Märchenhaft - Elisabeth

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»Echt? Na, dann lass uns!«

»Fein ...« Elisabeth konnte kaum fassen, welche Wendungen dieser Abend nahm. Sie hielt aber aus einem anderen Grund kurz inne. »Hm. Rein logistisch stellt sich mir gerade die Frage, wie wir das am geschicktesten angehen. Ich komme auf dem Weg zur Skihalle an zu Hause vorbei und könnte meine Sachen holen. Du hast gerade angedeutet, dass du hier in der Nähe wohnst, ich könnte dich mitnehmen und nachher zurückbringen.«

»Ja, ich wohne hier um die Ecke. Ich schlage vor, dass du zu dir fährst, deine Sachen packst und ich sammle dich ein, später bringe dich auf meinem Heimweg wieder zurück. Wesentlich effizienter.«

»Wenn es dir keine Umstände macht ...« Ihre Hand lag immer noch in seiner und er blickte ihr tief in die Augen. Elisabeth begann, vorsichtig über seine Finger zu streichen. Hätte mir am Morgen jemand gesagt, dass ich heute Abend händchenhaltend mit Moritz aus dem Café spazieren würde, wäre ich in schallendes Gelächter ausgebrochen und hätte denjenigen zwangseinweisen lassen.

»Mein Auto steht direkt hier.« Sie hielt vor ihrem weißen Yeti und deutete darauf. »Soll ich dich irgendwo absetzen?«

»Nein, vielen Dank. Ich habe es wirklich nicht weit und werde den Weg gleich für ein Telefonat mit Markus nutzen. Wohnst du noch in dem Haus von damals?«

Elisabeth hatte die Kollegen aus der Abteilungsleiterrunde vor einem Jahr zum Grillen bei sich eingeladen und war erstaunt gewesen, dass auch Moritz trotz der Querelen gekommen war. Im Nachgang erklärte sich ihr Einiges.

»Ja, hast du die Adresse?«

»Nicht ganz, aber ich weiß den Weg noch. Für irgendwas muss ein nahezu fotografisches Gedächtnis ja gut sein.«

»Na dann ...«, zwinkerte sie ihm zu.

Dass er ein atemberaubendes Gedächtnis hatte, war in der Firma legendär. Moritz hatte damals mit seinem Kollegen die Büros getauscht, da er unbedingt Nummer 131 haben wollte. Er hatte zunächst ein Geheimnis darum gemacht, aber wie sich herausstellte, war diese Zahl das Ergebnis seines Intelligenz-Tests bei MENSA.

»Ich habe übrigens auch immer noch dieselbe Handynummer!«

»Gut. Falls ich mich verfahre, rufe ich dich an.« Er gab ihr einen Kuss auf die Wange, vielmehr war es ein Hauch von einem Kuss, viel zu schnell vorbei und kaum da gewesen.

»Dann bis gleich.« Elisabeth fasste sich ein Herz und zog noch einmal kurz an Moritz’ Handgelenk, um ihn zurückzuholen.

»Ja?«, fragte er, als hätte sie ihn gerufen. Doch da spürte er bereits ihre sanften, warmen Lippen auf seinen, flüchtig und fragil.

Im nächsten Moment ließ sie seine Hand los und drehte sich zum Auto, winkte ihm zu. »Fahr vorsichtig!«, rief sie noch und schon war sie weg.

»Nicht zu fassen«, lachte Markus Bruckmann.

»Ich bin auch irgendwie ... völlig durch den Wind«, entgegnete Moritz und nahm das Handy ans andere Ohr, um mit der Hand nach seiner Schlüsselkarte zu fischen. »Aber ruf sie jetzt bloß nicht an. Und sei lieb zu ihr!«

»Das bin ich immer!«, antwortete Markus und verabschiedete seinen Freund. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Die Erinnerung an den Flugzeugabsturz von Elisabeths Mann ließ es ihm schwer ums Herz werden. Ihr Verhalten hatte ihn damals beinahe aus der Fassung gebracht. Zu Lebzeiten hatte er ihn für ihre Geißel gehalten. Zwar relativierte er nach Jans Tod seine Aussage, ließ Elisabeth aber wissen, dass sie ohne ihn besser gestellt sei; die vielen Male, als er unter ihrem Make-up noch die Spuren der Tränen erkannt hatte, so oft, wie sie in ihrem Büro die Tür geschlossen und er den Streit am Telefon trotzdem hatte mithören können. Und das seltsame Verhalten ihres Mannes, wenn er sie hin und wieder abgeholt hatte. Ein Paar, das weder auf den ersten, noch auf den zweiten Blick zusammengepasst hatte.

