Mein Onkel der Leopardenmann

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MALHEUREUSEMENT
EINE BEDAUERLICHE GESCHICHTE

Kisangani, das ehemalige Stanleyville, war einst einer der wichtigsten Handelsplätze und Verkehrsknotenpunkte am Kongo. Von hier aus ist der große Fluss schiffbar. Ältere Menschen erinnern sich noch an die Zeit, als in Kisangani regelmäßig Passagier- und Frachtschiffe an- und ablegten, die Kräne quietschten und Eisenbahnzüge in Richtung Osten rollten. Nach fünfundfünfzig Jahren Unabhängigkeit ist davon nicht viel mehr übrig als eine Handvoll Einbäume. Malheureusement.

„Schlau, wie du hier die Gegenströmung ausnützt“, sage ich zu dem Mann, der im Heck des Einbaums steht und das spitze Ruderblatt durch die braunen Strudel des Kongo zieht. Wir sind unterwegs zum rive gauche, dem pittoresken ehemaligen Villenviertel von Kisangani am linken Ufer des Kongo.

Der schlaue Fährmann nickt zwischen angespannten Nackenmuskeln. „Malheureusement“, setzt er dann an, und ich wünsche mir wieder einmal, ich hätte den Mund gehalten.

„Malheureusement“, „bedauerlicherweise“, ist der rituelle Auftakt jeder neuen Strophe des Großen Kongolesischen Klageliedes. Ich bin inzwischen überzeugt, dass so ziemlich jeder Kongolese spätestens bei der Erstkommunion (oder wahlweise der ersten Anprobe des Penisköchers) einen heiligen Eid ablegen muss, es sofort anzustimmen, sobald ein Mundele die geringsten Anzeichen zeigt, sich für seine Lebensumstände zu interessieren. Ein schlichtes „Guten Tag“ kann schon verhängnisvoll sein. Auf das „Malheureusement“ folgt gewöhnlich eine Schilderung der eigenen trostlosen Lage – die kranke Frau und die drogensüchtigen Kinder etwa – gefolgt von einer Darstellung der unhaltbaren Wirtschaftssituation, der Korruption, des Krieges, kurz: des Leids des Schwarzen Kontinents. Und über all dem schwebt ein großer, stiller Vorwurf. Denn wir wissen doch beide, mein Bruder mit der trügerisch unschuldigen, weißen Haut, wer in Wahrheit schuld ist an der ganzen Misere hier. Und daher hielte ich einen kleinen Wiedergutmachungsbeitrag hier und jetzt in meine aufgehaltene Hand für das Mindeste.


Im EInbaum

Ich schalte meine Hirnschleuse auf Durchzug, während das Lied des Fährmanns dahinströmt wie der große, träge Fluss, den wir queren. „Gibt keine Arbeit und keinen Lohn in diesem Land“, sagt er, während seine sehnigen Arme vor Schweiß glänzen. Wir haben für die Überfahrt den stolzen Weißenpreis von fünfzehn Dollar vereinbart. Fünfzehn Dollar für eine Stunde Arbeit. Ein kongolesischer Admiral verdient hundert Dollar im Monat. Ich wünsche mir, mein Kamerad, der Konteradmiral Jean de Dieu Amisi, wäre mit an Bord. „Maul halten und rudern!“, würde der zu seinem Landsmann sagen. Kongolesen sind im Umgang miteinander von einer erfrischenden Direktheit. Lingala, die Sprache, die an den Ufern des Großen Flusses gesprochen wird, kennt weder ein Wort für „bitte“ noch eines für „danke“. Ja, der Admiral Amisi würde seine Botschaft klar an den Mann bringen. Leider hat er die Überfahrt aufs rive gauche ebenso klar abgelehnt. Nicht im Einbaum, hat er gesagt, nicht bei all den Krokodilen, die sich hier herumtreiben.

Malheureusement sehe ich kein einziges Krokodil, bis sich der Bug unserer Quasselbarke endlich ans linke Ufer schiebt. „Nichts als Arbeitslose!“, keift mir der Fährmann nach. „Rückfahrt in einer Stunde“, rufe ich ihm über die Schulter zu und springe erleichtert an Land.

Viktor, mein Chauffeur, der die ganze Überfahrt lang geschwiegen hat, führt mich die Allee hinauf, an der die alten Villen stehen. Es ist ein bisschen wie in einem tropischen Zentralfriedhof. Die verfallenden Häuser der gefallenen Kolonialherren sind zu Mausoleen ihrer selbst geworden. In allen Stadien der Verwesung schielen sie uns aus leeren Fensterhöhlen nach.


