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TEIL ZWEI

ALBERNE STRAPAZEN

Mich weckte eine zuschlagende Tür. Das war, wenn man alleine wohnt, zumindest seltsam. Was noch viel merkwürdiger war: Ich konnte nichts sehen. Dies war nicht die urbane Halbdunkelheit vor meinem Fenster, voll vom Licht der Straßenlaternen. Ich hielt mir die Hand vor die geöffneten Augen, es wurde weder dunkler noch heller. Dies war vollkommene Dunkelheit, ein Nichts, allerdings ein ganz anderes Nichts als das verschwommene, aber immerhin erleuchtete Nichts, in dem der gestrige Abend geendet hatte. Für mich geendet hatte. Obwohl ich mich nicht erinnerte, was nach der Kühlschrank-Episode noch passiert war, glaubte ich nicht, über Nacht erblindet zu sein. Wenn ich hätte erblinden sollen, dann vorgestern von dem Selbstgebrannten aus der Garage von Dagurs Cousin, nicht gestern von dem Cognac des faltigen Hjálmar. Hilmar? Außerdem lag man als gerade Erblindeter nicht auf einer nach Keller riechenden Matratze auf dem Fußboden. Seit die Tür zugeschlagen war, war es still.

Ich machte mich auf die Suche nach einer Wand, wobei ich vor jedem Schritt den Boden mit dem Fuß vor mir abtastete. Wo waren überhaupt meine Socken? Leere Getränkedosen kamen ins Rollen. Nachdem ich mich einige Schritte vorangetastet hatte, hörte ich, wie eine der Dosen, der ich einen kräftigeren Schubs gegeben hatte, gegen irgendetwas prallte. Ich drehte mich in die Richtung, aus der das Geräusch kam, tastete und zuckte abrupt zurück. Ich war in etwas Weiches getreten. Eine kalte Masse klebte an meinem Fuß und quoll mit niveahafter Geschmeidigkeit zwischen meinen Zehen hervor. Durch das Zurückzucken verlor ich das Gleichgewicht, schwankte und musste einen Ausfallschritt in unbekanntes schwarzes Gebiet tun, trat auf festen Grund, schwankte aber ein zweites Mal, diesmal so sehr, dass ich fiel, meine Hände schicksalsergeben nach vorn streckte und eine Wand zu fassen bekam. Als müsste ich nach dem gestrigen Abend wieder laufen lernen, schlich ich an der Wand entlang. Möbel schien es in diesem Zimmer nicht zu geben, zumindest nicht an den Wänden. Ich hatte das Gefühl, schon einmal im Kreis herum gelaufen zu sein, als ich plötzlich auf der rauen, unverputzten Oberfläche der Wand etwas Glattes, ein wenig Kälteres spürte. Dann war überall Licht.

Langsam wieder sehen lernen. Ich befand mich in einem fensterlosen Raum. Die Matratze, auf der ich in einem pinkfarbenen Schlafsack geschlafen hatte, lag in der Mitte des Raumes; links von ihr stand eine alte Überseekiste ohne Deckel, voll mit zerbeulten Heineken- und Becksdosen und Kartons eines Pizzabringdienstes, der sich noch nicht einmal in der Nähe meiner Wohnung befand. An der gegenüber liegenden Wand des Zimmers entdeckte ich die Umrisse eines zugemauerten Fensters und unweit davon eine Tür. Die weiche Masse, in die ich getreten war, erwies sich als Rest einer Lasagne. Wo auch immer ich sein mochte, es konnte nicht schlecht sein, zumindest zu versuchen, sich daran zu erinnern, wie der gestrige Abend geendet hatte: Der faltige Hjálmar mit der Cognacflasche, Matilda auf dem weißen Sofa, der Tanz mit der Vase, die kalte Aluminiumwelt … Hjálmar Cognacflasche, Matilda Sofa, Tanz Vase, Aluminiumwelt … Immer schneller reihte ich diese Erinnerungsreste aneinander und hoffte, mein Gedächtnis bekäme dadurch genug Schwung, um die Mauer zu überspringen, hinter der die anschließenden Vorkommnisse lagen. Vereinzelt kam etwas: Ich biss in ein hart gekochtes Ei; eine Frau sagte »Stell das bitte wieder hin«; Milans Gesicht. Ich beschloss, das Zimmer zu verlassen.

