Krallenspur

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Kapitel 4

Es überraschte mich nicht im Geringsten, als ich Megan Wilcox am nächsten Vormittag mit wütender Miene aus der Schultoilette stürmen sah. Wenn dieser Typ in dem Tempo weitermachte, würde sein Bedarf an willigen Opfern wohl kaum bis zum Ende des Schuljahres reichen. Mein Mitleid mit Megan hielt sich allerdings in Grenzen. Was ließ sie sich auch mit diesem Casanova ein. Dabei ignorierte ich, dass ich ja selbst ein gewisses Interesse an Mister Unwiderstehlich hatte. Doch gerade jetzt hatte ich andere Probleme.

Nein, in meinem Schrank war der Ausweis auch nicht. Ärgerlich warf ich die Tür so heftig zu, dass es schepperte. Ich musste mich beeilen, wenn ich es vor Kunst noch schaffen wollte, also schnappte ich mir meinen Rucksack und sauste los.

Außer Atem erreichte ich den Vorraum der Bibliothek, nur um festzustellen, dass Mr. Brown wieder einmal nicht aufzufinden war. Hoffnungsvoll beugte ich mich über den Tresen, aber ich hatte Pech. Kein Ausweis.

Beim Blick auf die Uhr stellte ich fest, dass ich es auch nicht mehr rechtzeitig zum Unterricht schaffen würde, und das ausgerechnet heute, wo ich meine erste Kunststunde bei Mr. Jefferson hatte. Ich kannte ihn nicht, aber ich würde gleich am ersten Tag einen richtig »guten« Eindruck bei ihm hinterlassen.

So schnell ich konnte, hetzte ich über den Schulhof zum Gebäude hinüber, in dem der Kunstsaal lag. Die Tür war bereits geschlossen. Tapfer atmete ich tief ein und klopfte. Nach einem leisen Gemurmel, das ich als Aufforderung deutete, öffnete ich die Tür. Natürlich waren sämtliche Augenpaare auf mich gerichtet.

»Ähm … entschuldigen Sie, Mr. Jefferson …«, begann ich zaghaft.

»Und Sie sind?« Seine Augenbrauen wanderten nach oben.

»Celia McCall«, murmelte ich.

»Schön, Miss McCall. Ich freue mich, dass Sie sich doch noch dazu entschließen konnten, an meinem Unterricht teilzunehmen.« Wie er es sagte, klang es allerdings eher sarkastisch als erfreut. Ich war sicher, einen Verweis oder zumindest eine Strafarbeit zu bekommen, doch ich hatte Glück. Er forderte mich nur auf, mich zu setzen.

Da ich nicht vorhatte, ihn noch weiter zu reizen, sah ich mich schnell nach einem freien Platz um. Alle Tische waren besetzt. Nur in der letzten Reihe war noch ein leerer Stuhl und mein Gesicht fing augenblicklich an zu glühen, als ich sah, neben wem.

»Falls es Ihrer Aufmerksamkeit entgangen sein sollte, dort hinten wäre noch frei.« Wieder troff Mr. Jeffersons Stimme vor Sarkasmus. »Bei Mister … ähm, Beckett, nicht wahr?« Er nickte ungeduldig zu dem Neuen hinüber. Doch der schien die Worte des Lehrers gar nicht mitzubekommen, denn er sah nicht auf.

Mr. Jefferson machte sich nicht die Mühe, ihn zurechtzuweisen, sondern blickte wieder mich an und seine Augenbrauen zogen sich erneut unheilvoll zusammen.

»Und ich wäre Ihnen sehr verbunden, Miss McCall, wenn es nicht den ganzen Vormittag dauern würde, bis Sie Ihren Platz endlich einnehmen.«

Seine Geduld mit mir war sichtlich erschöpft, also fügte ich mich in mein Schicksal und schlich mit gesenktem und höchstwahrscheinlich knallrotem Kopf nach hinten.

Beckett sah noch immer nicht auf. Auch nicht, als ich den Stuhl zurückzog und mich steif darauf niederließ. Etwas zu sagen wagte ich nicht, denn Mr. Jefferson war schon sauer genug. Also hockte ich nur stumm da und starrte krampfhaft nach vorne, während unser Lehrer uns erläuterte, welches Projekt wir bearbeiten würden.

Allerdings bekam ich die Ausführungen einer Lehrkraft ein weiteres Mal nicht mit, denn der Typ neben mir machte mich entsetzlich nervös.