Das Villenmausoleum von Kisangani

„Muss einmal schön gewesen sein hier“, liegt mir auf der Zunge. Ich schlucke es schnell hinunter, um den angenehm schweigsamen Viktor nicht zu einem Malheureusement zu provozieren.

Dabei fällt mir ein kongolesischer General ein, den ich auf den reparaturbedürftigen Zustand der Wasserleitung in seiner Kaserne angesprochen habe. „Haben die Belgier gebaut“, hat er geantwortet, „malheureusement haben sie sie nicht in Stand gehalten.“ Eine Feststellung, in der rechtschaffene Empörung über diese pflichtvergessenen Hallodris mitgeschwungen ist.


Grasende Dampflok

Aus dem brusthohen Gras zu meiner Linken schiebt sich der Schlot einer abenteuerlustigen kleinen Dampflokomotive. Ich reibe mir die Augen.

„Der alte Bahnhof“, erklärt Viktor.

Ich zücke meinen Fotoapparat.

„Oho, so geht das nicht!“, tönt es von links unten. An der Wand eines heruntergekommenen Stationsgebäudes lungern drei Müßiggänger. Oder Eisenbahner, was bösen Zungen zufolge fast dasselbe ist. Im Kongo mehr als anderswo.

Ich stelle mich vor und werde an den Herrn Inspektor verwiesen, der im Erdgeschoss des Gebäudes logiert. „Kein Problem“, sagt der Herr Inspektor auf meine Bitte um einen kleinen Bahnhofsrundgang. Er werde mir sogleich einen Termin beim Herrn Bahnhofsvorstand arrangieren. Ein weiterer Bediensteter wird in den ersten Stock geschickt, um mich anzukündigen. Insgesamt entdecke ich etwa ein Dutzend Männer, die sich in dem Stationsgebäude verstecken. Wenig später werde ich nach oben gebeten. Eine steile, breite Treppe, Teakholz geölt, führt mich in das schönste Büro, das ich im Kongo je gesehen habe: holzgetäfelt bis an die Decke, schwere, messingbeschlagene Möbel aus den Dreißigerjahren. Der Bahnhofsvorstand ist etwas jünger, ein jovialer Herr Mitte sechzig, schätze ich. Ich entschuldige mich dafür, ihm seine kostbare Zeit zu stehlen, und er lächelt müde.

Malheureusement verkehre von diesem Bahnhof nur mehr ein Zug pro Woche. Ich wundere mich, dass überhaupt noch einer fährt, denn die Geleise sind unter dem hohen Gras kaum zu erkennen.

Der Bahnhofsvorstand führt mich auf seinen kleinen Balkon und zeigt mir die Kräne, die unten am Flussufer aufragen. Da hätten früher die Schiffe aus Kinshasa angelegt, sagt er. Ihre Fracht sei direkt auf die Züge verladen und weiter in Richtung Osten transportiert worden.


Im Bahnhofsviertel

Ob die Kräne noch funktionierten.

Aber nein!

Warum sie dann noch herumstünden?

„Malheureusement“, sagt der Bahnhofsvorstand, „fehlen uns die Mittel, um sie abzubauen.“

Ein weiterer Kernsatz in der Mannwerdung des jungen Kongolesen: Wenn dich wer fragt, warum du nicht tust, was getan werden sollte, sag einfach: „Bedauerlicherweise fehlen uns die Mittel.“

Ich erinnere mich an einen Oberst, den ich aufgefordert habe, die Lagekarte an die Wand seines Büros zu hängen, damit alle sie sehen könnten. „Malheureusement fehlen uns dafür die Mittel“, hat er mir gesagt, ohne im Geringsten rot zu werden. Mit dem Schämen haben es manche Kongolesen nicht so.


„Einbaum auf Bahnsteig 1 zum Einsteigen bereit!“

Schließlich wird der Inspektor angewiesen, uns eine kleine Führung über das Bahnhofsgelände zu geben. Er zeigt uns einen Werkzeugschuppen, eine ausgeschlachtete Diesellok, verrostete Waggons im Grünen, einen Einbaum am Trockenen. Was zum Teufel macht der da?

Diebe, erklärt der Inspektor. Sie seien damit über den Fluss gekommen, um Eisenteile zu stehlen. Man habe sie vertrieben und ihr Flaggschiff hierhergeschafft. Gute Idee, finde ich. So hat keiner was davon. Eine klassische Lose-Lose-Situation.

