Krallenspur

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Kapitel 6

Die Luft war frisch. In der Nacht hatte es noch geregnet, aber als ich loslief, war es nur etwas neblig.

Alle meine guten Vorsätze waren vergessen. Ich wollte ihn sehen und mit ihm reden. Außerhalb der Schule würde es leichter sein. Nur ein lockerer Plausch mit einem Nachbarn, bei dem ich zufällig vorbeikam. Mehr nicht. Nur ich wusste, dass es kein nachbarschaftlicher Höflichkeitsbesuch war.

Wieder joggte ich die Hauptstraße entlang bis zu der Einfahrt, und dann weiter zum Haus. Ich wurde schneller und wieder war ich außer Atem, als ich es erreichte. Bei Tageslicht wirkte es noch heruntergekommener und dass sich niemand um das Gestrüpp und den verwilderten Weg kümmerte, machte es nicht besser.

Ich musste grinsen, als ich mir Cassian beim Laubharken vorstellte. Schade, dass er es nicht tat, dann hätte es noch mehr wie ein zufälliges Treffen gewirkt. So aber war ich gezwungen zu klingeln, wenn ich ihn sehen wollte. Und das wollte ich. Aber ich hatte mir schon etwas überlegt. Ich würde ihn einfach nach den Matheaufgaben fragen. Nicht besonders originell, aber etwas Besseres war mir nicht eingefallen.

Ich wartete noch einen Moment, bis sich mein Atem beruhigt hatte, dann betrat ich die überdachte Veranda. Diesmal entdeckte ich die Klingel neben der Eingangstür. Ich wartete eine Weile, doch nichts geschah. Hier draußen konnte man nicht hören, ob es drinnen läutete. Vielleicht war ja die Stromleitung immer noch kaputt. Also klopfte ich zur Sicherheit, aber wieder rührte sich nichts. Ich griff nach dem Türgriff.

Mist! Abgeschlossen.

Das konnte nur bedeuten, dass er nicht zu Hause war. Oder schlimmer, er war da und wollte mir nicht öffnen.

Enttäuscht verließ ich die Veranda. Es war eine total bescheuerte Idee gewesen. Wie kam ich überhaupt darauf, dass er an einem Samstag zu Hause herumsaß und darauf wartete, dass ich hier auftauchte? Nur weil er sich in der Schule für keines der Mädchen mehr interessierte, bedeutete das ja nicht, dass er keine Freundin hatte. Es war sogar wahrscheinlich, dass dies der Grund für seine ungewohnte Enthaltsamkeit war.

Nun bereute ich es endgültig, dass ich gekommen war. Es war Zeit, schleunigst zu verschwinden, ehe er noch mit seiner Freundin hier auftauchte und es richtig peinlich wurde.

Ich wollte schon zurück zur Straße laufen, als ich den schmalen überwucherten Pfad bemerkte. Neugierig ging ich zur Rückseite des Hauses. Der Weg führte ins Unterholz und bestimmt war Cassian hier mit mir langgegangen.

Bei der Vorstellung, nicht wieder das Stück auf der Hauptstraße zurücklaufen zu müssen, besserte sich meine Laune ein wenig. Vielleicht war Joggen ja doch eine gute Idee und ohne weiter zu überlegen, sprintete ich los. Diesmal war mein Tempo besser. Mein Atem floss gleichmäßig und ich versuchte, mich nur noch aufs Laufen zu konzentrieren. Ich wollte nicht mehr an ihn denken. Einfach nur die Bewegung spüren und laufen, gleichmäßig ein- und ausatmen und an nichts mehr denken …

Nach einer Weile war ich so auf meine Bewegungen konzentriert, dass ich überhaupt nicht mehr auf meine Umgebung achtete. Auch nicht auf die Unebenheiten am Boden. Ich fühlte einen Ruck an meinem Fuß und dann ging alles schrecklich schnell. Ich schlug der Länge nach hin und landete in einer riesigen Pfütze.

Das Wasser war eiskalt, aber als ich aufspringen wollte, bremste mich ein stechender Schmerz in meinem Knöchel. Keuchend blieb ich liegen.

Na, wenigstens hatte ich meinen Player nicht ertränkt. Der lag sicher und trocken zu Hause.

Meine Hände und Knie aber brannten unangenehm, als ich langsam auf allen Vieren aus dem Wasser kroch. Zitternd blieb ich neben der Pfütze sitzen und versuchte, meine Hände vom Matsch zu befreien, indem ich sie an meiner auch nicht mehr sauberen Jacke abwischte. Meine Handflächen waren aufgerissen, meine Knie sahen noch übler aus und die Sporthose war eindeutig ein Fall für die Mülltonne.