Auch wenn Trauer mitunter seltsame Kapriolen schlug; ihr pragmatischer Umgang damit hatte ihn hilflos werden lassen und hielt ihn nach wie vor davon ab, seine eigenen Gefühle für sie genauer zu erforschen. Es wunderte ihn indes, dass sie in der Arbeit immer noch ihre Erfüllung sah und weitermachte, als sei nie etwas gewesen. Er fragte sich und sie, warum sie nicht die Zahlungen der Versicherungen für ein sorgenfreies Leben nutzte, statt sich in der Firma aufzureiben. Außerdem erhielt sie beträchtliche Erlöse aus den Patenten, die ihr Mann angemeldet und ihr vererbt hatte. So oder so könnte sie also ihre Zeit den schönen Dingen des Lebens widmen. Eine Antwort war sie ihm immer noch schuldig. Er beließ es aber dabei; Frauen waren ihm ohnehin ein Mysterium und Elisabeth für ihn nicht erst seit dem Gespräch mit Moritz gerade unantastbar.

Als sie auf der Autobahn war, schauderte sie. Mit einem Mal war sie völlig fassungslos über sich selbst, die Situation und vor allem über ihre Gefühle. Moritz, von allen Männern dieser Welt, ausgerechnet Moritz Fürst. Den sie immer für einen arroganten Psychopathen gehalten hatte, einen egozentrischen Sturkopf und gefühllosen Macho. Moritz, den sie nun geküsst hatte. Flüchtig. Aber dessen Lippen sie sich gerade mehr herbeisehnte als alles andere. Und den sie in wenigen Minuten wiedersehen würde.

Das Radio wurde leiser und signalisierte einen Anruf.

»Hey ...« Es war Moritz.

»Hey ...«

»Glaub ja nicht, dass du mir so einfach davonkommst!«

»Womit?«, fragte sie gespielt unsicher, um ihre plötzlich entfachte wahnsinnige Vorfreude auf das Treffen zu überdecken.

»Mich einfach so stehen zu lassen, nachdem du das getan hast.«

»Was hab ich denn getan?«

»Etwas, was du gern öfter tun dürftest.«

»So? Na, gut, dass der Abend noch jung ist.«

»Ich freu mich auf gleich ...«, sagte Moritz. Autsch, das war direkt ...

»Ich mich auch ...«, antwortete sie. Na toll, jetzt hast du dich verraten. Wobei ... ist das so schlimm?

»Ich schätze, ich bin in neunzehn Minuten bei dir.«

»Oh, dann bist du aber geflogen. Ich biege gerade in die Einfahrt ein. Ich leg jetzt auf. Bis gleich.« Atmen. Atmen nicht vergessen!

Ihre Snowboardsachen lagen im Keller beisammen; im Handumdrehen hatte sie sich umgezogen, war in Turnschuhe geschlüpft und hatte die Boots in die Tasche gelegt. Sie stürzte ein Red Bull in sich hinein, band sich die Haare zusammen und hörte kurz Maries Nachricht auf der Mailbox ab. Sebastian hätte sich bei ihr gemeldet, er hätte es sich anders überlegt; ob sie Elisabeth ausrichten könnte, dass er nicht zum Date käme.

Immerhin ehrlich, dachte sich Elisabeth. Aber es war ihr ohnehin egal. Sie wunderte sich nur, warum Marie ihr die Nachricht auf dem Anrufbeantworter vom Festnetz hinterlassen hatte, nicht auf dem Handy. In diesem Moment konnte sie ein Paar Scheinwerfer durch die kleinen Glaselemente in der Haustür sehen. Als sie kurz hinausblickte, erkannte sie den Landrover, den Moritz auch damals schon gefahren hatte, und öffnete die Haustür.

Er stieg aus und nahm ihr das Board und die Tasche ab, um beides im Kofferraum zu verstauen, dann zupfte er am Ärmel ihrer Fleecejacke. »Da ist aber jemand warm angezogen. Es sind 21 Grad, werte Dame. Wo willst du hin?«

Sie zupfte am Ärmel seines Kapuzenpullovers und bemerkte ganz nebenbei, dass ihn der sportive Look ziemlich reizvoll aussehen ließ.

»Hm, ich dachte mir, dass man Anfang Juni einfach mal eine Runde Snowboard fahren könnte, freitagabends, wenn die Flirtwilligen von der Piste zum Aprés-Ski übergegangen sind und man die Halle für sich allein hat. Und du?«

»Ist ja irre, ich hatte gerade dieselbe Idee. Komm doch mit mir mit ...« Beide grinsten und sahen einander an, wie albern sie waren; es störte sie aber nicht im Geringsten.