Doch es sollte noch schlimmer kommen. Irgendwann verteilte Mr. Jefferson Stifte und Zeichenpapier und wies uns an, die Einzelheiten für unsere Aufgabe mit unserem Sitznachbarn zu besprechen, mit dem wir ein Team bilden sollten. Um uns herum ertönte sofort lautes Gemurmel. Na wenigstens war meine Platzwahl nicht mehr länger Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. Doch mein anderes Problem war eindeutig noch da und es sprach kein Wort.

Einige Minuten hockten wir stumm nebeneinander, dann wagte ich es endlich, vorsichtig zu ihm hinüberzublinzeln. Soweit ich sehen konnte, hatte er sich in der Zwischenzeit ebenso wenig bewegt wie ich und davon ermutigt, drehte ich den Kopf etwas weiter in seine Richtung.

Heute Morgen hatte er es auf jeden Fall geschafft, sich zu rasieren und wieder ein Shirt zu finden, bei dem man die Farbe eindeutig bestimmen konnte. Dunkelblau. Seine Haare dagegen waren noch immer unverändert lang. Vermutlich weigerte er sich sie abzuschneiden, weil sie normalerweise die feine helle Narbe verdeckten, die direkt über seiner dunklen Augenbraue begann und über die linke Schläfe bis zum Haaransatz verlief. Nur weil seine Haare heute noch feucht waren, entweder vom Regen oder der morgendlichen Dusche, fiel sie mir zwischen den Haarsträhnen überhaupt auf.

Doch sofort verwarf ich die Überlegung wieder. Eine kleine Narbe störte jemanden wie ihn, der so nachlässig mit seinem Äußeren war, bestimmt nicht.

Moment. Woher wollte ich das denn wissen? War ich etwa eine Cassian-Beckett-Expertin? Eindeutig nicht, denn wenn ich es gewesen wäre, hätte ich sicherlich auch gewusst, weshalb er das leere Zeichenpapier vor sich anstarrte, als wollte er es allein durch seinen Blick in Fetzen reißen. Seine Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst und auch die steile Falte über seiner Nasenwurzel verriet, dass er mindestens so mies drauf war wie Mr. Jefferson vorhin. Allerdings konnte ich ja wohl kaum auch noch der Grund für seine schlechte Laune sein.

Der finstere Ausdruck ließ sein Gesicht härter und älter wirken. Bisher hatte ich angenommen, er wäre so alt wie ich, aber die Gerüchte mussten wohl doch stimmen, dass er von mehreren Schulen geflogen war und deswegen Klassen wiederholt hatte. Er konnte also durchaus auch neunzehn oder sogar zwanzig sein.

Ob ich damit richtiglag, würde ich wohl nie erfahren, denn so wie er aussah, hatte er nicht das geringste Interesse, auch nur Guten Morgen zu mir zu sagen, geschweige denn über etwas aus seinem Privatleben mit mir zu plaudern. Allerdings würden wir bei weiter zwischen uns herrschender Funkstille auch ein Problem mit unserer Zeichenaufgabe bekommen.

Meine Nervosität wich einem Gefühl der Resignation. Er hatte vermutlich keine Lust, mit mir zu reden, weil ich nicht in sein Beuteschema passte. Und mir wurde heiß, was nicht weiter erstaunlich war, denn ich trug noch immer meine dicke Jacke.

Ohne aufzustehen, denn ich beabsichtigte heute nicht noch einmal die Aufmerksamkeit meines Kunstlehrers zu erregen, wurschtelte ich eine Weile so unauffällig wie möglich, bis ich die Jacke endlich los war. Erleichtert legte ich sie zusammen mit meinem Schal über die Stuhllehne hinter mir.

»Der Anhänger da an deiner Kette, ist das ein … Hund?«

Ich erschrak so sehr über die unerwartete Ansprache, dass ich fast vom Stuhl gerutscht wäre.

Er konnte doch unmöglich mich meinen?

Aber wer außer mir hatte sonst einen Hund an der Kette? Hund an der Kette, eigentlich war das witzig, aber mir war im Augenblick überhaupt nicht zum Lachen zumute, denn er meinte tatsächlich mich. Es war dieselbe warme, beruhigende Stimme, die ich nach meiner Ohnmacht gehört hatte, nur hatte sie gerade absolut keine beruhigende Wirkung auf mich. Stattdessen spürte ich ein intensives Kribbeln in meinem Magen und die Härchen in meinem Nacken hatten mal wieder nichts Besseres zu tun, als sich aufzustellen. Mein Zustand besserte sich auch nicht, als ich es wagte, ihn anzusehen, obwohl er jetzt weder wütend noch gelangweilt aussah. Zu meiner Verblüffung wirkte er interessiert.