Nach einer knappen Stunde verlassen Viktor und ich den freundlichen Hafenbahnhof und schlendern still zurück durch die Allee der Toten Villen. „Muss wirklich schön gewesen sein hier in der Kolonialzeit“, entschlüpft es mir zu meinem eigenen Schrecken.

Viktor blickt auf. „Malheureusement“, hebt er an, wie das Gesetz des Dschungels es befiehlt. „Malheureusement sind wir keine Kolonie mehr.“

GUESTHOUSE MELISSA
MITTAGSMAHL UND MODESCHAU

Kinshasa ist eine Stadt von ungefähr vierzehn Millionen Einwohnern, genau weiß das niemand. Wer dort fein essen gehen möchte und genügend Geld im Sack hat, kann sich an ausgezeichneter französischer, italienischer oder chinesischer Küche delektieren. Aber dazu muss man nicht über den Äquator fliegen, oder? Also ab in ein richtig kongolesisches Etablissement.


Ruhe vor dem Sturm

Das Guesthouse Melissa ist leer. Mehr als leer. Verlassen. Der ummauerte Innenhof wirkt, als hätte sich seit Jahren keiner mehr hineingetraut. Der Pool in der Mitte erinnert an einen aufgelassenen Fischteich, auf dessen trübem Grund vielleicht noch der eine oder andere bemooste Karpfen schief seine Kreise zieht.

Wir schauen Hendryk an. „Freunde“, hat Hendryk am Vortag gesagt, „morgen machen wir einmal was anderes: Wir feiern mit meinen kongolesischen Bekannten. Mittagessen und Modeschau im Guesthouse Melissa in Limete.“

 

Wir hätten es natürlich besser wissen müssen. Es ist Vorsicht geboten, wenn ein Etablissement sich „Melissa“ nennt. Und ganz besonders, wenn es sich in Limete befindet, der Bronx von Kinshasa. Aber nun sind wir einmal hier, am bröckelnden Ufer des Moderpools, und es ist keiner mehr da. Was wiederum kein Wunder ist, denn das Mittagessen war auf zwölf Uhr dreißig angesetzt. Jetzt ist es vierzehn Uhr dreißig. Schuld ist Arlette.

Arlette ist Hendryks kongolesische Freundin, eine hübsche, rundliche Person, deren erste große Liebe wohl noch in die Zeit des seligen Diktators Mobutu fällt. Hendryk trägt sie auf Händen, ungeachtet ihrer schwerwiegenden Hüften. Im Augenblick aber wirkt Hendryk ein wenig genervt, denn wie gesagt: Arlette ist schuld an unserer Verspätung. Als wir aufbrechen wollten, war sie noch im „Salon“, einer Bretterbude in einer staubigen Straße von Limete, um sich ihr Haarteil anheften zu lassen, einen verwegenen Dutt, der ein wenig an einen Bandkeramikbecher aus schwarzem Plastik erinnert. Dann hat sie drei ihrer Pagnes1 probiert, nur um sich schließlich für einen einzigartig unspektakulären Minihosenrock zu entscheiden, der ihre Hüften zur Geltung bringt. Vorteilhaft? – Fragen Sie nicht. Hendryks vorwurfsvolle Blicke bringen sie nicht im Geringsten in Verlegenheit. Im Gegenteil, Arlette lacht. „Das habt ihr jetzt von eurer Hetzerei. Das ist ein kongolesisches Mittagessen!“

„Das ist gar kein Mittagessen“, maule ich.

Arlette lächelt weiter: „Wir sind die Ersten.“

Balu der Bär ist der Erste von uns, der sich wieder fängt. L’ours Balou ist der Spitzname von Philippe, dem französischen Fallschirmpionier. (Sachen gibt’s in der französischen Armee!) Philippe probierts mit Gemütlichkeit, die sich auch einstellt, als nach einer gefühlten halben Stunde eine Kellnerin aus dem Haus schlurft. Ihr Gang sagt deutlich, dass es hart ist, am Teich der Toten Karpfen zu leben. Aber schließlich kredenzt sie uns doch eine Runde Bier.

„A votre soif “2, sagt Balu und lehnt sich in seinem hellblauen Plastiksessel zurück. Balu weiß, was Durst ist. Er war schon in Mali, an der Elfenbeinküste und im Tschad eingesetzt und hat kürzlich eine Uhr für Afrikaner konstruiert, erzählt er. Das Ziffernblatt halb weiß, halb schwarz; nur zwei Anzeigen: Tag – Nacht.

