne gerichtet. Langsamen Schrittes, mit einem gewissen Hüftschwung, der ihr die Blicke der männlichen Gesellschaft sicherte, ging sie auf ihn zu, zog eine rote Fliege aus ihrer Tasche und wedelte damit vor seinem Gesicht herum.

„Gehört diese zufällig Ihnen, Herr Fischer?“

Er schnappte nach dem Beweisstück wie ein Frosch nach einer Fliege. Dann wurde er sich der Unhöflichkeit seiner abrupten Reaktion bewusst.

„Äh, ja, Madame. Vielen Dank. Es ist nur …“

Smeralda lachte – nicht unfreundlich neckte sie ihn weiter, weil seine schüchterne Unbeholfenheit sie aufheiterte.

„Sie schämen sich meiner Gesellschaft?“

„Keineswegs. Niemals würde ich … Ich …“

„Keine Sorge, lieber Moritz. Ich verrate niemandem etwas.“

Wie auf Zuruf wurden die Lichter gedimmt. Smeralda zog Moritz auf zwei äußere Stühle in einer der vorderen Reihen. Ein Mann schritt den Gang, der zwischen den Stuhlreihen freigehalten worden war, hinab. Er hatte einen grauen Wollanzug mit einer Nelke in der oberen Jacketttasche an und einen strengen Seitenscheitel, der die welligen Haare zu kontrollieren suchte. Hinter ihm trippelte eine verhuschte, allerdings nicht unattraktive Dame mit schwarzen Haaren im blauen Ballkleid auf die Bühne. Die letzten Zuschauer setzten sich klatschend. Der Mann machte eine tiefe Verbeugung, während die Frau neben ihm unsicher lächelte. Dann legte ein Mann am Klavier, der irgendwie unbemerkt auf die Bühne gelangt war, los. Schaljapins Bass dröhnte durch den Saal, konterkariert vom hellen Sopran von Marthe Nespoulous. Smeralda drückte sich in die Lehne ihres Sitzes.

„Carmen“, erläuterte Fischer flüsternd zu ihr gebeugt.

„Nein, ich heiße Smeralda.“

Er blickte sie einen hilflosen Augenblick verwirrt an, bis sie ihn schelmisch angrinste.

„Ich weiß doch. War nur ein Witz.“

Bei der nächsten Arie, die durch den Saal dröhnte, legte Smeralda ihre Hand auf Fischers Knie, was ihn zu einer weiteren Unsicherheit animierte.

„Das ist mein Knie“, flüsterte er, um sich im nächsten Augenblick für seinen Kommentar zu schämen. „Natürlich, mein Bester, das ist es“, sagte sie mit unverschämter Selbstsicherheit und ließ ihre Finger etwas weiter hochfahren. Auf einmal tat es einen Ruck. Der ganze Dampfer schien für einen Moment stillgestanden und sich dann in einer Art Hechtsprung nach vorne bewegt zu haben. Fischer und Smeralda schauten sich erstaunt an und mussten dann beide ein Kichern unterdrücken.

Nach der Pause kamen sie nicht mehr zurück in den Saal.

Die Dunkelheit war ein alter Bekannter, ein Verbündeter. Während die Menschen um ihn herum das Licht suchten, als seien sie hilflos, wenn sie auf die Hilfe ihrer Augen verzichten mussten, breitete sich in ihm eine wohlige Wärme aus. Er stieg die Eisentreppen hinab, leise, verschwand im Schatten von Türeingängen, wenn in der Ferne vereinzelt Fußtritte klapperten. Er hatte sich sorgsam vorbereitet. Die Schleife des Stoffbands des kleinen Ledermäppchens mit einem sorgsamen Ziehen sanft geöffnet. Zärtlich die Stiletts gestreichelt, bevor er sich für eins entschieden hatte. Nun lag es in seiner Hand in der Tasche, die Spitze an seinen Fingerkuppen, mit gerade so viel Druck, dass der Hautballen nicht aufplatzte.