»Äh … ja. Nein. Ich meine …«, stammelte ich. Klar denken war einfach unmöglich.

»Nein oder ja? Was jetzt genau?« Er klang belustigt.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis ich endlich eine Antwort zustande brachte. »Nein, ich meine, er sieht vielleicht so aus, aber das ist kein Hund.« Ich atmete tief ein. »Es soll eigentlich ein Wolf sein … auch wenn das anscheinend außer mir niemand sieht.« Oh je, was redete ich denn da bloß für ein bescheuertes Zeug? Das wollte unser Schulcasanova bestimmt nicht so genau wissen.

»Tja, wenn du mich fragst …« Sein Blick wurde nachdenklich und er beugte sich etwas zu mir vor, um meinen Anhänger genauer zu betrachten.

Himmel, er sah nicht nur klasse aus, er roch auch noch unglaublich gut. Kein Aftershave, eher wie …

Er lehnte sich wieder zurück und ich konnte nicht mehr feststellen, wonach.

»Doch.«

Ich starrte ihn verständnislos an.

»Es ist ein Wolf. Eindeutig.« Er nickte und seine Worte klangen absolut nicht so, als würde er mich veralbern. Eigenartigerweise wirkte er eher überrascht. »Auf jeden Fall ist er sehr hübsch.« Er sah wieder auf und … lächelte mich an.

Gut, dass ich saß, sonst wäre ich wahrscheinlich wieder zusammengeklappt. Dieses Mal wegen meiner weichen Knie. In meinem Magen war jetzt ein ganzer Ameisenstaat in Alarmbereitschaft und mein Mund war vollkommen ausgetrocknet. Aber irgendwann wurde mir bewusst, dass ich ihn immer noch anstarrte. Ich musste was sagen. Irgendwas!

»Danke. Und auch für das andere.« Es war das Erste, was mir einfiel.

»Das andere?« Er runzelte die Stirn.

Natürlich. Er hatte es vergessen. Jetzt würde es peinlich werden. Hätte ich doch bloß nichts gesagt. Doch nun war es zu spät. Er wartete auf meine Erklärung.

»Du hast meiner Freundin was zu trinken für mich gegeben, oder? Ich meine, nachdem ich umgefallen war.«

Mist! Das zu sagen, war anscheinend ein Fehler gewesen. Sein Lächeln wurde eindeutig schwächer.

»Ja.«

Mehr sagte er nicht. Aber was hatte ich denn auch erwartet? Etwa ein überschwängliches »Gern geschehen« oder ein »Stets zu Diensten«? Pah, lächerlich!

 

Laut sagte ich: »Es hat klasse geschmeckt.«

Aber sein gezwungenes Lächeln zeigte, dass er sich keineswegs über meine Begeisterung für das Getränk freute. Ich versuchte, die Situation irgendwie zu retten, aber mein »Was war das eigentlich?« machte es nur noch schlimmer. Sein Lächeln verschwand endgültig und wich einem seltsam angespannten, ja fast wachsamen Ausdruck.

Das wiederum weckte mein Misstrauen. Hatte er mir etwa irgendetwas Illegales eingeflößt?

»Ach, nichts Besonderes. War ’n Energydrink.«

Ich war mir sicher, dass er log. »Ach echt? Und welcher?«

»Keine Ahnung. Ich meine, ich probier immer mal verschiedene Sachen aus. Weiß nicht, was es gerade an dem Tag war. Vielleicht Blue Cross?« Er wirkte jetzt wieder vollkommen cool und zuckte lässig die Achseln.

Es war garantiert kein Blue Cross gewesen. Den Geschmack kannte ich. Log er etwa, weil er etwas zu verbergen hatte? War er vielleicht von den anderen Schulen geflogen, weil er mit Drogen dealte? Womöglich hatte Abby ja doch recht und es war besser, sich von ihm fernzuhalten.

Eine Weile schwiegen wir, doch dann plötzlich: »War deine Kette ein Geschenk?«

Diesmal gefiel mir das Thema nicht, das er für die Fortsetzung unserer Unterhaltung ausgesucht hatte.

»Irgendwie schon«, murmelte ich nur vage.

»Von deinem Ex?«, mutmaßte er.

Ich schüttelte den Kopf.