Ich trat auf einen Flur hinaus und spürte nackte Holzdielen unter meinen Füßen, die knarrten. Nach einigen Schritten ging ich nach links durch eine offen stehende Tür in ein Zimmer, in dem ein grünes, ein rotes und ein braunes Sofa standen. Am anderen Ende des Zimmers war ein großes Fenster. Dahinter war nichts als das fischgraue Meer, die wolkengrauen Wolken und die Gullfoss, der Stolz der Reederei Eimskip, auf dem Weg in den Hafen. Kein Haus, kein Stück Land war durch das Fenster zu sehen, so dass ich mich instinktiv festhielt und mir ein bisschen übel wurde. Da brach in meinem Rücken ein Klingeln los, so infernalisch wie die schlimmsten Passagen in der Musik von dj différance. Ich riss die Schultern bis fast zu den Ohren hoch und fuhr herum. Direkt gegenüber, auf der anderen Seite des Flurs, lag hinter einer halb geöffneten Tür eine Küche. Das Schrillen kam von einer Eieruhr. Ich ließ die Schultern sinken. Dann huschte eine dünne Gestalt über den Flur, auf meiner noch trägen Netzhaut kaum mehr als ein Blitz, ein rosa Blitz. Ich bemühte mich, nicht erneut in die Lasagnespur zu treten, die ich aus dem Zimmer hierher gelegt hatte, und ging in die Küche.

»Aha«, sagte Dagur, während er sein Ei aus dem Topf nahm. Er trug eine hellblaue Hose und ein rosafarbenes T-Shirt. Er stand auf, füllte eine Eiswürfelform mit Wasser und stellte sie ins Gefrierfach.

»Morgen demonstrieren wir vor dem Parlament«, sagte er dann.

»Wofür?«, sagte ich.

»Gegen China«, sagte er. »Daher die Eiswürfel. Schmelzen einfach weg. Keine Fingerabdrücke, keine Ballistik. Im Sommer habe ich damit einem Polizisten ein Loch in den Kopf geschossen, und sie können mir bis heute nichts nachweisen.«

»Du schießt wegen China einem isländischen Polizisten ein Loch in den Kopf?«

»Nur ein kleines.«

Ich pulte an einem Wachsfleck auf der Tischplatte herum und wartete darauf, dass Dagur etwas tat, was mir Aufschluss über die letzte Nacht geben konnte. Er jedoch kochte eine Kanne Kaffee, schenkte sich ein und stellte die Kanne dann für mich unerreichbar links von sich auf den Tisch. Dagur schien nicht nur ein schüchterner Mensch, sondern auch ein unhöflicher Mensch zu sein. Ich hatte nicht nur ein Problem mit schüchternen, sondern auch mit unhöflichen Menschen. Ich überlegte, ob ich ihn trotzdem fragen sollte, wie ich hierher gekommen war, da fragte er mich:

»Wie bist du eigentlich hierher gekommen?«, und schlug sein Ei auf. Ich beantwortete seine Frage mit einem Achselzucken, starrte fordernd auf die Kaffeekanne und zündete mir aus Trotz noch nicht einmal eine Zigarette an.

»Hallo. Wach?« Es war Matilda. Sie setzte sich an den Küchentisch, der aus unbehandeltem Holz und voller Flecke war. Ebenso wie das Wohnzimmerfenster war der Tisch riesig. Niemand, der alleine wohnte, würde sich so einen Tisch in die Küche stellen, geschweige denn zwei Packungen Krabbenschmelzkäse darauf, eine Zweiliter-Kaffeekanne und eine Kerze in einer alten, wachsüberlaufenen Weinflasche.

»Wo sind wir hier?«

»Ich konnte dich doch schlecht bei Maggi in der Küche liegen lassen«, sagte Matilda.

»Warum sind wir nicht zu dir gegangen wie sonst immer?«

Matilda machte eine Bewegung, als wollte sie sich in ihrer Daunenjacke verkriechen, obwohl sie nur ein T-Shirt anhatte. Ich hatte sie noch nie in einem so bunten T-Shirt gesehen. Erst schien sie sich die Antwort besonders gut überlegen zu wollen, entschied dann jedoch, dass es ohnehin keinen Zweck hatte, und sagte:

»Wir sind hier bei mir.«

Ich sah mich um.

Die Küche war in einem Siebzigerjahre-Rotbraun gehalten, das durch die Neonbeleuchtung etwas Steriles und gleichzeitig Schmutziges bekam. Der Tisch ließ mich an Sonntage denken, an denen ich mit Milan bei seinen Kommilitonen zum Frühstück war. Matilda konnte unmöglich mit so einem Tisch zusammen wohnen. An solchen Tischen saßen Psychologie- und Kunststudenten, die sich noch bei WG-Frühstücken ihr Selbstbewusstsein errauchen mussten. Matilda hatte sich eine Zigarette angesteckt.

