Tod eines Agenten

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Tod eines Agenten
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Lars Gelting

Tod eines Agenten

Wer die Seinen verrät

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Erklärung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Impressum neobooks

Erklärung

Ein spannender Thriller über Verrat, Enttäuschung und Rache. Über das Netzwerk der Stasibruderschaft, dem niemand entrinnen kann.

1989 verschwindet Dr. Werner Stocher, einer der schlimmsten Stasispitzel, spurlos in den Westen. Sechsundzwanzig Jahre später findet Erik die Spur seines Vaters. Er kann nicht ahnen, wen er da aufgespürt hat und droht dem Stocher mit Entlarvung. Damit gerät er ins Räderwerk der mächtigen Stasibruderschaft. Er wird gejagt, gehetzt, einen sicheren Ort gibt es für ihn nicht mehr. Als seine Jäger die Schlinge zuziehen, ist er chancenlos. Aber da gibt es noch jemanden, der eine Rechnung mit dem Stocher offen hat und den die Bruderschaft fürchten sollte. Die Abrechnung hat erst begonnen.

Lars Gelting, Jahrgang 1948, lebt sein Leben nach dem Prinzip: Gestalte, was das Leben dir bietet.

War gerne Lehrer, schon immer Musiker, war Fotograf, graphischer Gestalter, überzeugter Wohnmobilist mit Hang zum Abenteuerlichen, schreibt seit 2010 über das, was ihn bewegt.


Das Geschehen, das diesem Roman zugrunde liegt, ist in seinem Kern authentisch.

Alle Romanfiguren und viele der genannten Orte sind fiktiv. Mögliche Übereinstimmungen sind nicht beabsichtigt und rein zufällig.


Prolog

Tagebuchauszüge des Stasiobersts

Dr. med. Werner Stocher

Montag, 02. Januar 1989

Habe Jutta Nentwich geschwängert! Hat´s mir heute gesagt. 3. Monat. Dumm! Wo lebt die eigentlich?

Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Jutta ist Ärztin!

Dienstag, 03. Januar

Jutta lässt nicht mit sich reden. Will das Kind! „Aber nicht in diesem Arbeiter- und Bauern-Staat“. Sieh mal an!

Ist aber immer noch zutraulich und erzählt bereitwillig.

Fährt am Freitag zu ihrem Mann. Will danach in Weißenfels bleiben – wenn´s sein muss eben „krank“.

Kann man so naiv sein? Rede morgen mit Helmut.

Mittwoch, 04. Januar

Habe Helmut getroffen. Er sieht´s als Betriebsunfall. Müssen nur die Decke drüber halten. Habe ausführlichen Bericht über Juttas Auslassungen weitergegeben.

Mittwoch, 25. Januar

Treffen mit Helmut. Berichte über Dr. Slavik. Identifiziert sich zu sehr mit einigen „Patienten“. Systemkritisch!

Jutta Nentwich und ihr Mann sind an der Grenze von der Tschechoslowakei nach Österreich mit gefälschten Pässen aufgegriffen worden. Und so etwas gehört zur Bildungsschicht in unserem Staat. Jetzt sind sie richtig reif.

Donnerstag, 02. Februar

Der Herr Ingenieur Klaus Nentwich wurde heute der Haftanstalt zugeführt. Die „Firma“ ist schnell!

Die müssen sich den Slavik vorknöpfen. Hat heute in meinen Patientenakten geschnüffelt! Verbindung zu den Nentwichs?

Mittwoch, 15. Februar

Treffen mit Helmut. Berichte ausführlich über Dr. Slavik. Der Mensch führt etwas im Schilde. Helmut ist interessiert!

Jutta ist jetzt in Hoheneck inhaftiert. Verfahren nach Niederkunft wurde bereits geregelt. Helmut „weiß keine Details“ – sagt er. Warum auch!

Habe heute Frau Doktor Ulrike Teisch kennengelernt. Vielversprechend!!