Ohne an die offenen Wunden an meinen Händen zu kommen, durchsuchte ich meine Jacke nach Taschentüchern. Sie waren durchgeweicht, aber wenigstens noch halbwegs sauber. Notdürftig entfernte ich mit ihnen den Dreck und tupfte mit dem letzten das frische Blut von meinen Knien. Als Nächstes bewegte ich probeweise meinen Knöchel. Es tat noch immer höllisch weh.

Vorsichtig drehte ich mich zur Seite und stemmte mich mühsam nach oben. Auftreten war richtig unangenehm, aber ich biss die Zähne zusammen und humpelte einige Schritte vorwärts. Und dann wurde mir klar, dass ich überhaupt nicht wusste, wohin ich gehen sollte. Nebel.

Ich war so mit meinem Lauf und den Verletzungen beschäftigt gewesen, dass ich ihn gar nicht bemerkt hatte, aber jetzt war er so dicht, dass man keine drei Meter weit mehr sehen konnte. Und ich war nicht sicher, aus welcher Richtung ich gekommen war.

Irgendwo hier musste doch dieser verflixte Pfad sein? Ich hinkte ein paar Schritte zurück, dann nach links, dann nach rechts und wieder zurück. Der Boden um mich herum sah überall gleich aus. Er war mit Laub und Ästen bedeckt, aber kein Weg.

»Das darf doch nicht wahr sein«, murmelte ich verzweifelt.

Patschnass, verletzt und frierend stand ich mitten im Wald und hatte nicht die leiseste Ahnung, in welcher Richtung das Warnerhaus lag oder ob es hier überhaupt irgendwo nach Hause ging.

Einen Moment fühlte ich Panik in mir aufsteigen. Was, wenn ich nicht mehr zurückfand und hier erfror oder verdurstete?

»Unsinn. Reiß dich zusammen, McCall«, schimpfte ich leise vor mich hin. Auf keinen Fall durfte ich jetzt durchdrehen. Also atmete ich tief durch und überlegte. Mein Handy lag auf meinem Schreibtisch. Ich wusste auch nicht, wie spät es war, denn meine Uhr lag daneben. Sicher war nur, dass es irgendwann dunkel werden würde.

Grandma war bei ihrer Theatergruppe und würde erst spät nach Hause kommen. Aber wenn sie merkte, dass ich nicht da war, würde sie wissen, dass etwas nicht stimmte. Ich hatte ihr keinen Zettel hinterlassen, denn normalerweise wäre ich ja vor ihr zu Hause gewesen. Zuerst würde sie bestimmt meine Freunde abtelefonieren, aber später musste sie bemerken, dass meine Sportjacke und die Turnschuhe fehlten.

Sie werden mich schon finden, wenn ich einfach hier warte, versuchte ich mich zu beruhigen. Sie werden mich suchen. Mit Hunden. So wie bei der kleinen Emily letzten Sommer. Allerdings war es unwahrscheinlich, dass Sheriff Bailey die Suchtrupps bei Dunkelheit losschicken würde.

Die Aussicht, eine Nacht in meinem nassen Zeug bei der Kälte allein im dunklen Wald verbringen zu müssen, ließ meine mühsam erkämpfte Zuversicht bröckeln. Was, wenn …

Ein lautes Knacken neben mir erschreckte mich beinahe zu Tode. Doch mein Sprung zur Seite erwies sich als Fehler, denn ich hatte meinen lädierten Knöchel vergessen. Der stechende Schmerz raubte mir den Atem und mein verletztes Bein knickte unter mir weg. Vor Schmerzen und Verzweiflung stiegen mir die Tränen in die Augen.

Warum nur war ich in diesem verdammten Wald?

Es knackte wieder.

Angeblich gab es Pumas in der Gegend, aber normalerweise waren sie ebenso scheu wie die Wölfe.

Oder war es womöglich sogar ein Bär? Vielleicht hatte ich aber auch nur einen Wanderer oder einen Jäger gehört?

»Hallo? Ist da jemand?«, rief ich hoffnungsvoll. »Hallo?«

Keine Antwort, nur ein weiteres Knacken. »Hallo, hört mich irgendjemand?«

Nichts.

Aber dann plötzlich … erhielt ich doch eine Antwort. Ein durchdringendes Heulen erklang und alle Härchen in meinem Nacken stellten sich auf.