»Ich wohne jetzt hier.«

»Du wohnst in einem Hochhaus«, sagte ich.

»Nicht mehr«, sagte sie.

»Du hasst Altbau. Und Möbel hasst du auch.«

»Lárus. Ich wohne jetzt hier.«

Ich verstand es nicht. Verstand nicht, dass wir es achtzehn Jahre geschafft hatten, über eine Entfernung von dreitausend Kilometern Freunde zu bleiben, und uns jetzt, wo Telefon und Flüge billig waren und jeder zweimal täglich nach seinen E-Mails guckte, zum ersten Mal fremd waren.

»Es ist schön hier. Du wirst schon sehen, wenn du die anderen kennen lernst.«

»Die anderen?«

»Ich bin in eine Wohngemeinschaft gezogen.«

Matilda war in einen Altbau gezogen, der nicht nur mit Möbeln voll stand, sondern auch mit anderen Menschen.

»Heißt das, dass der jetzt auch hier wohnt?«

Dagur sah nicht von seinem Ei auf und sagte: »Ja.«

»Dagur und die anderen eben.«

Auch Matilda kam nicht darauf, mir Kaffee anzubieten. Wären wir bei ihr zu Hause gewesen, hätte ich mir einfach eine Tasse genommen. Hier kam das nicht in Frage. Hier wohnten irgendwelche Leute, deren Kaffee mir gestohlen bleiben konnte. Noch jemand erschien in der Tür und murmelte so etwas wie guten Morgen. Er setzte sich und legte eine aufwendig verzierte gebundene Ausgabe mit sämtlichen Schachpartien Bobby Fischers vor sich auf den Tisch. Das Schachbuch war dicker als sein Oberarm. Er sah erst mich an, dann Matilda, dann Dagur und fragte:

»Wer von den beiden hat dich mitgebracht?«

»Keiner«, sagte ich.

»Ich«, sagte Matilda. »Lárus, das ist Smári. Smári, Lárus.«

»Der Tierfilmer«, sagte er.

»Ja«, sagte Matilda.

»Nein!«, sagte ich.

Smári gab mir die Hand. Ohne es gewollt zu haben, erhob ich mich in einer angedeuteten Höflichkeitsgeste von meinem Stuhl. Smári schien noch leicht betrunken zu sein, sah mich an und gleichzeitig an mir vorbei, als sähe er mich einmal dort, wo ich war, und dann noch mal ein paar Zentimeter links neben mir. Er fuhr sich durch die Haare, die genau dort blieben, wo er die Finger rausnahm, ging zum Kühlschrank und holte eine Flasche Malzbier heraus. Auf seinem T-Shirt waren gelb-rote Flecken.

 

»Hotdog?«, fragte ich.

»Ja. Hm«, sagte er. »Kaffee?«

Ich musste mich sehr bemühen, meine Freude zu verhehlen. Ich beschloss, dass Smári zwar aussah wie jemand, der im Moment fürchterlich aussah, aber eigentlich ganz gut. Er setzte sich neben Dagur und fing an, in seiner Bobby-Fischer-Schmuckausgabe zu lesen. Matilda zündete die Kerze an, die in der Weinflasche steckte, was in dem Neonlicht denselben Effekt hatte, als hätte man in einer Zahnarztpraxis eine Kerze angezündet. Dagur rauchte. Smári strich mit den Fingerkuppen auf einem Diagramm in seinem Schachbuch herum und schüttete sich erst Cornflakes, dann Blaubeer-Súrmjólk in eine Schüssel, ohne hinzusehen. Ein Poltern auf der Treppe kündigte die Ankunft eines weiteren Mitbewohners an: eine zierliche Frau mit kurzen Haaren, die mit einem Nachthemd und Bergstiefeln bekleidet war. Sie zog die Nase hoch und griff nach der Kaffeekanne.

»Ja, also, das ist Lárus. Jaroslawa. Und Dagur. Jaroslawa«, sagte Matilda, und ich merkte ihrer Stimme an, dass sie sich vor meiner Reaktion fürchtete. »Dagur ist gestern hier eingezogen, und Lárus ist …«

»Ich habe eine Nacht hier geschlafen, und das noch nicht mal freiwillig«, sagte ich. Jaroslawa gab mir unbeeindruckt die Hand. Sie roch nach der Seife, die es umsonst in den Schwimmbädern gab. Dann setzte sie sich, zog erneut die Nase hoch, legte ein knappes Dutzend Roggenbrotschnitten wie Spielkarten vor sich aus und beschmierte sie mit Krabbenschmelzkäse.