Dienstag, 21. Februar

Der Nentwich ist ein typischer Kopfgesteuerter – und sonst ein Waschlappen.

Nach Weigerung der Vollzugsbeamten, ihm die Post seiner Frau auszuhändigen, Kontrollverlust: verbale und körperliche Aggressionen gegen Vollzugsbeamte. So ein Trottel! Jetzt sitzt er eine Woche im Bunker. Danach kommt er zu mir. Mal sehen.

Heute neuer Patient nur für Slavik: Frank Wurm.

Jetzt nehmen sie ihn auf die Rolle!

Frau Doktor Teisch macht Eindruck. Werde sie mal zu einem „Dienstessen“ verpflichten.

Mittwoch, 01. März

Treffen mit Helmut. Morgen wird mir Rolf Kotitsch zur Behandlung angewiesen. Einer von den Besserwissern – Lehrer – aggressiv, nicht führbar. Wollte über Ungarn raus. Jetzt sitzt er. Außerdem Verdacht, Verbindung zu Subversiven mit Westkontakten zu haben. Befehl: Behandeln und ausleuchten. Können wir!

Gestern wurde Nentwich zur Behandlung überstellt.

Sieht schlimm aus. Haben ihn richtig in die Mangel genommen, selbst schuld.

Sie lassen ihn glauben, dass es Jutta schlecht geht und dass sie suizidgefährdet ist.

Er leidet, aber Kontaktaufnahme wird verwehrt. Er soll erst mal reden, der Herr Ingenieur.

 

Die Teisch hat was! Eine kluge Frau.

Freitag, 21. April

Heute haben sie den Slavik hochgenommen. Der kluge Herr Doktor ist dem Wurm auf den Leim gegangen. Ich gestehe: Ich empfinde Genugtuung.

Den Lehrer hat´s erwischt. Wurde gestern wegen Republikflucht verurteilt. Danach ist er durchgedreht, hat den Beamten angespuckt. Nun ist er verquollen, dass ihn die eigene Mutter nicht mehr erkennt. Haben ihn gleich zu uns angewiesen. Aber der Kerl hält immer noch den Kopf oben. Wir werden das ändern.

Keine Schmerzbehandlung. Kein Kontakt zu Eltern oder zu seiner Frau.

Verzweiflung soll weh tun.

War zwei Tage zum Neurologenkongress in Stockholm. Frau Doktor Teisch war mir „anvertraut“. Sehr angenehm.

Mittwoch, 10. Mai

Treffen mit Helmut. Bericht über Kotitsch. Der Kerl wird in der Isolation allmählich irre, aber er redet noch nicht. Der frisst sich selber auf. Von innen heraus. Wenn der den ersten Satz von sich gibt, kriegt er eine Ladung. Dann plaudert der alles aus, was wir wissen wollen.

Gestern haben sie den Nentwich verurteilt: Republikflucht mit gefälschten Papieren.

Das war es für den. Von Jutta weiß er immer noch nichts. Das hält der nicht aus.

Mittwoch, 07. Juni

Treffen mit Helmut. Mahnt zur besonderen Aufmerksamkeit, oben sind sie wohl einigermaßen nervös.

Bericht über Kotitsch abgegeben. Musste sich unbedingt nochmal vermöbeln lassen. Hat erst im Wasserloch gesessen und danach eine ganze Woche im Bunker. Jetzt ist er mürbe. Habe ihm eine ordentliche Portion Faustan über zwei Wochen verordnet, und nun hat er alles ausgeplappert. Somit hat die Firma wieder was zu tun.

Fahre heute mit Ulrike Teisch nach Leipzig. Das kann was werden.

Mittwoch, 08. Juli

Treffen mit Helmut.

Jutta hat in Hoheneck eine Tochter geboren. Kind wurde nach der Geburt verbracht.

Helmut weiß nichts Näheres – sagt er. Wird vermutlich zur Adoption gegeben. Ist mir nur Recht!

Slavik wurde aus dem Beruf entfernt – sagt Helmut. Näheres weiß er nicht – sagt er.