»Na du machst es ja ganz schön spannend.«

»Überhaupt nicht. Aber es ist kompliziert.«

»Ich hab eine Schwäche für komplizierte Geschichten.« Seine Stimme klang jetzt ganz sanft und sofort war auch das angenehme Kribbeln wieder da. Beinahe wäre ich auch bereit gewesen, ihm meine Geschichte tatsächlich zu erzählen. Aber eben nur beinahe.

»Und sie ist auch ziemlich lang«, wich ich aus.

»Wir haben doch Zeit.« Er grinste. Jetzt war eindeutig er derjenige, der bohrte, und er schien die getauschten Rollen zu genießen.

Noch bevor ich antworten konnte, wandte er sich ganz zu mir um und da war er wieder, dieser angenehme Geruch. Ich musste mich beherrschen, um nicht die Augen zu schließen, aber dann wurde mir bewusst, dass er noch immer auf meine Antwort wartete.

Als ich aufsah, blickte ich ihm direkt in die Augen.

Mein erster Impuls war, schnell wieder wegzusehen, aber wieder konnte ich es nicht. Doch diesmal war es anders. Der Ausdruck seiner Augen war nicht kalt oder zornig. Er betrachtete mich einfach nur irgendwie … wachsam und dann war es, als würde ich schweben.

Es war ein eigenartiges Gefühl. Alles fühlte sich plötzlich ganz leicht an und dann wurde ich ganz langsam von einer grauen Wolke eingehüllt. Nein, eigentlich war es ein warmes silbernes Meer, in dem ich schwamm, umgeben von einem betörenden frischen Windhauch. Langsam wurde ich von schillernden Wellen davongetragen. Kleine grüne Inseln tauchten in dem grauen Ozean vor mir auf, um dann wieder aus meinem Blickfeld zu verschwinden, während ich entspannt und schwerelos dahintrieb. Ohne jedes Zeitgefühl.

Doch irgendwann wurde das Grau heller, dann durchsichtig und schließlich verschwand es ganz und mit ihm das leichte, angenehme Gefühl. Ich seufzte enttäuscht. Aber dann wurde mir bewusst, wo ich mich befand. Im Kunstunterricht. Und Cassian Beckett saß neben mir, während ich mich irgendwelchen eigenartigen Tagträumen hingab. Hatte er etwa gemerkt, dass ich vollkommen weggetreten gewesen war?

Nein. Er saß noch immer genauso da wie zuvor. Lächelnd, leicht vorgebeugt und den Kopf etwas zur Seite geneigt, so als wartete er auf irgendetwas. Klar, auf meine Antwort.

Nervös räusperte ich mich. »Kann schon sein. Aber ich will nicht darüber sprechen. Sorry.«

In dem Moment war es mir aber eigentlich egal, ob er es verstehen würde oder nicht. Die Geschichte des Anhängers war etwas Besonderes und nicht einmal meine Eltern hatten sie mir damals geglaubt. Deswegen hatte ich sie auch noch nie jemand anderem erzählt. Nicht einmal Grandma oder Abby. Sie war einfach zu merkwürdig und manchmal zweifelte sogar ich daran, dass sie überhaupt so passiert war.

Ihn schien meine Antwort zu irritieren. Oder vielleicht war er ja auch nur überrascht, dass er einmal nicht bekam, was er wollte, doch er sagte nur: »Verstehe. Es gibt Sachen, über die ich auch nicht gerne rede.«

Zum Beispiel über das, was in der Flasche war, dachte ich.

Der Schulgong ertönte und ich erwartete, dass er schnell verschwinden würde, so wie sonst auch immer. Doch diesmal schien er es überhaupt nicht eilig zu haben. In aller Ruhe packte er das leere Blatt in eine Mappe und verstaute sie zusammen mit dem Bleistift in seinem Rucksack. Als er fertig war, wartete er sogar geduldig neben unserem Tisch, bis auch ich zum Gehen bereit war. Begleitet vom leisen Getuschel einiger Mädchen, die mich neidisch musterten, ging er neben mir aus dem Raum und weiter den Flur entlang. Sicher glaubten sie, ich wäre sein nächstes Opfer.

Ohne etwas zu sagen, leistete er mir Gesellschaft, bis wir den Biologiesaal erreichten, und als er mit mir eintrat, kapierte ich es erst - er war auch in meinem Kurs.

Abby wartete schon an unserem Tisch auf mich. Sie machte große Augen, als er sich von mir verabschiedete und sich auf einem der freien Plätze niederließ.