Alle lachen, bis auf Arlette. Die nickt zufrieden: „Endlich hat einer von euch Mundele3 kapiert, was wesentlich ist.“

Eine Stunde später wird der Grill hereingetragen. Als die Dämmerung hereinbricht, ist die Holzkohlenglut so weit, dass man die ersten Würste auflegen kann. Uns wird bis dahin nicht fad, denn schön langsam tröpfeln andere frühe Gäste in den Hof. Und die sind sehenswert. Schließlich kommt man zu einer Modeschau, und da präsentiert man seinen feinsten Zwirn. Das Wetter begünstigt kühne Kombinationen, denn es ist Winter in Kinshasa. Das Thermometer fällt auf klirrende siebenundzwanzig Grad. Wann, wenn nicht jetzt, kann man seine Pelzjacke ausführen. Zu Shorts, versteht sich – und immer cool bleiben, Moninga!4


„Cool, Moninga!“

Die Würste sind perfekt, ebenso wie die Pommes frites, von den Kongolesen liebevoll Fou-fou belge genannt, belgisches Fou-fou.5

Jetzt fehlt nur noch die Modeschau. Leider lässt es sich die veranstaltende Agentur nicht nehmen, zuerst ihre anderen Künstler zu präsentieren. Das Programm beginnt mit einem Komödianten, der uns zwanzig Minuten lang mit einem Monolog bearbeitet, der nach einer wüsten Schimpftirade klingt, die wir nicht verstehen, und die niemand lustig findet. Ich an seiner Stelle hätte mich nach spätestens zehn Minuten im Pool ersäuft. Er aber ist völlig schmerzfrei. „Wie war ich?“, fragt er mich nach seinem von allen heiß ersehnten Abgang. „Kitoko mingi – Spitzenklasse“, antworte ich. Ich muss mich einmal erkundigen, was „Schleimer“ auf Lingala heißt.

Danach kommt eine Boygroup, die es schafft, die kongolesische Rumba zu so etwas wie Hip-Hop zu vergewaltigen. Wobei Kenner natürlich wissen, dass die kongolesische Rumba die Wurzel aller populären Musik ist.6


Am Catwalk von Limete

Wie auch immer, selbst Balu der Bär drängt mittlerweile zum Aufbruch. Ich muss meine Freunde mit einer weiteren Runde Bier zum Bleiben zwingen. Eine lohnende Investition, zeigt sich gegen zweiundzwanzig Uhr. Denn die Modeschau auf den geborstenen Fliesen rund um den Weiher der Verzweifelten Welse reißt alle vom Hocker, die sich von diesem Abend nicht mehr viel erwartet haben. Die natürliche Anmut, mit der sich die Models aus der Gosse von Limete bewegen, ist atemberaubend.

Noch während die Rufe nach Zugabe über den Pool wogen, geselle ich mich zur Chefin der Agentur, die aus dem Hintergrund heraus zufrieden ihren Erfolg belauert. Madame Carine ist von einer etwas unheimlichen Schönheit; ein ehemaliges Topmodel, sagt sie. Ich bin geneigt, ihr aufs Wort zu glauben. Ihre sanfte, tiefe Stimme ist berückend. „Tanz, Gesang, Sprache, Auftreten, das ist es, was wir unseren Künstlern vermitteln. Unser Traum …“, ihr Blick scheint sich kurz in einer smaragdenen Zukunft zu verlieren, „… unser Traum ist, dass vielleicht einer von ihnen einmal ein echter Filmstar wird.“

Recht so, Madame Carine! Wo wären wir ohne unsere Träume!

„Wir wollen diesen jungen Menschen von der Straße helfen, es im Leben zu etwas zu bringen.“

Großartig, Madame, ich bewundere Sie!

„Freilich sind unsere Mittel begrenzt.“ – Oh, oh, das Gespräch nimmt eine beunruhigende Wendung. Plötzlich bin ich es, den Madame belauert. Ich bin Beute, wird mir klar, denn ich bin ein Mundele. Und die Mundele kommen gemeinhin nicht in den Kongo, um sich zu amüsieren (was man daran erkennt, dass sie 1. nicht tanzen können und 2. die kongolesische Rumba nicht zu schätzen wissen). Nein, die Mundele kommen, um zu helfen. Auf gut Lingala: um Hinz und Kunz Geld in den Rachen zu stopfen. Also warum nicht auch jungen, künftigen Filmstars aus dem Guesthouse Melissa?