Natürlich war für die meisten Menschen ein Wolf eine ebenso furchteinflößende Vorstellung wie ein Puma oder ein Bär. Doch sie hatten nicht das erlebt, was ich erlebt hatte, und mir kam ein völlig verrückter Gedanke. Was, wenn es mein Wolf war? Wenn ich in der letzten Zeit ständig von ihm geträumt hatte, weil er wieder da war und ich das unbewusst gespürt hatte? Hoffnung keimte in mir auf und ich rief nach meinem Wolf.

Tatsächlich kam ein wehklagendes Heulen als Antwort. Natürlich konnte ich nicht verstehen, was es zu bedeuten hatte, aber …

»Hey Wolf, bist du das?«

Wieder ein Heulen.

»Wolf, ich bin in Schwierigkeiten.«

Er reagierte nur, indem er erneut heulte.

»Bitte. Ich kann nicht zu dir kommen. Ich bin verletzt.« Normalerweise war es albern, einem Tier so etwas zu erzählen, doch nicht in meinem Fall. Gespannt spähte ich in die Richtung, aus der das Heulen gekommen war. Aber ich konnte nichts erkennen. Da war nur eine graue Nebelwand.

»Ich brauch deine Hilfe. Ich hab mich nämlich verirrt, weißt du? Also zeig dich doch bitte«, bettelte ich weiter und zwang mich wieder aufzustehen, obwohl mir vor Schmerzen kurz schwarz vor Augen wurde. Schwer atmend stand ich da und lauschte.

Es war still, aber dann … heulte er wieder und es klang viel näher. Irgendwo nicht weit vor mir musste er sein. Doch wieso kam er nicht zu mir? Oder wollte er vielleicht, dass ich ihm folgte? Ich humpelte langsam ein paar Schritte in die Richtung, aus der das Heulen kam. Es verstummte.

»Heul weiter! Bitte! Ich versuch ja, zu dir zu kommen, aber das ist nicht so einfach.«

Warum ich mit einem Mal so sicher war, dass er mich wirklich in die richtige Richtung führen würde, konnte ich nicht sagen, aber ich folgte ihm, ohne zu zögern, auch wenn ich wegen der Schmerzen nur langsam vorwärtskam. Außerdem hatte ich die ganze Zeit Angst, ihn zu verlieren. Aber so unglaublich es auch war, er schien sich meiner langsamen Art der Fortbewegung anzupassen. Ich bekam ihn nicht zu Gesicht, doch immer, wenn ich nach ihm rief, kam sofort sein Heulen aus dem Nebel direkt vor mir.

Allmählich wurde es immer dunkler. Nicht mehr lange und ich würde gar nichts mehr sehen können. Ich hätte mich beeilen müssen, aber mein Fuß tat so entsetzlich weh, dass ich eine Pause machen musste. Zähneklappernd ließ ich mich gegen einen dicken Stamm sinken. Nein, ich konnte nicht mehr weiter. Auf keinen Fall. Ich war so müde und die Schmerzen … Ich spürte, wie meine Lider schwer wurden. Nur kurz die Augen zumachen …

 

Ich riss sie wieder auf. Nein, ich durfte unter keinen Umständen hier einschlafen. Ich lauschte, aber um mich herum war alles still. Der Wolf war verstummt, als ich stehen geblieben war. Ich rief nach ihm. Doch diesmal antwortete er nicht.

»Wolf?«

Nichts.

Wieder das panische Gefühl. Er war doch nicht ohne mich weitergegangen?

»Hallo? Hörst du mich?«, schrie ich verzweifelt. Er konnte mich nicht im Stich gelassen haben. Nicht jetzt. Nicht mein Wolf.

»Heul weiter!«, flehte ich. »Bitte, hilf mir doch!«

»Celia? Celia, bist du das?«

Mein Herz machte vor Erleichterung einen regelrechten Sprung. »Ja. Hier! Ich bin hier!«, schrie ich und meine Stimme klang völlig hysterisch.

Es folgte ein leises Knacken und dann tauchte er vor mir im Nebel auf.

Als Cassian sich neben mich kniete, fiel ich ihm um den Hals. Er setzte sich zu mir, zog mich an sich und während ich vor Kälte und Erschöpfung am ganzen Körper zitterte und wie ein Schlosshund heulte, strich er mir beruhigend über den Rücken. In diesem Augenblick war es vollkommen egal, dass mich der Schulcasanova im Arm hielt und ich ihm die Jacke vollheulte. Er war einfach nur meine Rettung. Alles war gut.