»Jaroslawa ist Geologin.«

»Vulkanologin«, sagte sie.

»Aus der Slowakei.«

»Gibt es in der Slowakei Vulkane?«, fragte ich.

»Nein.«

»Deswegen ist sie hier«, sagte Smári, ohne aufzusehen, während Jaroslawa Salatblätter und Gurkenscheiben auf den Krabbenschmelzkäse patschte, als wolle sie das frische Gemüse für etwas bestrafen.

»Bin spät, wir gehen auf eine Exkursion.«

»Oh, spannend, wohin?« Ich konnte nicht glauben, dass Matilda ›spannend‹ gesagt hatte.

»In die tiefste Depression Islands«, sagte sie ohne die Spur eines Lächelns auf den Lippen. Dann stopfte sie die Brote in eine löchrige Supermarkttüte und verschwand.

»Smári hat zwei Kinder, die am Wochenende zu Besuch kommen«, sagte Matilda.

»Manchmal bleiben sie auch die Woche über hier, wenn ihre Mutter vergisst, sie abzuholen«, sagte Smári.

Inzwischen hatte Dagur begonnen, an der Kerze herumzufummeln. Mir fiel die Theorie ein, dass alle, die an Kerzen fummelten, ein gestörtes Sexualleben hatten. Aber erstens, wer hatte das nicht, und zweitens war das ein blödes Totschlagargument, das niemand widerlegen konnte. Genau wie »Ich habe dich nie geliebt«. Milan. Irgendwo in meinem Magen tat etwas weh.

Die Sturmböen, die den Dachstuhl knacken ließen, wurden häufiger. Matilda sah erst mich an und dann in die Runde, stolz wie eine Mutter. Sie genoss die Gesellschaft dieser beiden Männer, von denen der eine gerade von der Kerze abließ, um einen Schluck Kaffee zu trinken, der andere sich zu seinem Malzbier durch die erste Zigarette des Tages hustete und Schachpartien las, während die dritte Mitbewohnerin sich darauf vorbereitete, missvergnügt durch Schnee und Eisregen zu laufen.

»Ich mache erst mal Frühstück«, sagte Matilda. Ich zuckte zusammen. Frühstück. Dieser Ton. Frühstück. Genauso gut hätte sie sagen können: »Und wenn ich jetzt noch die Räucherstäbchen anzünde, wird’s so richtig gemütlich.« Schon halb auf dem Weg zum Kühlschrank, blieb Matilda plötzlich stehen und sagte sehr laut zu mir:

»Was? Was! Was guckst du so? Menschen sind gesellige Wesen, Lárus. Wie Wale. Wie Gänse! In Europa piepen sogar die Geldautomaten. Weil da immer mehrere zusammen stehen. Die piepen einfach so, aus Kontaktbedürfnis. Hier, wo die Geldautomaten einsam in Supermärkten oder auf der Straße stehen, piepen sie nicht. Ich will Menschen um mich herum, auch wenn sie die Küche dreckig machen, das Bad blockieren oder rätselhafte One-Night-Stands mitbringen. Der Mensch ist gesellig. Von Natur aus.«

»Du hast dich nie für Natur interessiert.«

»Dies ist ein restaurierter Bauernhof«, fuhr Matilda fort. »Ich wollte immer in einem restaurierten Bauernhof wohnen. Schon als Kind, doch in der Familie hat mir das nie jemand geglaubt.«

»Ich habe das auch nicht geglaubt.«

»Weil du auch nicht sehen willst, wie ich wirklich bin. Weil du nur eine Seite von mir kennst. Und magst. Die, die zu dir passt. Der Rest meiner Persönlichkeit findet für dich gar nicht statt. Der Teil, der die Natur mag. Den Bauernhof. Die Gemeinschaft.«

»Jeder muss lernen, allein sein zu können, je eher desto besser. Da muss ich nicht mit einer Vulkanologin zusammen wohnen und zwei Typen, von denen der eine Schachbücher liest und nicht redet, und der andere einfach so nicht redet.«

»Das sind nette Leute.«

»Nett ist die kleine Schwester von Scheiße.« Ich bereute, diesen Satz gesagt zu haben, denn er ließ mich sofort an Milan denken. Es war sein Satz. Dagur und Smári saßen da wie zuvor.