Madame Carine

„Wir haben noch nicht einmal eigene Proberäumlichkeiten“, schnurrt Madame Carine.

„Echt schlimm. Aber das wird schon. Bon courage, Madame.“ Ich weiche einen halben Schritt zurück.

Aber die Mutter Teresa von Limete gibt nicht auf. Ihre schläfrigen Augen weiten sich, und ich muss plötzlich an die Schlange Kaa denken. Ich werfe einen hilfesuchenden Blick hinüber zu Balu dem Bären, aber der ist gerade beim Zahlen. Ich werde weich. „Na ja, ich kenne natürlich schon ein paar Leute, die immer wieder große Feste geben.“

„Wunderbar. Wir vermitteln auch Musiker und Servierkräfte.“

Warum eigentlich nicht? Warum sollte ich mich nicht ein wenig engagieren als Vermittler zwischen den Welten, um den Kassenmagneten von morgen aus der Patsche zu helfen. Wer weiß, vielleicht hat ja auch eine Halle Berry einmal am Fischteich angefangen. Ich bin drauf und dran, Madame Carine meine Visitenkarte zu übergeben.

„Natürlich stellen wir auch Komödianten.“

Nein, um Himmels willen! Der Bann ist gebrochen. „Ein unvergesslicher Bursche, Madame. Ich werde darüber nachdenken. Es war sehr schön, au revoir!“ Ich reiße mich los und haste meinen Kameraden nach, die sich anschicken, den Hof zu verlassen. Ehe ich das Tor erreiche, schleudert mir Madame Carine ihren letzten Trumpf nach: „Babysitter! Wir vermitteln auch Babysitter!“

Am Weg zum Auto laufe ich dem Burschen mit der Pelzjacke in die Arme, den ich am Nachmittag fotografiert habe. „Wie wär’s mit einem kleinen Bier, Moninga?“, ruft er.

Entkräftet von meiner Begegnung mit Madame Carine drücke ich ihm tausend Kongolesische Francs7 in die Hand. So viel kostet ein kleines Bier im Guesthouse Melissa. Was wäre ich schließlich für ein Mundele, wenn ich nicht einem alten Freund ein Bierchen spendierte? Zum Mittagessen.

1Pagnes: die farbenfrohen, gemusterten Kleider der zentralafrikanischen Frauen

2„A votre soif“: „Auf euren Durst.“

3Mundele: die Weißen

4Moninga, lingala: Kumpel, „brother“

5Fou-fou: Knödel aus Maniokmehl, Hauptnahrungsmittel der Kongolesen

6Siehe auch „Jazz au jardin“ aus der Reihe „Kongolesische Nächte“ desselben Autors

71000 Kongolesische Francs: ca. 1 Euro

CLAAS, DER RAIS UND ICH

Diese Geschichte über meine kurze Begegnung mit dem kongolesischen Staatspräsidenten Joseph Kabila habe ich im Spätherbst 2014 geschrieben. Schon damals war abzusehen, dass er alles tun würde, um die für 2016 geplante Präsidentenwahl hinauszuzögern. Der Grund: Laut Verfassung durfte er nicht mehr antreten, weil er schon zwei Amtsperioden hinter sich hatte. Dass es der kluge Taktiker tatsächlich geschafft hat, die Neuwahl 2016 zu verhindern, hat niemanden überrascht. Aber was er in der Silvesternacht 2016 zustande gebracht hat, das hat selbst erfahrene politische Beobachter sprachlos gemacht: Regierung und Opposition haben einen feierlichen Vertrag geschlossen, im Jahr 2017 eine friedliche Präsidentenwahl zu organisieren. Und damit nicht genug, hat Kabila erklärt, dabei nicht mehr antreten zu wollen. Das wäre die erste gewaltlose Machtübergabe in der Geschichte des Landes. Sogar seriöse Magazine sprechen von einem „Silvesterwunder“. Für mich wäre es das größere Wunder, wenn die Wahl 2017 wirklich stattfinden würde. Denn der Rais ist nun einmal der Rais.

Ich fange mit dem Rais an. Claas und ich sind zwar auch bedeutende Persönlichkeiten, aber der Rais ist nun einmal der Rais: der Chef. Das Wort kommt aus dem Arabischen. Schon Gamal Abdel Nasser und Muammar Al-Gaddafi trugen diesen Ehrentitel. Im Kongo ist er natürlich für den Staatspräsidenten reserviert, für Joseph Kabila Kabange. Den „Mingi-Mingi Rais“ nennen sie ihn auf Lingala, den „Viel-Viel Chef“. Lingala, die wichtigste Sprache entlang des Kongoflusses, ist einfach gestrickt. Joseph Kabila spricht sie übrigens nicht, denn er ist ganz im Osten des Landes geboren, in den Bergen der Region Kivu, als Sohn des Räuberhauptmanns Laurent-Desiré Kabila.