An den Bändern seiner Kapuze zog sie ihn etwas näher zu sich, angelehnt an die Ladekante des Geländewagens und in Turnschuhen war er gute anderthalb Köpfe größer als sie. Sie warf einen Blick in den Kofferraum und entdeckte ein weiteres Snowboard mit Zubehör.

»Hast du mich nicht vorhin gefragt, ob ich Ski fahre?«

»Ja, hab ich. Aber das indizierte nicht, dass ich nicht Snowboard fahre.«

»Heißt also, dass du gedacht hast, dass ich, wenn ich überhaupt wintersportaffin bin, dann eher so ein Skihasi wäre?«

»Ja, ich muss gestehen, dass Snowboard jetzt nicht die erste Assoziation gewesen ist. Aber umso besser. Auf Skiern mache ich nämlich auch eine richtig schlechte Figur.«

»Können wir endlich los oder küsst du mich vielleicht vorher noch?« Elisabeth zog einen Schmollmund und zwinkerte ihm zu.

»Aber nur gaaaanz kurz, bevor ich auf den Geschmack komme und wir den Abend noch ein weiteres Mal umplanen ...« Er beugte sich zu ihr herunter, legte seine Arme um sie und gab ihr einen schüchternen Kuss. Seine Lippen waren so wunderbar süß und warm, dass Elisabeth weiche Knie bekam. Mit der Nase stupste sie ihn an und flüsterte ihm ins Ohr: »Moritz, schaff mich auf die Piste oder ich wechsel das Revier ...«

Verschmitzt grinsend sah er sie an. »Top Gun. Einer meiner Lieblingsfilme. Lass uns lieber fahren, sonst ändere ich die Abendplanung tatsächlich ...«

»Oh, oh ... dann aber schnell jetzt.«

Lachend stiegen sie ein. Während der kurzen Fahrt zur Skihalle nahm Moritz immer wieder Elisabeths Hand und küsste sie darauf. Ohne, dass sie ihn danach gefragt hatte, begann er zu erzählen. Dass er in der Firma gekündigt hatte, um für Danielle da zu sein. Niemand hatte geahnt, dass die Krankheit so tragisch verlaufen würde. Moritz sprach, ähnlich wie Elisabeth, wenn sie über Jans Tod redete, in kurzen, beinahe gelassenen Sätzen. Ein wenig melancholisch wurde er, als er jedoch erläuterte, was nach der Trauerfeier passiert war. Danielles Chef hatte ihn angerufen und um ein Gespräch gebeten. Dabei hatte sich herausgestellt, dass die beiden seit über einem Jahr ein Verhältnis gehabt hatten. Danielle war Amerikanerin und hatte Moritz ziemlich schnell nach ihrem Kennenlernen geheiratet, um ihre Aufenthaltsberechtigung nicht zu verlieren.

 

Mit Peter war sie schon zwei Jahre vor Moritz zusammen gewesen, eigentlich sollte ihr Aufenthalt in Deutschland eine Beziehungspause sein, offenbar hatte sie es aber nicht ohne ihn ausgehalten und versprochen, dafür zu sorgen, dass er nach Deutschland kommen könnte. Peter kam dann zunächst mit einem Arbeitsvisum nach, wurde in der Klinik sogar ihr Chef und damit begann ihr Doppelleben. Anderthalb Jahre waren Moritz und Danielle verheiratet gewesen. Als Krankenschwester hatte sie Schichtdienst gearbeitet, er war häufig lange in der Firma geblieben.

Zeitweise hatten sie sich wenig gesehen, ihm wäre jedoch nie in den Sinn gekommen, dass es Danielle gestört hatte. Warum, wurde ihm klar, als Peter seine Offenbarung geleistet hatte, ohne mit der Wimper zu zucken. Moritz hatte es kaum fassen können, bis Peter ihm schlussendlich als Beweis Bilder von sich und Danielle vorlegte und das Ganze auch noch toppte, indem er Moritz Dokumente zeigte, die belegten, dass Danielle bereits einen Anwalt mit der Scheidung beauftragt hatte.

Seine Frau hatte ihn also belogen und betrogen. Das im Nachhinein zu erfahren hatte ihn noch mehr erschüttert, als ihr Tod. Ihm wurde umso schmerzlicher bewusst, wie sehr er sich in ihr getäuscht hatte. Dass für ihn eine Welt zusammengebrochen war, konnte Elisabeth nur allzu gut nachvollziehen; zu dem plötzlichen Verlust gesellte sich bei Moritz noch der nachträgliche Tiefschlag. Sich danach neu zu orientieren war eine Herausforderung.