Nun traf er den anderen, unterhielt sich mit ihm, lachte mit leisem Hauchen, ging dabei hin und her. Ging hinter ihn und nahm die Hand aus der Manteltasche. Nun war der Moment, in dem er es merken würde. Nun.

All die anderen Menschen auf diesem Schiff wankten orientierungslos durch den Tag, gefangen durch ihre Träume und ihre Sehnsucht nach Wohl und ihrer Angst vor Wehe. Beliebig rasten sie durch ein bedeutungsloses Leben, das irgendwo einen Anfang genommen hatte und dementsprechend irgendwo enden würde. Nicht so er. Er hatte ein Ziel, klarer als jemals zuvor, und die Schönheit seines Auftrags trug ihn durch die Nacht. Er wusste. Er funktionierte. Und in der Übertretung der für die anderen höchsten moralischen Grenze, im Morden, würde er höchste Erfüllung finden.

Der andere merkte, dass etwas nicht stimmte, drehte sich zu früh um und schrie. Schrie laut, zu laut. Doch die Nacht hatte sich auf seine Seite geschlagen. Das Schreien des Opfers wurde übertönt vom hellen Crescendo der Singenden. Es wurde ein dreckiges, übles Geschäft. Er musste den Körper über die Dielen schleifen und fand in der Dunkelheit eine Eisentür. Er öffnete sie unter Aufbietung all seiner Kräfte, wieder mit Hilfe der Götter der Dunkelheit. Er schleppte den Leichnam zu den Kohlehaufen und schaufelte. Dann sah er, wie sich ein Schatten auf den schwarzen Kohlen ausbreitete. Jemand stand hinter ihm.

3. Tag, 21. Juni 1930 – Fischer
1.

Wenn man erwacht, dann befindet man sich meist in einem dämmrigen Zustand. Wer, wo, was bin ich? Ist das, was ich gerade erlebe, wirklich real? Für Fischer würde sich dieser Dämmerzustand in den nächsten 14 Tagen, bis das Schiff das Ufer Montevideos erreichen würde, nicht mehr auflösen. Es schien, als sei er mit Betreten des Ungeheuers in eine verkehrte Welt gelockt worden, in der eine geheime Feenkraft oder ein unbekannter Hexenzauber seine Wahrnehmung und sein Handlungsvermögen einschränkten. Das Licht, das seine morgendliche Nasenspitze umspielte, von der salzigen Kruste des Kajütenfensterglases gebrochen, war kalkiger als das, was er bisher von seinen vielen Reisen durch Europa im Auftrag der Fußballgemeinschaft kannte, und es machte den Tag, den er zu beginnen gedachte, unwirklicher und auf eine gewisse Weise nicht unangenehm zauberhaft. Er schalt sich, noch als er sich den Bauch unter der Decke kratzte, dass er sich in eine weibische Gefühlsduseligkeit begeben hatte, doch obwohl er sich beim Aufstehen im wahrsten Sinne des Wortes schüttelte, konnte er doch diese Aura des Unwirklichen weder von sich, noch von den ihn umgebenden Manifestationen einer äußeren Welt abstreifen. Auch das kalte Wasser, das er sich ins schläfrige Gesicht spritzte, als er über dem Keramikbassin stand, half nichts. Moritz, so dachte er sich, Moritz, du wirst alt. Immerhin also, und das ist auch so eine erstaunliche Eigenschaft des Menschen, schaffte er es doch, trotz des anhaltenden Erlebens des Betörenden, dem Ganzen eine Erklärung aufzudrücken und so die Veränderung, die seine Wahrnehmung unterwandert hatte, erträglich zu machen.