»Bist du okay?«, erkundigte er sich, als ich mich wieder beruhigt hatte.

Ich nickte und mir wurde bewusst, dass ich schlimm aussehen musste. Verheult, nass und mit Schlamm bespritzt. Verlegen fuhr ich mir mit dem Ärmel über das Gesicht.

»Sorry mit deiner Jacke«, murmelte ich. Dank mir war auch seine Lederjacke inzwischen völlig verdreckt.

»Spinnst du? Das ist doch vollkommen egal.« Er zog sie aus und legte sie mir um.

»Danke.«

»Was ist denn überhaupt passiert?«

»Mein Knöchel ist im Eimer. Ich bin beim Joggen über diese blöde Wurzel gestolpert und … mir fehlen eben deine tollen Reflexe«, versuchte ich zu witzeln, aber ich wusste, dass es furchtbar kläglich klang.

Erschreckt keuchte ich auf, weil ich unerwartet angehoben wurde. Während er aufstand, legte ich automatisch meine Hände um seinen Nacken, um mich festzuhalten. Eigentlich wollte ich protestieren, doch er kam mir zuvor.

»Ist bestimmt besser, wenn du dein Bein erst mal nicht mehr belastet, bis wir wissen, was damit ist.«

»Aber du kannst mich doch nicht tragen. Ich bin viel zu schwer.«

Er grinste. »Bist du nicht.«

Nein, offensichtlich machte ihm mein Gewicht tatsächlich nichts aus. Immerhin war er ohne Schwierigkeiten mit mir auf dem Arm aus der Hocke aufgestanden und auch jetzt schien ich ihm keine Mühe zu bereiten. Also klappte ich meinen Mund wieder zu, denn ich war wirklich froh, hier wegzukommen. Er konnte mich ja immer noch absetzen, wenn ich zu schwer wurde.

Wie bei unserem letzten »Spaziergang« hatte er auch diesmal kein Problem damit, dass es beinahe dunkel war. Auch der Nebel schien ihn nicht zu irritieren und für ihn war es anscheinend überhaupt vollkommen normal, mit mir auf dem Arm durch den Wald zu marschieren. Aber ich kam mir komisch dabei vor. Es war beinahe wie in diesen kitschigen Romanen, die Grandma hin und wieder las. Der Lord rettet das arme Mädchen aus großer Gefahr und trägt sie auf seinen Armen davon. Aber Cassian war kein Lord und ich kein armes Mädchen und es hatte einen praktischen Grund, weshalb er mich durch den Wald schleppte.

Dass er mich zu sich nach Hause gebracht hatte, konnte ich zwar nicht sehen, aber ich hörte es, weil die Eingangstür wieder dieses unangenehme Quietschen von sich gab. Drinnen war es genauso dunkel, aber ich fühlte, dass er mich auf etwas Weichem absetzte. Es raschelte kurz, dann flammte ein warmes Licht auf und ich konnte erkennen, dass ich wieder in dem Sessel vor dem Kamin saß.

»Du solltest doch mal einen Elektriker anrufen«, murmelte ich, während er die Kerzen in dem altmodischen Leuchter anzündete.

»Vielleicht sollte ich das wirklich.« Er lächelte. »Aber erst sehe ich mir mal dein Bein an.«

Es war eigenartig, ihn vor mir niederknien zu sehen. Er krempelte mein Hosenbein hoch und öffnete die Schnürsenkel, bevor er behutsam meinen Turnschuh vom Fuß schob und genauso vorsichtig meine Socke auszog. So wie er das tat, schien er sich mit Verletzungen auszukennen. Er legte seine Hand auf meinen Knöchel und es fühlte sich wunderbar kühl an.

»Denkst du, er ist gebrochen?«

Cassian reagierte nicht und als ich ihn ansah, wirkte er seltsam abwesend, wie er so dasaß und meinen Fuß festhielt.

»Cassian?«

Er schreckte auf. »Was? Ähm, ich denke nicht. Oder tut das weh?«

Vorsichtshalber hielt ich die Luft an, als er das Gelenk abtastete, aber selbst als er meinen Fuß leicht hin und her bewegte, fühlte ich keine Schmerzen.

»Ich glaube, du hast noch mal Glück gehabt. Er ist nicht dick, also wahrscheinlich bloß verstaucht.« Er klang zufrieden. »Was ist mit deinen Knien?«

Statt einer Antwort zog ich auch mein anderes Hosenbein hoch. Er stand auf, ging zu dem Holzschränkchen, auf dem eine große graue Mappe lag, öffnete die Schublade und holte eine kleine Flasche und Wattepads heraus.