Moritz hatte dann einen neuen Job angefangen, kleines Unternehmen, Risikobewertung und -steuerung, ein bisschen Verantwortung, aber irgendwie nicht das, was ihn langfristig reizte. Dennoch war er für den Moment zufrieden, das Gehalt war okay, er konnte sich die Arbeit einigermaßen frei einteilen und hatte einen kurzen Weg ins Büro. Irgendwann würde er wieder etwas anderes machen, aber über das Wann und Wie wollte er sich noch keine Gedanken machen.

Die Skihalle war nahezu leer, es war kurz nach sieben, als sie auf dem Plateau die Boards anschnallten. Moritz stand ihr gegenüber und fuhr auf Elisabeth zu.

»Du fährst goofy?«

Ihm war nicht aufgefallen, dass ihre Bindung konträr zu seiner auf das Board geschraubt war. Jetzt wo sie stand, war aber zu erkennen, dass sie mit dem rechten Bein vorne stand. Ungewöhnlich.

»Ja. Schlimm? Kannst du nicht mit einer Frau den Abend verbringen, die zwar mit beiden Beinen fest auf dem Board steht, aber eben nicht ›regular‹ ist?« Sie kräuselte die Nase.

»Ich weiß nicht, ob ich das kann. Aber ich würde gerne.«

Er fuhr dicht an sie heran und neigte sich vor, um sie zu küssen, allerdings waren die Snowboardhelme im Weg und Moritz traf nur ihre Nasenspitze.

»Na, das üben wir aber noch mal, Herr Fürst«, lachte Elisabeth und knuffte ihn in die Seite.

Moritz hob die Augenbraue und schmunzelte. »Frau Schmidt, ich muss mich dringend noch mal mit Ihrem Chef unterhalten, Sie sind ziemlich aufmüpfig in der letzten Zeit ...«

»Wer als Letzter unten ist, ist ein Verlierer und bekommt das L für Loser auf den Helm geklebt!«, rief Elisabeth, machte einen Sprung mit dem Board und fuhr los. Die Piste war frei und sie konnte in kurzen Schwüngen nahezu direkt hinunterfahren. Aber Moritz war schnell und beherrschte sein Board ziemlich gut, ihr Vorsprung schmolz dahin. Nahezu gleichzeitig schossen sie über die Ziellinie und schnallten die Boards für den Rücktransport nach oben wieder ab.

»Wenn mich nicht alles täuscht, waren wir zeitgleich unten!?«, fragte Moritz. Sein Gesicht war leicht gerötet von der Kälte und er grinste sie an.

»Hm, deine Nose war eher über der Ziellinie, dein Board ist zwar länger als meins, aber soweit ich weiß, ist das kein Kriterium. Das L bekomme dann heute wohl ich.« Die Resignation in ihrem Ausdruck war mehr gespielt als von wahrer Natur. Dennoch ärgerte es Elisabeth, dass Moritz ihr offenbar so minimal überlegen war. Auf dem Transportband nahm er den Helm ab, befestigte ihn an seinem Board und legte beides auf das Band, um dann die wenigen Schritte zu Elisabeth aufzusteigen. »Wir haben jetzt knapp fünf Minuten Zeit ...«

Sie hielt ihr Board im Arm, sah ihn an und wackelte tadelnd mit dem Zeigefinger. »Du weißt schon, dass du dein Board nicht allein lassen solltest?«

»Ja. Ich weiß aber auch, dass ich dich nicht allein lassen sollte ...«

Er gab ihr einen Kuss auf die Wange und legte auch ihr Board ab.

»So, so. Woher weißt du das?«

»Na ja, wissen wäre zu viel gesagt, ich habe da so eine Vermutung ... Du warst verdammt schnell gerade, ich hatte Mühe, dich einzuholen.«

»Hör auf, mir zu schmeicheln! Ich fahre zwar seit einer Ewigkeit Snowboard, aber nicht besonders gut ... Mein letzter Snowboardlehrer meinte, ich hätte einen verdammt miesen Fahrstil und sollte froh sein, dass es in Flensburg keine Punkte für schlechtes Boarden gibt.«

In diesem Moment hielt, wie so häufig, das Transportband an.

Für gewöhnlich war bei laufendem Band die Geräuschkulisse so laut, dass man die Musik aus den Boxen darüber kaum wahrnahm. Jetzt war es still, Elisabeth horchte auf, es lief »Right here waiting« von Richard Marx.