»Hatte ich gerade eine Erscheinung oder bist du hier eben mit Beckett reinspaziert und er hat ›Bis später‹ zu dir gesagt?«

»Jeb.« Scheinbar ungerührt ließ ich meinen Rucksack auf den Boden plumpsen und warf meine Jacke über die Stuhllehne, während Abby vor Neugier zu platzen drohte.

»Jetzt mach schon den Mund auf«, verlangte sie ungeduldig.

»Wir hatten Kunst zusammen«, antwortete ich wenig auskunftsfreudig, woraufhin sie mit den Augen rollte. Das tat sie immer, wenn sie ungeduldig oder genervt war.

Ich würde wohl nicht um eine Erklärung herumkommen, also erzählte ich ihr von unserem gemeinsamen Kunstprojekt. Die Sache mit dem Anhänger behielt ich allerdings für mich. Stattdessen bemühte ich mich, möglichst cool zu wirken.

»Und du bist sicher, dass er dich nicht angemacht hat?«, flüsterte sie. »Komisch, der Kerl lässt doch sonst nix anbrennen. Sei bloß vorsichtig, ja?«

Aus den Augenwinkeln glaubte ich, Beckett grinsen zu sehen. Doch als ich genauer hinsah, war er in sein Biologiebuch vertieft. Außerdem konnte er uns gar nicht gehört haben, dazu saß er viel zu weit weg.

Ich zuckte so lässig wie möglich die Achseln. »Bin wohl nicht sein Typ. Oder heiße ich etwa Angelina?«

»Zum Glück nicht. Und wenn er sich nicht für dich interessiert, umso besser. Dann rennst du wenigstens nicht verheult über die Flure wie die anderen Tussen.« Sie grinste zufrieden.

In den letzten beiden Unterrichtsstunden hatten wir Sport. Es regnete mal wieder und als wir aus der Umkleidekabine kamen, war die andere Hälfte der Sporthalle bereits belegt. Wegen des Umbaus der anderen Halle mussten wir uns heute die große mit den Jungen teilen, weil Coach Meyer offenbar keine Lust hatte, nass zu werden.

Doug winkte uns zu und ließ reichlich angeberisch seine Muskeln spielen. Während ich zurückwinkte und Abby wegen seiner Machoposen nur genervt mit den Augen rollte, ertönte der schrille Pfiff aus Coach Meyers Trillerpfeife. Die Jungen stellen sich in einer Reihe auf.

Inzwischen war auch Mrs. Reynolds aufgetaucht und wies uns an, die Volleyballnetze aufzubauen. Währenddessen beobachtete ich unauffällig die Jungen, wie sie Turnmatten heranschleppten. Cassian war auch unter ihnen.

Zufällig bemerkte ich dabei Dougs grimmige Miene, mit der er Cassian musterte, und auch den Blick, den er mit Tyler wechselte.

Doug war seltsamerweise stinksauer gewesen, als Cassian mittags in der Cafeteria an unserem Tisch vorbeigegangen war, mich angelächelt und »Hi« gesagt hatte.

»Was will denn der«, hatte mein alter Kumpel angriffslustig geknurrt und es hätte nur noch gefehlt, dass er aufgesprungen wäre und den Neuen am Kragen gepackt hätte.

Natürlich hatte ich dann meiner Clique auch eine Variante meiner »Wie habe ich den tollen Neuen kennengelernt«-Geschichte erzählen müssen, nicht ahnend, was ich damit anrichten würde.

»Der soll dich bloß in Ruhe lassen, sonst brech ich ihm alle Knochen und hau ihm sein hübsches Babyface platt!«

Dougs Ausbruch und meinen verblüfften Blick hatte Abby nur mit dem bedeutungsvollen Heben ihrer rechten Augenbraue quittiert. Sandra dagegen, die auf der anderen Seite des Tisches neben Doug saß, hatte mich mit einem giftigen Blick bedacht, der mir ein weiteres Rätsel aufgegeben hatte.

Während wir anderen uns schon ewig kannten, war sie erst vor zwei Jahren nach Eagle Lake gezogen. Kathy hatte sich mit ihr angefreundet und so gehörte sie nun irgendwie zu unserer Clique, aber wirklich warm geworden waren wir miteinander nie. Doch ihr Verhalten jetzt fand ich reichlich übertrieben. Es sei denn, sie wollte Nummer fünf auf Becketts Liste werden.