»Das wird jetzt etwas brennen«, warnte er, kniete sich wieder hin und gab etwas aus der Flasche auf eines der Pads. Dem Geruch nach war es Jod und so fühlte es sich auch an. Ich biss mir auf die Lippen.

Nachdem er auch alle anderen Wunden verarztet hatte, erhob er sich und stellte das Fläschchen zurück.

»Danke«, bibberte ich, denn noch immer klebten die nassen Sachen unangenehm kalt an meinem Körper. Am liebsten hätte ich sie ausgezogen, allerdings gab es da ein Problem.

Cassian grinste. »Du kannst hier baden, wenn du willst. Ich meine, falls es dich nicht stört, was von mir anzuziehen?«

Mich stören? Machte er Witze? Gut, dass er nicht wusste, dass seine Lederjacke schon in meinem Bett übernachtet hatte.

Laut sagte ich nur: »Wird wahrscheinlich etwas groß sein, aber das wäre klasse. Danke.«

»Komm. Ich zeig dir, wo das Badezimmer ist.« Er war schon an der Tür und ich stand auf, um ihm zu folgen. Doch dann schnappte ich erschrocken nach Luft und hob automatisch meinen linken Fuß an.

Mein Knöchel. Ich hatte ihn vollkommen vergessen, aber eigenartigerweise hatte es beim Auftreten gar nicht wehgetan. Vorsichtig probierte ich es noch einmal. Es war alles in Ordnung. Überhaupt keine Schmerzen mehr. Aber wie konnte das sein?

»Vielleicht hat sich der Fuß ja irgendwie wieder eingerenkt«, suchte Cassian nach einer Erklärung, während wir die Treppe hinaufstiegen und ich mich noch immer über meine eigenartige Spontanheilung wunderte.

»Möglich«, murmelte ich wenig überzeugt. Einrenken war schmerzhaft. Ich hatte einmal mitbekommen, wie Coach Meyer Tylers ausgekugelte Schulter wieder eingerenkt hatte, und ich konnte mich nicht erinnern, eben vor Schmerzen geschrien zu haben. Doch eigentlich war es auch egal. Hauptsache, es tat nicht mehr weh.

Inzwischen waren wir im Obergeschoss angekommen. Hier gab es drei Türen. Er öffnete gleich die erste.

»Ich hoffe, es ist in Ordnung für dich«, entschuldigte er die altmodische Einrichtung des Badezimmers. Er zeigte mir, wo ich Handtücher fand, dann ließ er mich allein.

Während das heiße Wasser in die Wanne lief, sah ich mich in dem kleinen Bad um. Wie das ganze Haus hätte auch dieser Raum dringend eine Renovierung nötig gehabt. Aber auch wenn nicht mehr alle Kacheln an den Stellen waren, an die sie eigentlich gehörten, war es dennoch aufgeräumt und blitzblank. Wahrscheinlich hatte Cassians Onkel jemanden eingestellt, der sich um alles kümmerte.

Ich nahm das Duschgel vom Badewannenrand und schnupperte daran. Es duftete eindeutig männlich, aber es war nicht ganz Cassians Geruch. Er roch viel besser.

Nachdem ich probeweise meine Zehenspitzen in das Badewasser eingetaucht und die Temperatur für angenehm befunden hatte, sank auch der Rest von mir in die Wanne. Die Abschürfungen an meinen Handflächen und Knien brannten scheußlich, also zog ich schnell wieder die Beine an und legte meine Hände auf den Badewannenrand. So war es erträglich. Ich schloss die Augen und als sich meine verkrampften Muskeln endlich entspannten, seufzte ich selig. Aus diesem Traum aus heißem Schaum wollte ich nie wieder auftauchen.

Aber ich war ja hier nur zu Besuch, also beeilte ich mich und bevor ich die Badewanne endgültig verließ, drehte ich noch den Hahn für die Brause auf und spülte mir den Rest Schlamm aus den Haaren. Als ich mit dem Abtrocknen fertig war, stellte ich fest, dass ich noch immer nichts Sauberes zum Anziehen hatte. Also schnappte ich mir erneut das riesige Handtuch und wickelte mich darin ein. Das musste erst einmal genügen.

Ich sammelte meine schmutzigen Sachen auf und legte sie sorgfältig auf einen Haufen, dann setzte ich mich auf den Badewannenrand und spülte mit der Brause den Schaum in den Abfluss. Dabei sah ich zufällig in den Spiegel über dem Waschbecken und hätte vor Schreck fast die Brause fallen gelassen.