»Steinalt, aber wunderschön«, schmunzelte Moritz. »Aber gut. Dann keine Schmeichelei ...« Er blickte ihr tief in die Augen, in der Klarheit seiner grau-blauen Iris war Elisabeth innerhalb eines Sekundenbruchteils versunken. Als er sie zu sich heranzog, schlug ihr Herz schneller. Wieder berührten sich ihre Lippen, diesmal jedoch durften sie endlich ungehindert miteinander spielen und sich necken. Elisabeth verspürte plötzlich einen Anflug von Erregung und ließ sich von Moritz’ liebevoller Hingabe mitreißen. Sie erwiderte die Leidenschaft und die Zuneigung, die sie überkam und vergaß die Welt um sich herum.

»Achtung, das Förderband startet jetzt.«

Geweckt von der Durchsage ließen sie kurz voneinander ab, das Band ruckelte auf und zog sie dann wieder gemächlich den Anstieg hoch.

»Seltsamer Ort für einen so schönen ersten Kuss ...« Moritz klang fast entschuldigend.

»Hm ... Besser als ein schöner Ort für einen seltsamen ersten Kuss ...« Elisabeth fragte sich, ob sie noch ganz bei Verstand war. »Was rede ich da? Du machst mich ganz wirr.«

»Immer wieder gern ...«, grinste Moritz frech und küsste sie dafür umso sanfter.

Der Ausstieg war stark vereist und sie rutschten auf den ausgelegten Gummimatten weg. Moritz konnte sich gerade noch fangen, aber Elisabeth schlug es mitsamt Board zu Boden. Sie fiel auf das linke Knie, ihr Brett schlug ihr gegen den Helm und den Unterarm. Moritz warf sein Board in den Schnee und half ihr auf.

»Hast du dir sehr wehgetan?«

»Mein Knie schmerzt höllisch, um bei unserem Leitmotiv zu bleiben ...« Sie stapfte durch den Schnee an den Rand der Piste, um den Ausstieg nicht zu blockieren. Den Helm legte sie beiseite und zog die Handschuhe aus.

Moritz hatte ihr Board getragen und es nun sicher abgelegt, ein Skifahrer fragte, ob er helfen könne, Elisabeth lehnte dankend ab.

»Eigentlich halte ich ja nicht viel von Stockträgern«, schmunzelte sie, »aber hier in der Halle ist das irgendwie anders als in den Skigebieten. Kollegialer ...«

»Na, wenn du gerade keine anderen Sorgen hast ... Oder redest du immer noch wirr?« Er sah besorgt auf ihr Knie. »Willst du nicht nachschauen?«

»Was soll ich mir da ansehen? Ich tippe auf Schürfwunde und Bluterguss. Nichts, was nicht innerhalb von zwei Wochen verheilt wäre.«

»Klingt, als wäre das nicht dein erster Sturz hier gewesen?«

»Ich glaube, der Dritte. Diesen dämlichen Matten sieht man nie an, ob sie gerade rutschig sind oder fest ...«

Elisabeth hatte entgegen ihrer Ansage das Hosenbein hochgeschoben und besah ihr Knie. »Was für ein wunderbares Farbenspiel ... Morgen sieht es aus wie abstrakte Kunst.«

Moritz zog seine Handschuhe aus und öffnete seine Jacke. Er warf einen Blick auf die Verletzung und erschrak.

»Du blutest übrigens.«

»Halb so wild.« Elisabeth tupfte kurz mit einem Taschentuch darüber und schob das Hosenbein wieder runter. »So. Weiter geht’s!«

Moritz lief die wenigen Schritte zu den Boards, um sie zu holen. »Okay. Ich ändere meine Aussage von vorhin. Du bist nicht niedlich, du bist krass.«

»Krass? Ich hätte nicht gedacht, dass das Wort in deinem Wortschatz existiert ...«

»Entschuldige bitte, ich lebe in Eschberg, nicht hinter dem Mond. Nur, weil wir in der Firma nicht so geredet haben ...«

Er legte die Bretter zwischen sich und Elisabeth ab, damit sie nicht wegrutschen konnten.

»Schon okay.« Elisabeth grinste. Immer deutlicher erkannte sie nicht nur die Konturen, sondern den ganzen echten Moritz. »Komm her und gib mir einen Heilungskuss!«

»Aber natürlich, Eure Krassheit!«, entgegnete er, grinste und kniete sich vor ihr in den Schnee.