»Na das verspricht ja ausgesprochen interessant zu werden.« Abby hatte Dougs Blickwechsel mit Tyler ebenfalls bemerkt.

»Interessant?« Ich kaute nervös an meiner Unterlippe, weil ich befürchtete, dass Doug dabei war, sich Ärger einzuhandeln. »Na, ich weiß nicht.«

»Oh ja. Vor allem die Reaktion von Blondie. Das wird garantiert spannend, glaub mir«, meinte sie spöttisch, während sie zu Sandra hinübernickte, der Mrs. Reynolds gerade den Ball in die Hand drückte.

Ich verstand nur Bahnhof.

»Du kannst mir doch nicht erzählen, dass du noch nicht mitgekriegt hast, dass Barbiegirl neuerdings voll auf Doug abfährt?« Sie sah mich an und ihre blauen Augen funkelten boshaft.

»Offensichtlich nicht. Na schön, dann erzähl ich dir gleich noch ’ne Neuigkeit - der liebe Doug steht aber nicht auf sie. Er hat nämlich nur Augen für dich. Auch wenn du das zu seinem Bedauern überhaupt nicht schnallst.«

Ich starrte sie verblüfft an. »Quatsch!«

»Habe ich dir jemals Mist erzählt?«

Hatte sie nicht. Aber diesmal musste sie sich irren. Allerdings, wenn ich darüber nachdachte, ergab das schon einen Sinn.

»Du weißt doch, die Betreffende merkt es immer zuletzt«, tröstete sie mich grinsend. »Tja und nun hat unser kleiner Dougie Angst, dass er auch noch Konkurrenz kriegt.«

Ich folgte Abbys Blick.

Cassian stand etwas abseits von den anderen und lauschte gelangweilt den Ausführungen des Coachs.

Während ich noch über Abbys Worte nachdachte, begann Mrs. Reynolds uns in Gruppen einzuteilen.

Keine Ahnung, was die abwegigere Vorstellung war, dass Doug in mich verknallt sein sollte oder dass er sich mit Cassian anlegte, weil er annahm, dieser hätte ebenfalls Interesse an mir? Nein, dann doch eher das Letztere. Besonders, wenn ich an Dougs merkwürdiges Verhalten in der letzten Zeit dachte. Aber Cassian Beckett war einfach nur höflich gewesen, weil wir zufällig in Kunst nebeneinander saßen. Mehr nicht.

Da wir zu viele für die halbe Halle waren, ließ Mrs. Reynolds zunächst die erste Gruppe gegeneinander antreten, in der Sandra und Kathy waren. Abby und ich ließen uns mit den anderen Mädchen aus der zweiten Gruppe auf den Bänken am Rand des Spielfeldes nieder, um zuzusehen. Doch meine Aufmerksamkeit galt, kaum dass ich saß, wieder der anderen Seite der Halle.

Oh nein, der Trainer wollte ausgerechnet heute auch noch Kampfsport üben. Das ungute Gefühl in meinem Magen verstärkte sich und plötzlich wurde mir klar, dass ich mich in Wahrheit nicht um meinen alten Kumpel sorgte. Mit Sicherheit plante er, dem Neuen eine Lektion zu erteilen, ohne dass dieser überhaupt ahnte, in welcher Gefahr er schwebte.

Coach Meyer wollte eine Übung demonstrieren und Doug meldete sich sofort als Freiwilliger. Er wollte wohl gleich klarstellen, was er so draufhatte.

Der Coach zeigte eine Übungssequenz mit Doug, aber sein Schüler war so gut, dass sich der Trainer am Ende selbst auf der Matte wiederfand.

Dougs Freunde johlten und klatschten begeistert und er war sichtlich zufrieden mit sich. Anscheinend wollte Coach Meyer sich nicht noch einmal blamieren, denn er winkte zu den Jungen hinüber und seine Wahl traf ausgerechnet Cassian Beckett.

Mir wurde übel, als ich Dougs Gesichtsausdruck bemerkte. Für ihn war das Ganze eindeutig keine Übung, doch Cassian schien seine Absichten nicht zu durchschauen. Er schlenderte lässig zu Doug und machte noch immer den Eindruck, als ginge ihn das alles überhaupt nichts an.

 

Verflixt, warum nahm er die Sache denn nicht ernst?

Doch ich konnte nichts tun, um ihn zu warnen, nur hoffen, dass der Coach rechtzeitig eingriff, ehe Doug ihn ernsthaft verletzte.