Cassian! Er stand hinter mir in der Tür. Ich sprang auf.

»Himmel«, stöhnte ich und mir wurde peinlich bewusst, dass ich nichts weiter als ein Handtuch trug. »Musst du mich so erschrecken?«

»Entschuldige.« Er hatte zumindest so viel Anstand, nicht auf das Handtuch zu starren, sondern sah mir ins Gesicht. »Ich habe das Wasser gehört und dachte, du wärst fertig. Aber du hast wohl mein Klopfen nicht mitgekriegt.«

»Nein. Habe ich nicht.« Ich drehte den Wasserhahn zu und hängte die Brause zurück in die Vorrichtung und als ich mich wieder umdrehte, bemerkte ich erst den Stapel mit Kleidung auf seinem Arm.

»Danke.« Ich nahm ihm die Sachen ab.

»Falls du noch was brauchst. Ich bin unten.« Er schloss die Tür hinter sich.

Unschlüssig starrte ich auf die Shorts, die Sportsocken, das graue Sweatshirt und die Jogginghose in meiner Hand. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Sein unerwartetes Auftauchen hatte mich zwar erschreckt, aber beunruhigender war sein Gesichtsausdruck gewesen. Ich hatte es im Spiegel ganz deutlich gesehen. Er hatte richtig geschockt gewirkt. Aber wieso?

Nervös begutachtete ich mein Spiegelbild. Nein. Alles vollkommen normal. Meine Wangen waren leicht gerötet, aber sonst? Jedenfalls sah ich jetzt mit Sicherheit weniger schlimm aus als zuvor mit meiner »Schlammpackung«. Und das hatte ihn doch auch nicht gestört. Also konnte es nicht an mir liegen. Aber was hatte ihn dann so beunruhigt?

Als ich ins Wohnzimmer kam, schlug mir angenehme Wärme entgegen. Cassian hockte vor dem Kamin und legte neue Holzscheite nach.

»Warum hast du eigentlich gerade so komisch geguckt?«

Ich stellte mich neben ihn und sah zu, wie sich die Flammen züngelnd in die Scheite fraßen, bis alles lichterloh brannte und mich die Hitze zurückweichen ließ.

»Komisch geguckt?«

»Ja.«

»Wann?«

»Eben. Im Badezimmer. Du hast ausgesehen, als hättest du einen Geist gesehen.«

Er erhob sich. »Dieses Haus ist zwar alt, aber ich bin sicher, dass es hier nicht spukt.«

»Haha, sehr witzig.« Ich wollte eine vernünftige Antwort. »Gut, wenn es also kein Gespenst war, was hat dich dann so erschreckt?«

»Mich hat nichts erschreckt.«

»Doch, da muss aber was gewesen sein«, beharrte ich.

Er seufzte. »Das ist doch Quatsch. Über was bitte sollte ich im Badezimmer schockiert gewesen sein? Noch dazu, wo sich mir ein so netter Anblick geboten hat.« Er lächelte und ich wurde unter seinem anzüglichen Blick rot. So wie er das sagte, klang meine Behauptung tatsächlich ziemlich unsinnig. Badezimmer waren in den seltensten Fällen besorgniserregend. Allerdings wusste ich auch, was ich im Spiegel gesehen hatte.

»Ich könnte jetzt einen Tee gebrauchen. Wie steht’s mit dir?«

Er wartete meine Antwort gar nicht erst ab, sondern war schon mit einem »Kann aber etwas dauern« aus dem Wohnzimmer verschwunden und ließ mich allein mit meiner unbeantworteten Frage zurück.

Trotz der Wärme, die der Kamin inzwischen verbreitete, fror ich wieder. Vielleicht war der Tee ja gar keine so schlechte Idee. Ich hockte mich auf das Sofa und griff nach der Decke, die dort lag.

 

Offenbar musste ich eingedöst sein, denn erst eine Bewegung neben mir schreckte mich auf. Cassian hatte sich zu mir auf das Sofa gesetzt und hielt mir eine Tasse hin, aus der eine dampfende, aromatische Wolke aufstieg.

»Ich war auf einmal so müde«, nuschelte ich verlegen, wurschtelte meine Hand unter der Decke hervor und nahm ihm die Tasse ab, die er mir hinhielt. Vorsichtig, um mir nicht die Zunge zu verbrennen, probierte ich erst nur einen winzigen Schluck.