»Grrrr ... Nenn mich bitte nicht so ... Sooo krass bin ich gar nicht ...«

»Na gut, Eure Nicht-Sooooo-Krassheit!« Moritz hatte eine diebische Freude daran, sie zu aufzuziehen.

»Pfffft ... Dann halt kein Kuss. Wer so frech ist wie du, wird nicht auch noch belohnt!« Sie streckte ihm die Zunge raus, lachte und warf ihm einen Schneeball ins Gesicht.

»Fragt sich, wer hier frech ist ...«, rief er zurück und warf ihr ebenfalls eine Handvoll Pulverschnee entgegen.

»Gut. Wenn ich Eure Krassheit bin, bist du Eure Frechheit. Punkt.«

Moritz schmunzelte und stand auf. Er streckte Elisabeth die Hand entgegen, half ihr auf und schlang seine Arme um sie.

»Du hast irgendwie Schnee im Gesicht ... Wo kommt der denn her?« Zärtlich strich er ihr über die Wange und schob die Schneeflocken über ihrer Augenbraue weg. Elisabeth schloss die Augen, und vergrub ihr Gesicht zwischen seiner Brust und der geöffneten Jacke. Er roch so unwahrscheinlich gut. Sie schmiegte sich eng an ihn und sah zu ihm auf. Moritz neigte ihr den Kopf entgegen und wieder fanden sich ihre Lippen zu einem schüchternen Kuss, der nach und nach leidenschaftlicher und verheißungsvoller wurde. Als Elisabeth sich mit ihren Händen unter Moritz Pullover vorwagte, stellte sie zu ihrer Freude fest, dass sie sich nicht verschätzt hatte, als sie ihn im Café gemustert hatte, er war trainiert. Hell, yes ...

Moritz ließ sie gewähren, ihre Hände waren trotz der Kälte um sie herum warm und weich, ihre Streicheleinheiten gefielen ihm und er genoss es, sie zu küssen. Lass sie jetzt bitte nicht aufhören ... lass einfach nichts heute Abend aufhören.

Bevor Elisabeth jedoch der Versuchung erlag, weitere unbekannte Seiten zu erkunden, zog sie seine Kleidung wieder an Ort und Stelle, schloss den Reißverschluss der Jacke und sah ihn auffordernd an.

»Jetzt aber los! Sonst stellen wir noch einen Negativrekord auf: nur eine einzige Abfahrt an einem Abend ...«

Moritz zog einen Schmollmund. »Ich könnte mir zwar Schlimmeres vorstellen, aber vielleicht habe ich ja gleich noch mal Glück und das Transportband fällt wieder aus.«

»Dann, mein Lieber, wirst du hochlaufen!« Elisabeth zog die Nase kraus und schnallte das Board wieder an. Moritz war schon abfahrbereit und schloss den Kinnriemen seines Helms, als sein Handy klingelte. Genervt verdrehte er die Augen und ging dran.

»Ja, bitte? ... Wenden Sie sich bitte an Herrn Schumacher, ich habe heute Abend eigentlich frei ... Wieso nicht erreicht? ... Hm. Gut. Dann lösen Sie das im Rahmen Ihrer Kompetenz bitte selbst!«

Er klang ein wenig angesäuert. Als hätte er der Person am anderen Ende schon hundertmal das Gleiche gesagt. Elisabeth wiederum wunderte sich, dass man ihn freitagabends anrief, es irgendwie wichtig klang und er es delegierte. Moritz hatte zwar nur wenig über seinen neuen Job erzählt, sie hatte nicht gefragt, aber irgendwie deckte sich das nicht mit dem Eindruck, den er damit hinterlassen hatte.

»Schön. Kann das bis etwa 22 Uhr warten? ... Gut. Ich zeichne das später ab. Auf Wiederhören.«

Nachdem er das Handy eingesteckt hatte, wandte er sich Elisabeth zu.

»Entschuldige bitte die Störung.«

»Kein Problem, musst du los?«

Der Groll in seiner Stimme war verschwunden und er schien das Telefonat schon fast vergessen zu haben. »Nein, ich konnte es so klären. Hopp, ab nach unten mit uns ...«

 

Die folgenden Abfahrten waren, wie immer, viel zu schnell vorbei und auch das Transportband hatte offenbar einen guten Tag; um sich näher zu kommen blieb ihnen wenig Zeit. Als es auf neun Uhr zuging, wirkte Moritz plötzlich weit weg. Sie standen auf dem Plateau Richtung Ausgang und er lehnte sich an das Geländer.