Während sich die beiden aufstellten, verglich ich sie miteinander. Doug war eindeutig der Kräftigere, was ihm einen Vorteil bringen konnte. Cassian, genauso groß wie er, bewegte sich dagegen geschmeidiger. Er erinnerte mich irgendwie an eine Raubkatze. Aber konnte er auch kämpfen?

Coach Meyer gab das Startsignal, ich ballte die Fäuste und dann ging alles blitzschnell. Cassian schien sich überhaupt nicht bewegt zu haben, doch Doug lag plötzlich stöhnend am Boden.

Der Trainer wartete, bis er wieder aufgestanden war, dann befahl er den beiden erneut, Aufstellung zu nehmen. Obwohl ich Cassian diesmal nicht aus den Augen ließ, kam seine Bewegung so rasch, dass ich wieder nicht sagen konnte, wie er Doug abgewehrt hatte. Jedenfalls lag mein Kumpel erneut auf der Turnmatte. Und auch sein dritter Angriff verlief ähnlich blamabel. Nur dauerte es diesmal länger, bis er sich aufrichtete.

Cassian beugte sich zu ihm, streckte ihm seine Hand hin, um ihm aufzuhelfen, doch Doug ignorierte sein Friedensangebot und blieb schnaufend auf der Matte sitzen. Ich konnte sehen, dass er vor Wut kochte.

Inzwischen hatten die Kämpfer auch das Interesse der aktiven Volleyballspielerinnen geweckt. Mrs. Reynolds war nirgends zu sehen, also hatten sie ihr Spiel abgebrochen und schauten lieber dem Spektakel im anderen Hallenteil zu.

Cassian hatte sich eben mit einem Achselzucken abgewandt und wollte zurück zu seinem Platz, als Doug unerwartet aufsprang. Mit einem Wutschrei stürzte er los. Bevor er Cassian jedoch von hinten packen konnte, machte dieser, ohne sich umzusehen, genau im richtigen Moment einen Schritt zur Seite. Doug, der viel zu viel Schwung draufhatte, konnte sich nicht mehr abfangen und schlug dröhnend auf dem Hallenboden auf.

Einen Moment fürchtete ich, er hätte sich ernsthaft verletzt, denn er rührte sich nicht. Doch dann hob er langsam den Kopf. Neben seinem verletzten Stolz hatte diesmal auch seine Nase etwas abbekommen und während er sich das Blut mit dem Handrücken abwischte, zeigte sein Blick deutlich, dass er nicht glauben konnte, was da gerade passiert war. Erst als Coach Meyer ihn anbrüllte, schüttelte er sich und kam schwerfällig wieder auf die Füße. Mit gesenktem Kopf stand er da und ließ wortlos die Strafpredigt über sich ergehen.

Doch als der Trainer von ihm verlangte, sich bei Cassian zu entschuldigen, schüttelte er trotzig den Kopf.

Cassian, der etwas abseits stand, wirkte gelangweilt.

Schließlich schickte Coach Meyer Doug mit der Bemerkung, dass sein Verhalten noch Folgen haben würde, zur Schulschwester und verlangte von den übrigen Jungen bellend hundert Liegestütze.

Inzwischen war auch Mrs. Reynolds wieder aufgetaucht. Anscheinend hatte sie von der Spielunterbrechung der Mädchen und dem Grund dafür gar nichts mitbekommen, denn sie klatschte nur in die Hände und forderte uns auf, die Mannschaften zu tauschen.

Als ich an Sandra vorbei aufs Spielfeld lief, funkelte sie mich wütend an. »Na, bist du jetzt zufrieden?«

Wortlos trabte ich weiter. Sie gab mir die Schuld für Dougs Ausraster? Aber ich hatte doch weder etwas von seinen Gefühlen geahnt noch ihm jemals irgendwelche Hoffnungen gemacht. Für mich war er ein Freund so wie Tyler auch. Mehr nicht.

Den Rest der Stunde ließ der Coach die Jungen ein hartes Konditionstraining machen. Offenbar wollte er verhindern, dass einer von Dougs Freunden auf die Idee kam, sich in seinem Unterricht an Cassian zu rächen, denn er achtete auffällig darauf, dass besonders Tyler nicht in Becketts Nähe kam.

Mich konnte man für den Rest der Sportstunde vollkommen vergessen. Ich verpasste einen Ball nach dem anderen, weil ich ständig zu Cassian hinüberschielte, der scheinbar ungerührt sein Training absolvierte. Als ich auch noch mit einer Mitschülerin zusammenstieß, gongte es endlich zum Schulschluss.