»Schmeckt gut. Was ist das?« Mir fiel ein, dass ich ihn so etwas schon einmal gefragt hatte. War es wirklich klug, das zu trinken? Vielleicht waren es wieder Drogen? Andererseits wusste ich ja gar nicht, ob er mir tatsächlich welche gegeben hatte.

»Kräutertee. Ich habe ihn aus dem kleinen Laden in der Mill Street. Ich hoffe, du magst ihn ohne Zucker. Ich hab nämlich keinen.«

Oh ja, Kräutertee aus dem Laden der alten Mrs. Marley war wirklich höchst illegal. Mann, ich war ja so dämlich und das nicht zum ersten Mal. Er war nett und hilfsbereit und ich unterstellte ihm andauernd irgendwelche komischen Sachen. Anscheinend war ich diejenige, die in Wahrheit die Gespenster sah.

»Macht nichts. Er ist super so«, beeilte ich mich zu sagen, aber schon sprudelte die nächste Frage aus mir heraus. »Wie hast du ihn eigentlich gekocht? Ich meine, wegen deines Elektrizitätsproblems?«

»Es gibt einen alten Herd in der Küche. Den kann man mit Holz heizen, aber das hat leider etwas gedauert, bis ich ihn angefeuert hatte. Ich habe heut Abend einfach nicht mit Besuch gerechnet.«

»Und ich hatte eigentlich auch nicht vor, dich zu besuchen«, schwindelte ich. Hoffentlich hatte er nicht doch hinter der Haustür gestanden.

»Ich wollte joggen«, setzte ich schnell hinzu, obwohl er das ja bereits mitbekommen hatte. »Ich meine, ich wollte den Weg schon beim letzten Mal ausprobieren, aber da ist mir ja was dazwischengekommen.« Das klang doch ganz plausibel.

»Aha.«

Ich konnte nicht heraushören, ob er mir glaubte, darum fragte ich schnell: »Weshalb warst du eigentlich im Wald?«

»Ich habe Anzündholz für den Kamin gesammelt.«

»Da hatte ich wohl echt Glück. Ich habe schon gedacht, ich müsste die ganze Nacht im Wald verbringen«, seufzte ich. »Und wenn nicht der Wolf …« Davon musste er nichts wissen.

»Du hast einen Wolf im Wald gesehen?«

»Nicht direkt.«

»Aber du hast doch gerade gesagt …«

»Ja, schon. Ich meine … Nein. Ich habe ihn nicht gesehen, nur gehört.« Mehr würde ich bestimmt nicht sagen. Sonst dachte er noch, ich wäre verrückt.

»Gehört?«

Ich trank einen Schluck Tee, um Zeit zu gewinnen.

Aber er ließ nicht locker. »Wie hast du das gemeint, du hast ihn nur gehört?«

»Er hat geheult. Ist doch nicht so wichtig.«

»Doch, ist es. Sonst hättest du es nicht erwähnt, oder?«

»Ich möchte aber nicht darüber reden.«

»Warum nicht?«

Anscheinend spielten wir schon wieder unser Verhörspiel und er war wieder mal der Sheriff.

»Darum! Könnten wir das jetzt bitte lassen?«

»Nein.«

»Was?«

»Nein. Ich würde nämlich gerne wissen, was da draußen passiert ist.«

»Und ich sagte schon, dass ich nicht darüber reden werde«, wiederholte ich genervt.

»Und warum willst du nicht darüber reden?«

Ich atmete tief durch. »Weil du mir sowieso nicht glauben würdest.«

»Würde ich nicht?« Er hob eine Augenbraue.

»Nein.«

»Aber das kannst du doch nicht wissen.«

»Doch.«

»Was hältst du davon, es einfach zu versuchen?«

Ich antwortete ihm nicht.

»Du bist doch sonst so mutig.« Seine Stimme klang jetzt ganz sanft. »Wieso diesmal nicht?«

Ich war nicht mutig. Schon gar nicht in dieser Sache und ich hatte keine Ahnung, warum ich irgendwann doch nachgab. Er würde sich über mich totlachen, so viel stand fest.

Darum wagte ich auch nicht, ihn anzusehen, als ich mit meiner Geschichte fertig war. Ich nippte lieber an meinem Tee und starrte danach die Tasse an, als wäre sie etwas ganz Außergewöhnliches. Dabei hatte sie bloß einen Sprung. Mit meinem Zeigefinger malte ich den winzigen Riss nach, während ich auf seine ungläubige Reaktion wartete.