Die andere Möglichkeit der Anpassung an widrige Umstände, die dem Menschen zur Verfügung steht, ist die beruhigende Macht der Gewohnheit. Fischer zog sich seinen dunkelbraunen Wollanzug an, knöpfte sich die Manschettenknöpfe zu und verstaute seine Uhr im Jackenrevers. Er schaute in die etwas geschwollen aussehenden Augen, die ihn im Spiegel über dem Bassin entgegenblickten, klatschte sich einmal rechts und einmal links auf die Wange und kramte in den Tiefen seines mannshohen Koffers, bis er das gefunden hatte, was er suchte – etwas, das ihn zu jeder Zeit und mit verlässlicher Gewissheit beruhigte. Er setzte sich in den breiten Ledersessel, der in der einen Ecke seiner Kajüte aufgestellt war und ihn wie eine zärtliche Mutter umfasste, seufzte zufrieden und öffnete das Buch an der Stelle, in der er die kleine Fotografie des schiefen Turms von Vrbové, seiner Geburtsstadt, hineingelegt hatte. Aufgeregt begann er das nächste Abenteuer seines großen Vorbilds, Sherlock Holmes, zu lesen: „A Scandal in Bohemia“. Fischer hatte sich das bis dahin erschienene Gesamtwerk Conan Doyles aus England mitgebracht und den dritten, vierten und fünften Teil der in Leder eingebundenen Büchlein mit auf die Reise genommen, wohlwissend, dass er damit im besten Falle bis zur Ankunft in Montevideo versorgt sein würde. Er fing an zu lesen: „Für Sherlock Holmes blieb sie immer die Frau. Selten habe ich ihn sie mit einem anderen Namen erwähnen hören. In seinen Augen überstrahlt und beherrscht sie ihr gesamtes Geschlecht.“ Weiter kam Fischer nicht. Er sah wieder die voluminösen Brüste Smeraldas vor sich baumeln, dachte an die nicht lange vergangenen Stunden, schluckte, knallte das Buch auf den Boden und ging endlich forschen Schrittes aus der Kabine.

Draußen auf dem Deck schoss ihm, sobald er die Tür geöffnet und die frische Meeresluft eingeatmet hatte, eine Holzscheibe gegen den Lederschuh. „Autsch“, rief er, mehr aus Schreck als vor Schmerz, und blickte danach in die erröteten Gesichter eines Mannes mit einem weißen Hemd und einem Hut und eines jungen Mädchens, das sich neben ihm die Hand vor den Mund hielt. Sich entschuldigend kam der Mann auf Fischer zu. Er legte eine Art Stock an die äußere Bordwand – auch seine Tochter hielt einen solchen Stock, der am unteren Ende eine verbreiterte Fläche hatte, in der Hand. Der Vater hatte offensichtlich mit seiner Tochter Shuffleboard gespielt. Fischer winkte ab und lachte zurück: „Ist nicht so schlimm, guter Mann. Das war wohl mehr die Überraschung am frühen Morgen.“ Der Mann schaute ihn etwas verwirrt an und nickte dann. Erst jetzt wurde Fischer klar, dass es ja schon nach zehn war. Immer noch stand das Mädchen in einem einfachen blauen Kleid etwas weiter hinten und schaute verängstigt. „Was ist, meine Kleine? Du musst keine Angst haben. Alles ist gut.“ Der Mann kratzte sich am Kopf und sagte: „Komm, Giuliana. Sag dem Mann Guten Tag.“ Fischer fielen die tiefen Linien auf, die in das Gesicht des Mannes eingegraben waren. Das Mädchen trat ein paar Schritte nach vorne und machte einen Knicks. Fischer lachte. „Du gutes Kind. Waren Sie schon beim Frühstück?“ Er wandte sich wieder dem Mann zu. Dieser schaute seltsamerweise etwas betreten zu Boden, nickte aber.