»Hey ... Wäre es schlimm, wenn wir gleich gehen?«

»Nein, völlig okay. Irgendwie hat mein Knie auch genug für heute. Was ist denn los? Du schaust so grimmig.«

»Hat nichts mit dir zu tun. Eigentlich hatte ich mir heute freigenommen, wie du weißt. Inzwischen habe ich noch zwei weitere Angelegenheiten geklärt und miese Laune. Also so, wie du mich von früher kennst.« Er grinste, Elisabeth schüttelte lachend den Kopf.

»Okay. Blenden wir das mal aus. Wenn du losmusst oder willst, dann fahren wir. Kein Problem.«

»Ich will nicht, ich sollte. Bevor einer der Angestellten noch dafür sorgt, dass ich Amok laufe.«

»So schlimm?«, fragte Elisabeth. Moritz nickte stumm. Für sie Anlass, vorsichtig nachzuhaken. »Ich merke, dass du mir keine weiteren Details von deiner Arbeit erzählen möchtest. Das ist völlig okay. Offenbar liegt dir was schwer im Magen, also lass uns fahren und du kümmerst dich in Ruhe darum ...«

Sie hatte ihr Snowboard bereits vom Schnee befreit und lief auf den Ausgang zu. Wortlos folgte Moritz ihr. Elisabeth ahnte, dass er sich zu gegebener Zeit schon noch äußern würde.

Als sie die Boards verstaut hatten und wieder im Auto saßen, steckte er den Schlüssel ins Zündschloss, ließ aber den Motor nicht an. Sie blickten von der Halde auf die Industriekulisse, die Lichter der Stadt erhellten den Nachthimmel und Moritz starrte gedankenverloren auf die Gichtgasflamme der gegenüberliegenden Kokerei. Blau angestrahlt erhoben sich die Schornsteine in die Höhe und tauchten den Ausblick in ein unwirkliches Licht. Das Glitzern der Skyline bewegte Moritz zu einem Resümee.

»Weißt du, das war ein merkwürdiger Tag. Heute Morgen habe ich die letzten Sachen von Danielle abgegeben und war froh, dieses Kapitel endlich abzuschließen. Ich hab mir heute Abend ausdrücklich freigenommen und mich doch wieder von der Arbeit einholen lassen, statt loszulassen und zu genießen, was gerade passiert.«

»Das kann vorkommen. Warum zieht dich das so runter?«

»Es sollte nicht so sein.« Moritz wandte sich ihr zu und nahm ihre Hand. »Ich vermisse hin und wieder das Stadtleben und die Firma. Insbesondere, wenn mich der Job nervt und ich dann durch mein Verhalten einen Abend wie diesen ruiniere.«

»Du sprichst wieder in Rätseln, Moritz. Wenn du Sehnsucht nach der Stadt hast, komm zurück. Victoria wird dich sicherlich mit Kusshand wieder einstellen. Außerdem ist bei uns Feierabend, wenn Feierabend ist. Keine Anrufe nach Dienstende. Aber offenbar ist es komplizierter, als es auf den ersten Blick aussieht.«

»Ja. Ist es. Ich verrate dir was: Ich hatte bisher drei Dates. Zwei sind noch am selben Abend im Nirwana geendet. Die Dritte hat es noch ein zweites Mal mit mir ausgehalten. Ich weiß, dass ich was ändern muss. Allein: Mir fehlt der Mut zum Absprung. Ich kann nicht zurück in die Firma. Warum, werde ich dir irgendwann gerne erklären. Nur nicht jetzt. Kannst du mir vertrauen?«

Elisabeth war verunsichert. Es fiel ihr nicht leicht, zu antworten.

»Du wirst deine Gründe haben ... Moritz, versteh das bitte nicht falsch, aber ich weiß gern, woran ich bin. Heute Morgen noch hätte dein Name in mir einen Brechreiz ausgelöst und innerhalb weniger Stunden sind Dinge passiert, von denen ich nie zu träumen gewagt hätte.« Ihre Miene war ernst, besorgt. »Ich weiß ja noch nicht einmal, ob ich dich wiedersehen werde!?«

Sie schloss die Augen und wartete auf eine Antwort. Moritz schwieg. Als Elisabeth gerade etwas sagen wollte, beugte er sich zu ihr hinüber und küsste sie. Erneut lagen darin eine Wärme und Leidenschaft, die ihre Knie weich werden ließen und den Puls angenehm beschleunigten.