Der Rais

Räuberhauptmann ist ein verbreiteter Beruf in Kivu, etwa wie Uhrmacher in der Schweiz. Diesem eklatanten Unterschied in der beliebtesten Berufswahl ist es allerdings auch zu verdanken, dass man Kivu NICHT als die Schweiz Zentralafrikas bezeichnet.

Als Joseph alt genug war, um schon auf eigene Faust ein bisschen zu plündern, hat Papa Kabila mit Unterstützung der halben ruandischen Armee die Macht im Kongo an sich gerissen. Der Junior war damals Stabschef von Papas Bande. Fünf Jahre später wurde Papa ermordet und Joseph zum Staatspräsidenten ausgerufen. Er war zu dem Zeitpunkt gerade dreißig Jahre alt. Zum Erstaunen der halben Welt wurde er nicht gleich umgebracht, obwohl man es ein paarmal versucht hat. Er hielt sich an der Macht, arrangierte sich mit Chinesen und Amerikanern und gilt mittlerweile als Garant für Stabilität (und gute Geschäfte). Im Land scheint er recht beliebt. Ich habe nur wenige Kongolesen getroffen, die wirklich auf ihn geschimpft hätten. Er bereichert sich nicht mehr als andere afrikanische Potentaten, man hat ihm noch kein nennenswertes Massaker anhängen können, und der Personenkult um ihn hält sich in Grenzen. In engen Grenzen sogar. Der Rais scheint sich in der Rolle der Sphinx zu gefallen. Er spricht selten in der Öffentlichkeit, und wenn, dann ein wenig rätselhaft. Er ist so etwas wie seine eigene Graue Eminenz. Von der Mission EUSEC hat ihn seit Jahren keiner mehr persönlich getroffen, obwohl EUSEC zu den wichtigsten internationalen Unterstützern der kongolesischen Armee zählt.

 

Am Dienstag, den 25. November 2014 aber soll es so weit sein: Der Rais persönlich wird an diesem Tag nach Kitona kommen, in die Basis der kongolesischen Militärschulen, um vierhundert frischgebackenen Leutnanten den Treueeid abzunehmen.

Und hier kommen Claas und ich ins Spiel, denn wir sind die EUSEC-Verbindungsmänner für die Militärschulen. Also sprach der Missionschef: „Ich habe keine Zeit für den Rais. Also gehet hin, Claas und Kurt, vertretet mich prächtig und seht zu, dass sich die Franzosen nicht allzu sehr in den Vordergrund spielen.“ Die Franzosen haben nämlich eigene Militärberater in Kitona und werden die Gelegenheit nützen wollen, dem Rais und seiner Entourage die überragende Wichtigkeit der Grande Nation vor Augen zu führen. Nur gut für EUSEC, dass es Claas und mich gibt.

Claas ist mein Chef, ein Oberstleutnant der Reserve wie ich. Holzhändler im Zivilberuf. Er ist ein vierschrötiger Flame, der in seiner Freizeit am liebsten Adiletten trägt und kurze Hosen, die seine kurzen Beine noch kürzer erscheinen lassen. Jeden Sonntag bäckt er Pfannkuchen für sich und mich. Ich habe ihn anfangs für etwas treuherzig gehalten. So kann man sich täuschen.

Am Sonntagmorgen treten wir die zweitägige Reise an die Atlantikküste an, in deren Dunst Kitona brütet. Unterwegs durchqueren wir die Rinderweiden, die Olive Lemba Kabila gehören, der Frau des Rais. Es handelt sich um ein Gebiet nicht viel größer als Osttirol, also klein für kongolesische Verhältnisse. Für die Rinder ist es eine gefährliche Zeit, denn für das bevorstehende Fest in Kitona wird ordentlich Fleisch benötigt.


Fleisch!

Auf der schlammigen Piste, die zur Küste hinunterführt, passieren wir immer wieder liegengebliebene Armeelaster voll mit Stiefeln für die Soldaten der Garnison. Schließlich soll keiner in Badeschlapfen vor dem Rais stehen. Ich frage mich, ob der seine Soldaten schon jemals so gesehen hat wie ich bei meinen früheren Besuchen in Kitona. Zur Illustration unser Fehlersuchbild, Schwierigkeitsstufe „harte Nuss“: finden Sie die fünfzehn Abweichungen im Schuhwerk, durch die sich Bild 1 von Bild 2 unterscheidet.