»Halt doch den Mund, du Single!«

»Was hast du gesagt?«

»Hast du genau gehört.«

»Wenn hier einer ein Single ist, dann du.«

»Aber aus freien Stücken. Weil ich Entscheidungen treffe, während du von ihnen überrumpelt wirst, du Opfer!«

»Was denn nun, Single oder Opfer?«

»Single-Opfer!«

»Schlussmacherin!«, rief ich Matilda noch zu, als ich schon aufgestanden war und die Küche verließ, bevor sie Gelegenheit hatte, etwas zu erwidern. Ich ging die Treppe hinunter, suchte meine Schuhe und wollte gerade die Haustür öffnen, da hielt Matilda mich am Arm fest.

»Komm, ich zeig dir mein Zimmer.«

Matilda bot mir einen Platz auf ihrem Bett an.

»Das war also Maggis Aluminiumküche«, sagte ich.

»Du hast getanzt. Mit einem Typen, der war bestimmt fünfzig und hatte eine Cognacflasche.«

»Wer war das?«

»Keine Ahnung. Hätte auch eine dünne Frau sein können.« Ich erinnerte mich weiterhin nur an eine Vase, eine kalte, schlanke, androgyne Vase.

»Und dann?«

»Dann bist du eingeschlafen. Du sahst schön aus. Friedlich.«

Heute war der erste Advent. Wie gerne hätte ich diesen Tag auf der Fensterbank in Matildas Wohnung am Laugar-Tal verbracht. Um mich herum standen ihr Schreibtisch, ihr Bett, ihre Stereoanlage, die Bücher und CDs aus der Dreizimmerwohnung. Mir war, als könnte ich alle ihre Möbelstücke vom Bett aus berühren. Ich fand es grausam von ihr, die Sachen so zusammenzupferchen; es machte mich traurig wie Massentierhaltung oder Aquarien.

»Jetzt bist du wieder dran mit dem schlechten Gewissen«, sagte ich.

»Was?«

»Am Flughafen hast du mir ein schlechtes Gewissen gemacht, weil ich dir wegen Svend ein schlechtes Gewissen gemacht und dir nichts von Milan erzählt habe. Dabei müsstest du das schlechte Gewissen haben. Du hast mir nichts von deinem Umzug erzählt und mir trotzdem ein schlechtes Gewissen gemacht, weil ich dir trotz Milan ein schlechtes Gewissen gemacht habe, wegen der Sache mit Svend.«

»Ich muss dich nicht um Erlaubnis fragen, wenn ich umziehe. Ist doch normal.«

»Eben deswegen gibt es keinen Grund, es seinen Freunden zu verschweigen. Außer… wenn es eben nicht in Ordnung ist.«

»Wie meinst du das?«

»Wir haben uns versprochen, dass wir entweder alleine wohnen bleiben oder zusammenziehen.«

»Nein. Wir haben uns versprochen, dass wir zusammenziehen, sobald einer von uns es will. Das verbietet mir nicht, vorher in eine Wohngemeinschaft zu ziehen. Wenn du mit mir zusammenziehen willst, ziehe ich eben wieder aus.«

Mir fiel unser Gespräch ein, am Abend meiner Ankunft.

»Da. Schon wieder der gleiche entsetzte Gesichtsausdruck wie vor zwei Tagen, als ich bei dir überlegt habe, ob Alleinewohnen vielleicht doch nicht so gut ist«, sagte Matilda.

»Wenn du willst, ziehen wir eben zusammen. Versprochen ist versprochen.«

»Ich will es aber nicht, weil es versprochen ist, sondern nur, wenn du es auch willst.«

Ich vermisste meine Halstabletten.

»Ich finde nicht, dass wir das machen sollten. Wir sind erwachsen.«

»Erwachsen. Pff. Wie oft dachte ich schon, ich bin erwachsen, und dann gucke ich später zurück und denke: denkste!«

»Aber im Moment fühlt es sich so an, als seien wir erwachsen«, sagte ich.

»Erwachsen sein heißt, mit anderen zusammen wohnen.«

»Nein. Erwachsen sein, heißt alleine wohnen.«

»Lárus, unsere Freunde kriegen Kinder! Einige schon seit Jahren. Das Zusammenwohnen bewahrt sie davor, vollkommen neurotisch zu werden.«

»Dass wir keine Kinder haben, bewahrt uns davor, unsere Neurosen zu vererben.«

»Und lässt uns zum Dank dafür so merkwürdig werden, dass wir uns irgendwann gar nicht mehr auf andere Leute einlassen können. Ich meine das ernst. So war es bei Svend. Er kam mir immer näher … Er hat mich gefragt, ob ich mit ihm zusammenziehen will, da habe ich Schluss gemacht.«

»Das war der Grund?«

»Ja.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Wir sollten es versuchen«, sagte Matilda.