Zu Hause fand ich einen Zettel von Grandma. Sie besuchte Sue, die Frau unseres Sheriffs, und würde erst spät zurück sein.

Ich war froh darüber, denn mir war nicht nach einer Unterhaltung. Automatisch schaltete ich den Herd ein, um die vorbereitete Suppe zu wärmen, brachte meinen Rucksack nach oben und wusch mir die Hände. Als ich jedoch in die Küche zurückkam, merkte ich, dass ich überhaupt keinen Hunger hatte. Ich schaltete den Herd wieder aus und ging zurück in mein Zimmer. Dort öffnete ich meinen Kleiderschrank, suchte eine Sporthose und ein Laufshirt heraus und zog mich um. Als ich fertig war, schnappte ich mir meinen MP3-Player vom Nachttisch und ging wieder nach unten. Bewaffnet mit meinen Turnschuhen und meiner Sportjacke zog ich die Haustür hinter mir zu.

Es dämmerte schon, aber trotz des Volleyballspiels oder gerade weil ich nur geistesabwesend herumgestanden hatte, sehnte ich mich jetzt nach Bewegung. Vielleicht würde es mir ja gelingen, die Bilder von Doug und Cassian aus meinem Gehirn zu kriegen, wenn ich erst einmal richtig ausgepowert war. Entschlossen schob ich mir die Kopfhörer in die Ohren und rannte los.

Zunächst lief ich zur Hauptstraße und folgte ihr ein kleines Stück, bis ich an der Zufahrt des Nachbarhauses vorbeikam. Eigentlich lief ich immer einen anderen Weg, aber heute bog ich, einem Impuls folgend, dort ab und rannte den Weg entlang, der zu dem Haus hinaufführte. Es war beinahe ein wenig wie in meinem Traum. Der Zugang war tatsächlich an den Seiten stark zugewuchert, aber ein Auto passte trotzdem ohne Schwierigkeiten hindurch. Fehlte eigentlich nur noch mein Wolf. Ich drehte mich um, aber natürlich war ich allein.

Es war nicht sehr weit bis zu dem kleinen Haus und da ich joggte, kam es noch schneller in mein Blickfeld. Ich atmete heftig, als ich davor anhielt. Heute war eindeutig nicht mein sportlichster Tag, also gönnte ich mir eine kurze Erholungspause, nahm die Stöpsel aus meinen Ohren und weil mir eigentlich gar nicht mehr nach Musik war, wanderten sie zu meinem Player in die Jackentasche.

Während mein Atem langsam ruhiger wurde, verglich ich das Haus mit dem aus meinem Traum. Es war viel kleiner und auf der Treppe lag kein abgebrochener Ast, aber auch bei diesem waren die Fensterscheiben schmutzig und es wirkte ebenso verlassen. Die Reifenspuren, die ich unten an der Einfahrt gesehen hatte, stammten also wohl doch nur von abenteuerlustigen Jugendlichen. Heute Abend war allerdings niemand hier.

Das dachte ich zumindest, weil kein Auto vor dem Haus stand. Aber als ich mich wieder umdrehte, um zurückzulaufen, hörte ich ein leises Klirren und erstarrte. Es kam eindeutig aus dem Inneren des Hauses und mein Herz begann sofort zu rasen. Sollte ich nachsehen, was das gewesen war?

Bestimmt nicht. Wenn sich jemand da drin herumtrieb, musste ich ihm ja nicht unbedingt begegnen. Und was hätte ich schon tun können?

Dennoch blieb ich unschlüssig stehen und lauschte. Nichts. Alles war ruhig und es war jetzt wirklich besser, wieder nach Hause zu laufen, denn es wurde immer dunkler. Es würde auch so schon schwierig sein, etwas zu erkennen, denn es gab keine Straßenlaternen auf der Auffahrt.

Doch meine verflixte Neugierde trieb mich dazu, die Veranda zu betreten. Durch die Fenster war nichts zu erkennen, aber als ich versuchsweise den Türgriff drehte, stellte ich überrascht fest, dass nicht abgeschlossen war. Das beunruhigte mich noch mehr und als sich die Tür, anders als in meinem Traum, mit einem schockierend lauten Knarren öffnete, blieb mir fast das Herz stehen. Wenn jemand im Haus war, hatte er es ganz sicher gehört.

Eine gefühlte Ewigkeit verharrte ich am Eingang, bereit sofort loszurennen, falls sich ein Schatten aus der Dunkelheit löste.