Bild 1: Exerzierdienst OHNE Rais


Bild 2: Exerzierdienst MIT Rais


Das Hotel Mangrove

In Kitona angekommen, erwartet uns eine unangenehme Überraschung: alle passablen Unterkünfte sind bereits von diversen Generälen ausgebucht. Für uns bleibt lediglich das Hotel „Mangrove“.

Vor fünfzig Jahren hätten wir über diese Residenz noch mit den Fersen geklatscht vor Freude. Unter belgischer Führung galt das „Mangrove“ als das Hotel Sacher der kongolesischen Atlantikküste. 1991 aber hat ein meuterndes Bataillon des Feldmarschalls Mobutu alle verfügbaren Räumlichkeiten bezogen. Als die Herrschaften ein paar Wochen später auscheckten, war das „Mangrove“ nur mehr eine kokelnde Ruine.

Der tüchtige Monsieur Nepa-Nepa hat zumindest eines der alten Gästehäuser so weit wieder aufgebaut, dass man darin relativ unbesorgt sein Haupt betten kann. Zumindest, wenn man sein eigenes Leintuch mithat. Oder gar den trefflichen Tropenschlafsack „Lofoten Summer“, den ich vorsorglich mitgebracht habe. Komfortzone 16 – 25 Grad. Unkomfortablerweise stellt sich jedoch heraus, dass die nächtlichen Tiefsttemperaturen in Kitona bei 30+ liegen. Als ich den „Lofoten-Firlefanz“ am Dienstagmorgen auswringe, bleibt nur ein Trost: nur noch eine Nacht.

Malheureusement geruhe der Rais doch erst am Mittwoch anzureisen, erfahren wir, als wir den Militärstützpunkt erreichen. Wir beschließen, den Tag einigermaßen sinnvoll zu nützen: Ich inspiziere die Militärschulen, Claas aber wird sich der Ehrentribüne widmen, wo sich Dutzende von Generälen tummeln, um den Vorbereitungen zur Parade beizuwohnen. Und natürlich die zwielichtigen Franzosen. Claas wird dafür sorgen, dass sich der Franzmann dort nicht ungestört in den Vordergrund drängen kann.

Als wir uns am späten Nachmittag in die Plastiksessel unter dem Strohdach fallen lassen, das im „Mangrove“ als Bar gilt, ist Claas blendend gelaunt. Dem alten Fuchs ist es doch tatsächlich gelungen, für uns beide eine Einladung zum Abendessen bei General Etumba Longila zu ergattern, dem höchsten Offizier der kongolesischen Streitkräfte. Achtzehn Uhr, entspannte Zivilkleidung, in der Villa des Generals am Strand von Banana.

Als die Franzosen, angeführt von ihrem Militärattaché, dort eintreffen, sitzen wir schon beim zweiten Gläschen mit dem General, der in seinem bestickten Hawaiihemd gar nicht so furchterregend wirkt. Die überrumpelten französischen Mienen sind ein hübscher kleiner Lorbeer für uns, aber Claas denkt gar nicht daran, sich darauf auszuruhen. Beim eigentlichen Abendessen im Garten, am Pool mit Meerblick, holt er zum entscheidenden Schlag aus: Als man das unvermeidliche Pili-Pili reicht, das ultrascharfe Paprikaschotengewürz des Kongo, wendet sich Claas an die versammelte Runde von mindestens zehn kongolesischen Generälen: „Als ich das zum ersten Mal gekriegt habe, habe ich gedacht, das sei Tomatensoße.“ Verhaltenes Grinsen in schwarzen Gesichtern. „Also hab ich mir einen ganzen Esslöffel aufs Fleisch getan.“ Erstes Gelächter. Ja, ein Mundele, der sich an den kongolesischen Paprikaschoten das Maul verbrennt, das ist schon eine Gaudi. Selbst die Franzosen lächeln müde. Aber als Claas fortfährt, schläft ihnen das Gesicht ein. Es ist nicht unbedingt das Tischgespräch, das man im Offizierscasino von St. Cyr1 führen würde. Aber an der Tafel von General Etumba schlägt es ein wie eine Bombe: „Aber am nächsten Tag erst, Herr General, beim Scheißen …“ Claas muss eine Pause machen, bis sich das brüllende Gelächter gelegt hat. Dann das große Finale: „Wenn man mir da ein Feuerzeug an den Hintern gehalten hätte, wäre ich abgegangen wie ein Düsenjet!“