Nach einer Weile löste Moritz sich zögerlich von ihr und streichelte ihre Wange. »Wenn du willst, wirst du mich immer wiedersehen. Du hast mich heute sehr glücklich gemacht und ich schäme mich dafür, dass ich dir das gerade nicht so zeigen kann. Es gibt ein paar Dinge, die ich regeln muss und werde.« Mit brüchiger Stimme fuhr er fort. »Mach dir keine Sorgen, es ist nichts Schlimmes, nur nervtötend und kompliziert. Ich weiß, dass du Geheimnisse hasst und daher verspreche ich dir, dass ich dir alles erklären werde. Gib mir nur ein paar Tage Zeit. Bitte.«

Elisabeth traute weder ihren Ohren noch ihren Augen. Moritz klang so verletzt und völlig fertig; in der Dunkelheit konnte sie es schlecht erkennen, aber sie war sich fast sicher, dass er mit den Tränen kämpfte.

»Moritz ...«, flüsterte sie in einen Kuss auf seine Wange, »ich halte nicht viel von Vertrauensvorschüssen –«

Er schloss die Augen und kaute auf seiner Unterlippe. Ihre Hand hatte er plötzlich losgelassen.

»Hey ...«, flüsterte sie und griff sie seine Hand zurück. Er lehnte den Kopf an den Sitz und drehte ihn zu ihr. »Moritz, ich wollte das nicht so ausdrücken. Ich bin immer noch durcheinander. Aber es geht dir wohl ähnlich. Lass es uns langsam angehen. Du musst dich nicht rechtfertigen, sag mir nur, was du willst.«

Das Verbissene in seinem Ausdruck war einem Lächeln gewichen, er atmete tief ein.

»Was ich will, weiß ich glücklicherweise seit heute. Ich weiß nur noch nicht, ob und wie ich es bekomme.«

»Ah ja. Das ist eine vollumfassende und befriedigende Antwort ...« Der Zynismus war kaum zu überhören.

»Weißt du … ich will, dass wir uns richtig kennenlernen können und es keine Geheimnisse zwischen uns gibt. Und ich wünsche mir, dass du bei mir bist.«

Einen kurzen, denkwürdigen Kuss später waren sie bereits auf dem Heimweg. Um vom bisherigen Thema abzulenken, philosophierten sie über ihre Lieblingsfilme und waren über die vielen Übereinstimmungen überrascht. Es mochte an Elisabeths Vorliebe für Thriller und Actionfilme liegen, vielleicht auch an Moritz’ romantischer Ader, aber letztlich lief es darauf hinaus, dass sie sich ähnlicher waren, als sie je gedacht hätten.

»Duuuu ...« Elisabeth sah Moritz fragend an.

»Jaaaaa ...«, grinste er.

»Auch wenn du ein paar Tage Zeit brauchst, um deine Angelegenheiten zu klären, würde ich dich gern am Wochenende sehen, sofern du Zeit hast. Ich bohre auch nicht und halte mir bei Telefonaten die Ohren zu.«

»Du bist süß ...« Moritz lächelte.

»Das ist aber keine Antwort.« Elisabeth schmollte gespielt. Unter Moritz’ Shirt malten sich seine Muskeln ab, sie kam nicht umhin, ihn immer wieder anzusehen, sich auszumalen, was sie mit ihm anstellen würde. Dazu das warme Gefühl von Geborgenheit, das sie seit diesem Abend in seiner Nähe hatte, die intuitive Vertrautheit. Warum hatte sie ihn nie vorher so gesehen?

»Wir können uns gern morgen Abend treffen. Und Sonntag habe ich richtig frei. Wenn du magst, gehöre ich ganz dir.«

»Ganz mir … Das ist schön ... Ich habe nur morgen früh etwas vor. Ansonsten ist das Wochenende unverplant. Magst du morgen Abend zu mir kommen?« Um Moritz weitere Ausweichmanöver zu ersparen, lud sie ihn lieber zu sich ein.

»Gern, wenn es dir nichts ausmacht?« Moritz ahnte, dass Elisabeth ihn nur zu sich bat, weil sie ihn einerseits bereits kannte und er andererseits sonst noch tiefer in seine Geheimniskrämerei verstrickt würde. Er wusste, dass sie ein sehr vorsichtiger und risikobewusster Mensch war, auf der Arbeit hatte sich das immer deutlich gezeigt. Das Snowboarden wollte dazu nicht recht passen, aber jeder brauchte irgendwo einen Ausgleich, dachte er sich. Wer hätte schon von ihm erwartet, dass er zweimal in der Woche ein hartes Boxtraining absolvierte?

Als sie gegen halb zehn vor Elisabeths Haus ankamen, bat sie Moritz noch kurz mit hinein. Er trug ihr Board in den Keller und ließ sich noch einmal ihr Knie zeigen. »Hast du Eis da?«