 

„Komm Giuliana, wir gehen“, sagte der Fremde unvermittelt. Und erst, als Fischer die mit weißer Farbe auf den Deckboden gemalten Felder, die mit verschiedenen Zahlen bezeichnet waren, sah und dann noch einmal auf die recht einfache Kleidung der beiden blickte, wurde ihm klar, warum die zwei nicht hierher gepasst zu haben schienen. Sie waren keineswegs Gäste der ersten Klasse. Fischer wollte ihnen noch etwas hinterherrufen, so in der Art, dass er sie nicht stören wollte und dass sie ruhig ihr Spiel weiterspielen könnten, aber sie waren schon hinter einer Tür, die ins Innere des Schiffes führte, verschwunden. Giuliana, dachte er, ein schöner Name. Dann trat er an die Reling, stützte seine Arme auf das glatte Holz und sog die frische Luft ein. Er schaute zunächst in die Weite des Mittelmeers, wo sich das satte Blau des Wassers vom grauweißen Hintergrund des Himmels abhob. Nun wanderte sein Blick direkt an der Seitenwand des Schiffes herab und mit einem kleinen Moment des Erschreckens stellte Fischer fest, dass das Schiff schnell war. Die weißen Kanten des Rumpfes durchschnitten das Wasser, sodass die weiße Gischt wie Blutspritzer in die Höhe schoss, um wieder ins große Nass zu fallen. Fischers Hände verkrampften, sodass sie sich dem Weiß des Geländers anglichen. Nicht nur war das Schiff schnell, sondern er stand auch in einiger Höhe vor dem Abgrund, der sich direkt vor ihm auftat. Obwohl Fischer sich also festhielt, hatte er das Gefühl, langsam, aber doch mit ziemlicher Gewissheit nach vorne über zu fallen. Und so verstärkte sich nicht nur sein Griff, sondern gleichzeitig gaben seine Knie noch nach, was den Vorteil hatte, dass sein Gesicht langsam hinter die Sicherheit vermittelnde Reling herabsank. Er blickte sich nach links und rechts um, um sicherzustellen, dass niemand seinen erbärmlich wirkenden Schwächeanfall wahrnahm, und ließ sich, als er lediglich ein Pärchen erblickte, das in einiger Entfernung stand und ebenfalls auf die Weite des Meeres schaute (allerdings ohne dabei in eine unsinnige Höhenangst zu verfallen), auf die Knie fallen. Darauf drehte er seinen massigen Oberkörper zum Schiff hin, saß auf seinem Allerwertesten und betrachtete die Reling. Ich hätte zu Hause bleiben sollen, schoss es ihm durch den Kopf. Im selben Moment öffnete sich dieselbe Tür, durch die er nach außen getreten war, und erst jetzt, als er sie sich vom gleichfarbigen weißen Hintergrund abheben sah, wurde ihm klar, was das Besondere an diesen Schiffstüren und damit vielleicht sogar verantwortlich für seine verschwommene und verschobene Wahrnehmung der Dinge war: Die Kanten der Tür waren rund – so wie hier an Bord alles rund war, dachte er. Kein Wunder, dass man keine Orientierung mehr hatte. Runde Bullaugen, runde Türen, runde Schornsteine. Und gerade als er diesen Gedanken zu Ende gebracht hatte, passierten zwei seltsame Dinge auf einmal. Der schlanke Körper Abbads kam aus der Tür heraus und Fischer sah den Mann zum ersten Mal in sich hinein lächeln, was aber nur für den Bruchteil einer Sekunde wahrnehmbar war, denn dann blickte der Steward auf den sitzenden Vizepräsidenten und im gleichen Moment fiel ihm ein harter Lederball auf das schwarze Haar, prallte von dort ab, setzte noch einmal auf den Holzdielen des Decks auf und sprang dann, als ob er dem Ruf des Meeres folgen wolle, fröhlich über das Geländer. Abbads anfängliches Lächeln hatte sich, wiederum nur für einen ganz kurzen, fast unbemerkten Moment, in eine schmerzverzerrte Fratze verwandelt und er blickte erst dem Spielgerät hinterher und dann abrupt nach oben. Hinter und über ihm standen, an ein weiteres Geländer gelehnt, drei junge Männer in Unterhemden und blickten nach unten. Fischer erkannte unter ihnen Alfred Eisenbeisser und so beeilte er sich, aufzustehen und seinen Hut zum Gruß zu lupfen. Eisenbeisser winkte und rief: „Hallo. Entschuldigung, haben Sie unseren Ball gesehen?“ Sowohl der Vizepräsident als auch der Steward deuteten mit ihren Fingern auf das weite Meer. Die drei Männer, die oben gestanden hatten, drehten sich, offensichtlich enttäuscht, ab. Nun lächelte Abbad sein Gegenüber an. „Herr Fischer, wollen Sie frühstücken?“