»Ich wäre dir nur ein Klotz am Bein.«

»Dann sei mir ein Klotz am Bein, Lárus. Zieh doch erst mal hier mit ein.«

»Ich gehe nach Hause.«

»Wo sollen denn solche Leute wie wir lernen, sich auf andere Menschen einzulassen, wenn nicht gemeinsam?«

»Gemeinsam einsam, was?«

»Vergiss es, du Arschloch! Wie du schon dein halbes Leben vergessen hast! Wie du alles verdrängst, was dir nicht in den Kram passt. Verdränge, dass du von Trennung zu Trennung merkwürdiger wirst. Einsamer! Und dass wir Freunde gewesen sind, das verdrängst du am besten gleich auch!«

Ich schlug die Zimmertür hinter mir zu.

Draußen Regen. Meine ganze Lieblingshälfte des Planeten schien in Kälte, Regen und Dunkelheit versunken zu sein. Warum sollte man da nicht alleine wohnen? Wenn man sich einsam fühlte, konnte man immer einen Kaffee trinken gehen. Ich überquerte den Parkplatz, auf dem Matildas Saab stand, ein neuer japanischer Jeep und ein alter Land Rover. Die Straße lag in der östlichen Weststadt. Ich drehte mich nur einmal nach dem Haus um, das mit silbergrauem Wellblech verkleidet war und aussah wie eine in Würfelform gepresste Pfirsichdose mit Spitzdach. Eine Steintreppe führte zur Haustür hinauf, die vor vielen Jahren einmal weiß gestrichen worden war. Auch die grüne Farbe an den Fenstern war fast überall abgeplatzt. Nie wieder würde ich es betreten. Ich ging nach Hause. Über meinen Kopf hinweg donnerte ein Flugzeug. Was wollten nur auf einmal alle mit diesem Verdrängen?

Ich hätte mir gern ein Video ausgeliehen und überlegte, es bei einer anderen Videothek zu versuchen als gestern, beschloss dann aber, keine neue Demütigung zu riskieren. Morgen sollte ich wirklich zum Einwohnermeldeamt gehen und das ganze richtigstellen. Für einen kurzen Moment dachte ich an Dagurs Familie und was ich denen getan haben könnte, dann ärgerte ich mich über mich selbst.

Zwanzig Minuten später stand ich in meinem kühlen, stillen Treppenhaus und sah der Tür zu, wie sie langsam ins Schloss fiel. Ich war zu Hause. Als ich vor meiner Wohnungstür im dritten Stock stand und den Schlüssel rausholen wollte, sagte jemand hinter mir mit französischem Akzent:

»Again.« Es war der französische DJ, auf den ich am Vorabend die Bierflasche geworfen hatte. Er saß auf der Treppe, die zum nächsten Stockwerk hinaufführte. Er erhob sich und kam auf mich zu. Er bewegte sich langsam, mühsam fast, sein Brustkorb hob und senkte sich, als habe er einen Marathon gelaufen.

»What?«, fragte ich. Er kam näher. Er zitterte vor Aufregung oder Kälte, wollte etwas sagen, doch er öffnete nur den Mund und sagte nichts.

»What’s the matter?«, sagte ich. Er kam noch einen Schritt näher. Er war ungefähr so groß wie ich und antwortete:

»What?« Entweder, er sprach kein Englisch, wollte mir nicht sagen, was er wollte, oder er wusste es selber nicht. In allen drei Fällen hatte ich keine Lust, weiter mit ihm hier zu stehen. »What?«, wiederholte er und machte noch einen Schritt auf mich zu: »What? What? Matilda. My musique. And you say: What?«

Ich wäre einfach reingegangen und hätte ihm die Tür vor der Nase zugeknallt. Aber die Vorahnung, die mich auf der Treppe beschlich, als ich erst in meine linke, dann in meine rechte Hosentasche fasste, bestätigte sich, nachdem ich auch meine Jackentaschen erfolglos abgetastet hatte: Der Schlüssel war verschwunden. Ich überlegte noch, wie ich hier wegkommen konnte, ohne dass es nach Flucht aussah, da schlug der französische Discjockey mir aufs Auge. Dazu fiel mir überhaupt nichts ein. Ich sah ihn einfach an. Er stand vor mir. Ich sah ihn so lange an, bis mir auffiel, dass er zusammengewachsene Augenbrauen hatte. Es tat nicht weh. Ich dachte darüber nach, ob es morgen vielleicht sehr, sehr weh tun würde und ich besser gleich zum 10-11-Supermarkt gehen sollte, um Eis zu kaufen. Dann drehte ich mich um und ging schon die Treppe hinunter, als ich es hinter mir krachen hörte. Einmal, noch einmal. Als ich mich umdrehte, warf Raphael sich ein drittes Mal gegen meine Tür, die daraufhin in meine Wohnung fiel. Er ging hinein.