»Und du denkst, dass der Wolf dich heute durch sein Heulen geführt hat, weil er dir schon einmal geholfen hat?« Bisher hatte er nicht gelacht und auch jetzt klang er weder spöttisch noch so, als würde er an meiner Zurechnungsfähigkeit zweifeln.

»Ja.« Ich hob den Kopf und begegnete seinem Blick. Die kleinen dunkelgrünen Pünktchen in seinen Augen … warum hatte ich sie eigentlich nicht schon vorher bemerkt?

»Erzählst du mir von … von deinem Wolf? Ich meine, als du ihm das erste Mal begegnet bist?«

Nur widerwillig löste ich meinen Blick von dem Grün und betrachtete sein Gesicht im Ganzen. Er sah wirklich nicht so aus, als würde er sich auf meine Kosten amüsieren. Sein Gesichtsausdruck war nur interessiert. Doch ich zögerte. War das vielleicht nur ein Trick? Ich verspürte absolut keine Lust, dass meine Geschichte am Montag in der ganzen Schule die Runde machte. Sogar Mum und Dad waren der Ansicht gewesen, ich hätte mir das alles nur eingebildet. Wie sollte mir da ein Fremder glauben?

Aber er wartete geduldig und schließlich seufzte ich. Was spielte es schon für eine Rolle, wenn er mich für geistesgestört hielt?

»Wir wohnten an einem Fluss …«, begann ich zögernd und schloss die Augen. »Es war ein paar Tage vor meinem siebten Geburtstag und ich spielte mit meiner besten Freundin Sally in unserem Garten. Mein roter Ball sauste durch die Luft auf Sally zu. Sie konnte ihn nicht fangen und so flog er über den Zaun und rollte den Hang hinunter. Er fiel nicht in den Fluss, sondern wurde von einem Ast gebremst, der auf dem schmalen Uferstück lag. Ohne zu überlegen, lief ich los und kletterte über den Zaun. Ich versuchte die steile Böschung runterzukommen und hörte die ganze Zeit Sallys Rufe. Sie wollte nicht, dass ich das tat, denn sie wusste, wie gefährlich es war. Meine Eltern hatten uns immer wieder gewarnt.« Ich schluckte. »Es kam, wie es kommen musste, ich rutschte auf dem schneebedeckten Hang ab und kullerte nach unten. Sallys Schreie waren das Letzte, was ich hörte, ehe ich auf das eisige Wasser aufschlug. Selbst wenn ich schwimmen gekonnt hätte, die Kälte lähmte mich sofort. Außerdem war die Strömung viel zu stark. Sie riss mich mit sich und ich ging unter.«

Ich schauderte und öffnete wieder meine Augen, sah Cassian aber nicht an.

»Er war im Wasser. Der Wolf. Er hat mich gepackt. Ich habe seine Zähne und Krallen gespürt, bevor ich das Bewusstsein verlor. Er muss mich irgendwie zum Ufer gezogen haben, denn als ich aufgewacht bin, war er immer noch bei mir. Er hat mir mit seiner rauen Zunge übers Gesicht geleckt und es hat schrecklich gekitzelt. Ich musste lachen. Aber vorher hat er gewinselt, ich meine, bevor ich die Augen aufgemacht habe. Ich glaube, er hatte Angst um mich.« Ich holte tief Luft. »Er hat mir das Leben gerettet. Und egal, was alle sagen, ich habe ihn mir nicht eingebildet. Er war da!« Die letzten Worte kamen fast trotzig und diesmal sah ich ihn herausfordernd an, bereit für seinen Spott.

Doch seine Miene war unverändert, weder überrascht noch ungläubig, nur aufmerksam. »Deine Eltern haben dir nicht geglaubt?« Auch sein Ton war vollkommen sachlich.

Ich nickte. »Er ist weggelaufen, als er sie gehört hat. Und sie nahmen einfach an, ich hätte Glück gehabt und wäre durch die Strömung ans Ufer gespült worden. Ich hatte sogar Verletzungen von seinen Krallen, aber der Arzt im Krankhaus hat nur gemeint, ich hätte sie von dem Sturz. Er hat meinen Eltern gesagt, ich würde den Unfall mithilfe meiner Fantasie verarbeiten und hätte den Wolf deshalb erfunden.« Ich verzog mein Gesicht. »Und du denkst jetzt bestimmt auch, ich spinne, nicht?«

Zu meiner Überraschung schüttelte er den Kopf. »Du machst auf mich einen ziemlich normalen Eindruck.«