2.

Es war die veränderte Tonart, die Fischer aufhorchen ließ. Das sonore Brummen des Schiffes hatte sich scheinbar eine Quart nach unten bewegt und das leichte Vibrieren war in ein schüttelndes Knattern übergegangen. Fischer schaute fasziniert auf die sich immer wieder neu bildenden Wellenkreise in seiner Teetasse. Er trank seinen Tee, seitdem er in Sussex für British Railways gearbeitet und das trübe Wetter dort kennengelernt hatte, mit Milch. Die Schlieren verwoben sich in immer neue Wolkengebilde, während die Oberfläche der Flüssigkeit eine Miniaturabbildung des Mittelmeers abgab. Jetzt knirschte und knarrte etwas. Fischer wischte sich die letzten Spuren von Eigelb aus seinem Schnurrbart, stand auf und blickte durch den ansonsten leeren Speisesaal aus dem Fenster. Zu seiner Rechten konnte er Land sehen – das Schiff legte in Villefranche-Sur-Mer an. Fischer ging ans Oberdeck, um sich die Stadt und den Hafen ansehen zu können. Als er am Bug des Schiffes ankam und zusammen mit vielen anderen Passagieren – die Damen hielten sich ihre Hüte mit breiten Krempen auf dem Kopf fest – in Richtung Land schaute, stellte er fest, dass das Schiff vorher nur eine Landzunge vor sich gehabt und diese nun umkurvt hatte und in die fast zu klein wirkende Bucht hineinfuhr. So wirkte die Stadt wie ein schlafender Hund, der seine Zunge herausstreckte. Langsam, fast unmerklich, bewegte sich der monströse Schiffskörper in Richtung Landesteg, der von oben einem Ameisenhaufen glich. Kleine, sich hektisch bewegende Wesen wuselten herum und wie von hier oben und weiter unten auf jedem Außendeck des Schiffes winkten die Menschen sich mit Händen und Hüten zu. Ohne es sich bewusst gemacht zu haben, bemerkte Fischer, dass auch er die rechte Hand erhoben und sich von der allgemein aufgeregt guten Laune hatte anstecken lassen. Eifrige Matrosen warfen Taue an die Reede, wo Hafenarbeiter diese aufnahmen und um riesige Poller banden, der massige Körper des Schiffes schmiegte sich an den Stein und die Brücken wurden herabgelassen. Fischer schaute auf die andere Seite, wo die Häuser der Stadt sich an die dahinterliegenden Hügel lehnten. Als junger Mann hatte er oft von einem Leben als Bohemian an einer Mittelmeerküste geträumt. Ein einsames rotes Auto fuhr eine kurvige Straße hinauf. Dann schoss es ihm in den Kopf: Rimet! Er musste den Präsidenten empfangen.