 

Ich lief hinterher, packte ihn und stolperte dabei über meine Wohnungstür. dj différance ging mit mir zu Boden. Ich konnte mich im Fallen so drehen, dass er zuerst fiel und ich auf ihn, wodurch ich schneller wieder auf die Beine kam und in mein Wohnzimmer rannte. Zum Glück ließ ich immer das Licht brennen, sodass ich genau sehen konnte, was er tat. Er kam hinterher. Er hatte ein Messer.

Ich riss meinen Deckenfluter aus der Steckdose, was keine gute Idee war, da es jetzt auch noch dunkel wurde. Der Deckenfluter war schwerer als ich dachte, besonders der Fuß, der den hinteren Teil nach unten wegsacken ließ, wodurch das vordere Ende unkontrolliert wippte. Ich hörte ihn langsam, fast schleppend durch meine Wohnung gehen und hoffte, dass er sich beim Aufbrechen der Tür zumindest das Schlüsselbein gebrochen hatte. Er schien erst ins Schlafzimmer zu gehen, dann kurz in die Küche, als ob er jemanden suchen würde. Ich bewegte mich nicht und wartete. Als er an einem der Fenster im Wohnzimmer vorbeihumpelte und ich seine Umrisse im Licht der Straßenbeleuchtung ausmachen konnte, rammte ich ihm meinen Deckenfluter in den Magen. Ich erwartete, dass er hinfallen oder zumindest stolpern würde, doch er wich nur zurück und stieß mit seinem Messer einige Male ins Leere. Ich griff erneut an, versuchte den Solarplexus zu treffen. Wieder wich er zurück. Ich zog mich in die dunkelste Ecke des Zimmers zurück und setzte zum dritten Stoß an, fest entschlossen, ihn damit zu Fall zu bringen. Diesmal sprang er im letzten Moment zur Seite, sodass ich den Deckenfluter gegen die Wand stieß und mir dessen Ständer in den Magen schlug. Ich sah leuchtende Flecken, bis mich ein plötzliches Brennen an meinem linken Arm zurück ins Jetzt holte. Zurück in die dunkle Ecke. Er kam auf mich zu. Ich hielt den Deckenfluter fest. Die große Schale, in der die Glühbirnen steckten, war abgefallen. Ich stieß erneut zu, mitten in das Weiche zwischen Brustkorb und Becken. Er stöhnte. Noch mal. Dann hörte ich, wie er aus der Wohnung ins dunkle Treppenhaus polterte. Ich schlich zum Eingang meiner Wohnung, als im Treppenhaus das Licht anging. Seine schweißüberströmte Gestalt. Das Messer in einer kraftlos herabhängenden Hand. Mit der anderen Hand hatte er sich durch Zufall am Schalter für die Treppenhausbeleuchtung abgestützt. Ich sah seine grauen Augen, die so unbeteiligt wirkten, als ließe er vor dem Fernseher eine Werbepause über sich ergehen.

Er im hellen Treppenhaus, ich in meiner dunklen Wohnung. Er mit seinem Messer, das ein Springmesser mit einem grünmetallicfarbenen Griff war, ich mit meinem Deckenfluter, dessen Vorderende spitz sein musste, seit die Schale abgebrochen war. Ich sah, wie er in die Dunkelheit starrte und die Lichtreflexe in meinen Pupillen beobachtete, während ich merkte, wie sich sein Atem langsam beruhigte. Das Licht ging aus. Ich stieß instinktiv nach vorn. Nichts passierte. Es blieb still. Sein humpelnder Schritt auf der Treppe, langsam leiser werdend. Dann fiel die Haustür ins Schloss.

Ich musste noch eine lange Zeit dort gestanden haben, mit einer Zigarette im Mund. Als ich sie endlich anzündete, waren meine Lippen bereits so trocken, dass ich mir einen kleinen Hautfetzen abriss, als ich sie nach dem ersten Zug aus dem Mund nahm. Die Verletzung an meinem Arm war nicht besonders tief, kaum mehr als ein Schnitt, ein Stück über dem blauen Fleck, den ich mir beim Auffangen von Dagurs Kiste zugezogen hatte.