Voilà, wir haben gewonnen. Die ganze Tafelrunde muss sich die Tränen aus den Augen wischen, die Kongolesen vom Lachen, die Franzosen vom Fremdschämen. Punkto Unterhaltungswert liegt EUSEC 1:0 vorne. Und Les Bleus kommen die ganze reguläre Spielzeit über nicht zum Ausgleich. Ihnen fehlt einfach die absolute Schmerzfreiheit des flämischen Holzhändlers. Was sich in der Verlängerung noch einmal niederschlägt. Zum Dessert werden bittere Wurzelstücke gereicht, die sich erstaunlich gut mit dem Bier vertragen. „Gut für die Manneskraft“, sagt General Etumba lächelnd. „Ah“, ruft Claas, und mir schwant Schlimmes.

„Ein Chinese, ein Belgier und ein Kongolese“, hebt er wohlgemut an.

„Bitte nicht den“, denk ich mir, „nicht in dieser Runde.“

Aber Claas weiß instinktiv, was zieht. Er bringt genau den.

Ich will ihn hier nicht in voller Länge erzählen. Es reicht zu wissen, dass es in der Geschichte um die Länge geht, die zählt. Und natürlich gewinnt der Kongolese. Und damit gewinnt EUSEC. Seit diesem unvergesslichen Abend (was haben wir gelacht!), sind wir Kumpel, Claas, ich und die Generäle. Was sich noch als sehr nützlich erweisen wird, wie wir sehen werden. Das Einzige, was unsere Champagnerlaune trübt, als wir spätabends in unsere Unterkunft zurückrumpeln, ist die Nachricht, dass der Rais doch erst am Donnerstag kommen wird. Also noch eine Nacht im Schwitzkasten des „Mangrove“, und noch ein Tag in der Militärbasis von Kitona. Ein Tag, an dem uns nichts anderes zu tun bleibt, als den Kongolesen beim Warten zuzuschauen.

Haarschnitt im Frisiersalon „Zur alten Kanone“

Als wir am Donnerstagmorgen starten, ist die Straße, die hinaufführt zur Kaserne, bereits von Menschenmassen gesäumt: Frauen in ihren schönsten Pagnes2, Kinder in Schuluniform, hunderte von Kadern der Präsidentenpartei P.P.R.D. mit bunten Fahnen. Die Straßenränder hat man über Nacht mit mannshohen Palmwedeln begrünt. Hochgelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn.


„Er kommt!“

Auf der Ehrentribüne haben uns unsere Kumpel, die Generäle, gute Plätze reserviert. Bessere als den Franzosen, stellen wir befriedigt fest.

Zwei Stunden warten wir auf der Tribüne, dann brandet ferner Jubel auf unten in Kitona, wird lauter. Es ist, als käme ein Fußballstadion auf uns zu, und der Rais surfte auf „La Ola“. Jeden Moment muss er ums Eck kommen, ein Titan in goldenen Schuhen.

Tja, und dann steigt ein kleiner, bulliger Mann aus einem recht schlichten Geländewagen. „Grüß Gott, ich bin der Präsident, darf ich mir die Soldaten da einmal ein bisschen anschauen?“ – Das ist der erste Eindruck, den er auf mich macht. Natürlich läuft die Sache anders ab. Der Kommandant der angetretenen Truppe eilt im Stechschritt auf ihn zu und schreitet mit ihm die Front ab. Dann spaziert der Rais so selbstverständlich über den Roten Teppich, als wärs der Läufer in seinem Schlafzimmer, nimmt auf der Ehrentribüne Platz und verschmilzt umgehend mit seiner Umgebung. Die militärische Zeremonie, die jetzt abrollt, ist durchaus beeindruckend. Die Kongolesen exerzieren so gut, als wären sie echte Soldaten. Nachdem die vierhundert frischgebackenen Leutnante ihren Eid abgelegt haben, spricht der Rais. Ich werde keines seiner Worte je vergessen. Nicht weil sie so geschliffen gewesen wären. Auch nicht, weil ich so ein gutes Gedächtnis habe. Aber acht Wörter kann sogar ich mir merken: „Je prends acte de votre serment. Mes félicitations.“3 Wenn es stimmt, dass die Würze in der Kürze liegt, hat der Rais reinstes Pili-Pili gesprochen.


Les généraux


Zackige Matrosen

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