Während Fischer noch die Treppe nach unten lief, um sich wenigstens eine Fliege (von nun an immer mit der Erinnerung an wilde Liebe verbunden) unter den Hemdkragen zu binden, begegneten ihm nacheinander ein ziemlich abgehetzter Offizier Cavesi, der gerade dabei war, auf das Außendeck zu gehen, um ein junges Pärchen zurück nach unten in die Emigrantenkabinen zu schimpfen, eine frisch gepuderte und knallig rot geschminkte Smeralda, die er noch im Vorbeieilen peinlich berührt begrüßte, und die halbe rumänische Fußballmannschaft in Turnhosen, die sich weiter unten eine bessere Sicht auf die Hafenanlagen erhoffte. Das Schiff war auf einmal aus einem stillen Schlummer erwacht, gähnte und streckte sich und die kleinen Blutkörperchen strömten durch seinen massigen Körper. Fischer indes bewegte sich durch diesen Strom in einer willenlosen Traumhaftigkeit, die ihn auf die verschiedensten Decks spülte, an den Unterkünften von Kesselhilfsarbeitern vorbei (vielleicht kommt Rimet ja über die unteren Stockwerke hinauf), an Zweitklasseunterkünften entlang (viele verzweigte Flure), bis er bemerkte, dass er sich komplett verlaufen hatte. Fischer stand, die Hand an eine kalte Metallwand gelehnt, in einem dunklen Gang, gleichermaßen orientierungs- und ahnungslos, wie es weitergehen könnte. Der letzte Raum, in dem er jemandem begegnet war, war ein Gepäckraum gewesen, aus dem ihm ein schelmisch grinsender, großer Mann im modernen Tweedanzug entgegenkam. Dieser war aber sofort, nachdem er höflich seinen Hut gelupft hatte, hinter einer Ecke verschwunden, woraufhin Fischer komplett alleine und orientierungslos gewesen war und sich, zugegebenermaßen leicht trotzig, für die andere Richtung als der Mann entschieden hatte.

Er stellte fest, dass nicht nur alles um ihn herum schwarz, sondern auch still war – was ihn zutiefst beunruhigte. Er hatte das Gefühl, sich im Inneren einer stählernen Pyramide zu befinden, dem Wohl und Wehe eines kalten Maschinenbaals ausgeliefert. Als wolle er das Gefühl von Verlorenheit unbewusst noch verstärken, stieß er einen schüchternen Ruf aus: „Hallo?“, welcher von der Gier des Metalldämons sofort verschluckt wurde und nur noch wie eine Erinnerung an eine einsame Kindheit nachhallte.

Ein sonores Brummen stampfte im Hintergrund und als er sich ein paar Schritte nach vorne wagte, bemerkte er, dass er nicht mehr auf Holz- oder Stahlboden lief, sondern auf Gittern, die seine Schritte mit einem ständigen Scheppern untermalten.

Dann hörte er einen Schrei.

Es war kein durchdringender, hochtöniger Schrei, sondern eher ein jammeriger, quälend langer Seufzer. Aber es war eben auch deutlich ein Schrei. Fischer stolperte nach vorne, dem Schrei entgegen, und er kam an eine Treppe, die nach unten führte. Er wollte nicht nach unten, musste in seine Kabine, um sich schick zu machen, aber die Neugier sowie die unheimliche Anziehungskraft, die die Ahnung des Bösen erzeugt, waren stärker als seine Pflichtgefühle. Seine Absätze klapperten auf dem Gitter der Stufen. Er tastete sich am Geländer entlang, hinab in die Tiefe, bis er irgendwo, noch weiter unten, ein schwaches Licht erblickte.