Von den Nachbarn hatte sich niemand blicken lassen. Es zog kalt aus dem Treppenhaus. Die Tür war an der oberen Angel herausgebrochen und hatte durch den Sturz das untere Scharnier ausgehebelt. Natürlich gab es Leute, zu denen ich hätte gehen können, aber ich wollte nur hier sein. Ich lehnte die Tür so gut es ging an den Rahmen, lief in der Wohnung herum, versuchte einige wenige Minuten, auf dem Bett einzuschlafen, dann auf dem blauen Sofa, das neben der Heizung stand, als die Tür kippte und in meinen Flur krachte. Ich stand auf und verließ die Wohnung. Erst als ich die Treppe hinunterging, merkte ich, dass meine Knie zitterten.

Die Bushaltestelle auf der schmalen Vesturgata bestand nur aus einem Schild und einem Papierkorb. Ich lehnte mich gegen das Schild, sah auf den Bordstein und hörte auf zu denken.

Der Bus schoss orange in mein Blickfeld, an mir vorbei, legte eine Vollbremsung hin, den Rückwärtsgang ein und kam zur Haltestelle zurück. Dann öffnete sich die Tür:

»Entschuldige«, sagte der Busfahrer, »ich dachte, du bist der Mülleimer.«

Ich schmiss Geld in die kleine Tonne vor ihm und stieg ein. Versuchte ein Lächeln. Außer mir waren zwei Fahrgäste im Bus und der Fahrer, der um die Vierzig sein musste und rote Haare hatte. Marlene Dietrich sang ein ruhiges Lied. Ich war ihm nicht böse, dass er mich für den Mülleimer gehalten hatte. Das konnte vorkommen. In dieser nebligen Dunkelheit sahen die Menschen früher Geister, heute eben Mülleimer.

Wir erreichten den Hafen, den Endpunkt der Buslinie. Der Bus hatte die westliche Weststadt hinter sich gelassen und wartete nun fünf Minuten, um dann über die östliche Weststadt zurück ins Zentrum zu fahren. Ich überlegte, ob der Busfahrer Deutsch verstand oder ob Marlene Dietrich auf ihn so rätselhaft wirkte wie Serge Gainsbourg auf mich. Bei diesem Gedanken verweilte ich, bis der Bus sich wieder in Bewegung setzte.

Ich sah hinaus in die Dunkelheit und dachte darüber nach, wie dieser Tag in der Dunkelheit des Leergutzimmers von Matildas neuem Zuhause begonnen hatte.

Matilda und ich stritten gelegentlich, aber ich konnte mich nicht erinnern, dass wir uns jemals gegenseitig vorwarfen, grundsätzlich falsche Entscheidungen getroffen zu haben. Das gab unserem Streit den Beigeschmack von Lebens- und Persönlichkeitskritik. Persönlichkeitskritik. Dieses Wort kannte ich von Milan. Langsam fing ich an zu zweifeln, ob es mir gelingen würde, all das zu vergessen. Es schien, als müsste ich meine halbe Persönlichkeit vergessen und würde dabei, wenn ich Pech hatte, meine Freundschaft zu Matilda verlieren. Der Bus hielt an meiner Haltestelle, ich ging nach vorne. Der Fahrer öffnete, doch ich blieb auf der Schwelle stehen.

Man hat uns nicht gefragt, als wir noch kein Gesicht, ob wir leben wollten oder lieber nicht. /Jetzt gehe ich allein durch eine große Stadt, und ich weiß nicht, ob sie mich lieb hat. / Ich schaue in die Stuben, durch Tür- und Fensterglas, /und ich warte und ich warte auf etwas …, sang Marlene Dietrich.

»Willst du nicht aussteigen?«, fragte der Busfahrer.

»Sprichst du Deutsch?«, fragte ich.

»Nein. Aber die Musik ist schön.«

»Ich fahre noch eine Runde mit.«

»Klar.«

»Hast du Stift und Papier?«

»Einen Stift habe ich. Aber Papier … höchstens den Busplan. Da ist ja Platz, auf den unbewohnten Flächen und auf dem Meer.«

Er fuhr weiter. Ich setzte mich ganz nach hinten, presste meine Knie auf Höhe der Scania-Einprägung an den Schalensitz vor mir, sodass ich tief in den Sitz hineinsank. In meiner Jacke fand ich einen Stift von einem Heimbeatmungs-Service aus Minden/Westfalen. Dann beschrieb ich das Hellblau der Faxa-Bucht zwischen Reykjavík und Akranes.

An die

Gesellschaft der Liebeskranken

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