Nun lief er fast, da er einen Anflug von Orientierung hatte, und weil dieser Schrei, den er wahrgenommen hatte, entweder nicht aufgehört oder sein klagendes Werk wieder aufgenommen hatte. Fischer erkannte eine männliche Stimme, die jaulte und jammerte, fast wie ein Hund, der den Mond anheulte. Endlich kam er auf eine Ebene, auf der ein schmaler Gang sich in zwei Richtungen teilte. Fischer eilte der Stimme nach, fand zu seiner rechten nach unbestimmter Zeit eine offene Metalltür, schritt in einen heller erleuchteten Raum, von dem mehrere Türen zu weiteren Räumen abgingen, folgte der Stimme weiter und kam zum Herzen des Monsters: dem Maschinenraum. Hinter einem vergitterten Geländer, in ungefähr drei Metern Tiefe drehte sich ein überdimensionierter Stahlbolzen. Ein Mann stand am seitlichen Geländer, die Hände auf seinem Kopf, so als wolle er sich vom herabstürzenden Himmel schützen und stieß einen kehligen Schrei aus – immer noch denselben, der es geschafft hatte, Fischer mit sirenenhafter Sicherheit hierher zu locken. Der Mann war riesig, trug ein verschmutztes, vormals wohl weißes Unterhemd und blaue Arbeiterhosen und stierte unentwegt auf den Bolzen hinab, der sich stoisch langsam, aber beständig weiterdrehte. Er schien Fischer kaum zu bemerken. Hinter ihm leuchteten verschiedenste bunte Lichter auf einer Relaisscheibe. Nadeln schienen der Unruhe des Mannes widersprechen zu wollen, da sie sich weigerten, wild auszuschlagen. Was aber sah der Mann? Fischer schaute noch einmal genauer auf den sich drehenden Kolben, der in der Mitte von zwei schräg herabfallenden Metallwänden eingerahmt wurde. Und dann sah er es. Eine blasse, einsame Hand schlug unentwegt auf die Wand. Mit jeder Drehung klatschte sie erneut gegen das Metall. Eine kleine, aber doch zweifelsfrei menschliche Hand. Und als Fischer genauer hinsah, bemerkte er einen roten Stofffetzen, der ebenfalls in einem unendlichen Spiel zwischen Wand und Bolzen gefangen war und in unruhigem Flattern einen traurigen Abschied zu feiern schien. Fischer wusste nicht, was passiert war, aber so viel war klar: Jemand musste über das Geländer in den Schlund, der zum Propeller hinabführte, gefallen sein und war vom Bolzen zerquetscht worden. Da der Raum zischen Kolben und Wand extrem klein war, musste der ehemalige Besitzer dieser Hand auf grauenhafte Weise umgekommen sein.

 

Endlich hob der riesige Mann am Geländer seine Arme in die Luft und gab seinem Getöne Worte: „Trampolini. Assassinato“, jammerte er. Fischer wusste nicht, wie er reagieren sollte. Es schien ihm unangebracht, dem großen Bären Trost zu spenden. Auf der anderen Seite wollte er aber auch nicht gefühllos wirken und so ging er auf den Mann zu und legte ihm vorsichtig die Hand auf den Arm. „Es ist gut“, sagte er, und gleich nochmal, wohl wissend, dass so eine dreiste Lüge nicht mit einem Male Eingang in die Welt des Trauernden finden würde. Und der große Mann musste diese arme Gestalt gekannt haben. Nun schaute Fischer dem großen Mann in die Augen. Kein Weiß war in den Augäpfeln übrig, so sehr waren sie von kleineren Äderchen durchsetzt, die sich in unendlichen Verzweigungen durch das Auge pflügten. Gleichzeitig schien es, als würde der große Mann durch ihn hindurchsehen. „Assassinato“, wiederholte er eindringlich. Für einen langen Moment starrten die beiden sich an. Fischer wusste nicht, wie er reagieren sollte, also hob er beschwichtigend die Hände und ging langsam rückwärts. „Ich werde nun Hilfe holen“, versicherte er seinem Gegenüber. Seine Schritte auf dem Gitterboden hallten durch den Maschinenraum. Dann drehte er sich um und ging zurück auf den spärlich beleuchteten Gang. Sofort war er wieder orientierungslos. Die eindringlichen Worte des Maschinisten klangen noch in seinem Kopf nach. Er war von links gekommen. Aber dort war auch absolute Dunkelheit. Rechts dagegen kam vom Ende des Ganges ein Leuchten. Fischer beschloss, diesen Weg zu wählen. Vielleicht würde er schneller an die Oberfläche führen. Diese kam ihm im Moment extrem erstrebenswert vor.