Berichte über Kotitsch. Redet sich um Kopf und Kragen – und einige andere auch!

Berichte über den Ingenieur. Ist jetzt in jeder Richtung anzapfbar – ein armseliger Elendshaufen.

Donnerstag, 10. August

Was geht hier bei uns vor? Die reisen zu Hunderten über Tschechien und Ungarn aus.

Haben unsere das nicht mehr im Griff? Was hat Gorbatschow da angerichtet? Wir hängen doch alle mit drin. Da muss jetzt ein Deckel drauf!

Musste den Ingenieur schlafen legen. Hat erfahren, dass „sein“ Kind (und der glaubt das!) zur Adoption freigegeben wurde. Haben ihm jetzt Kontakt mit Jutta erlaubt. War nicht erbaulich für ihn. So kann es gehen.

War am Montag zu Vortrag in Berlin, mit Ulrike. Sind über Nacht geblieben. Hat sich gelohnt. Die Frau hat Suchtpotential.

Samstag, 26. August

Jutta hat einen Suizidversuch unternommen. Ist noch mal gut gegangen.

Dem Ingenieur haben sie das „so nebenbei“ gesteckt, ist kollabiert.

Was wollen die denn noch mit einem Kind? Die kriegen hier doch kein Bein mehr an die Erde.

Wobei einem langsam mulmig werden kann, wenn das stimmt, was man so hört. Da hauen offenbar ganze Horden einfach ab. Der Mielke muss das eindämmen, sonst geht der Laden hier hoch.

Mittwoch, 29. August

Treffen mit Helmut. Berichte über Ingenieur. Gibt nichts Substantielles. Der ist fertig.

Berichte über Kotitsch. Sehr ergiebig. Da können sich noch einige auf etwas gefasst machen.

Helmut meint, dass Mielke die Sache im Griff hat. Hoffentlich!

Habe jetzt zum dritten Mal bei Ulrike übernachtet. Tut mir gut. Katrin weiß wohl Bescheid. Nicht zu ändern.

Montag, 18. September

Der Mielke hat das nicht mehr im Griff. Zigtausende sollen über Ungarn und die Tschechoslowakei ausgereist sein. Früher hätte Erich diesen ganzen Haufen mit der Kalaschnikow auf die Reise geschickt. Jetzt guckt der zu! Das kann doch nicht gut gehen.

Ulrike hat mich heute Nacht auf den Ingenieur angesprochen. Ich weiß nichts!!

Aber ich habe das Gefühl, sie glaubt mir nicht. Ich hoffe nur, sie gräbt nicht tiefer.

Mittwoch, 27. September

Treffen mit Helmut. Ingenieur und Kotitsch sind leer gezogen. Nichts Nennenswertes mehr zu berichten.

Ulrike ist seit dem 18. anders. Sie spielt Theater, spielt Normalität.

Heute Nacht großartige Vorstellung von ihr. Hat mich fast aufgefressen. Die will abhauen! Ulrike unterschätzt mich – dumm für sie!

Helmut ist informiert: Zugriff sofort! Unbedingt!!

Montag, 02. Oktober

Ulrike ist weg! Abgehauen! Wie konnte das passieren? Habe Helmut doch gesagt, dass die Firma sofort zugreifen muss. Hier ist was faul!

Die verschwinden hier zu Tausenden. Jetzt auch um uns herum.

Doktor Hammer aus der „Lunge“ ist auch weg! Die hat sich mit Ulrike zusammengetan.

So langsam habe ich das Gefühl, ich muss an mich denken.

Der Ingenieur hat sich übers Wochenende aufgehängt. Nicht schade drum. Für Jutta eine Chance.

Mittwoch, 18. Oktober

Helmut war nicht da! Heute eigentlich Treffen, aber der Kerl ist nicht gekommen.

Verlassen jetzt die Ratten…?

Donnerstag, 19. Oktober

Ich denke, jetzt kollabiert das Ganze! Die haben den Honecker abgesägt.

Erst lässt uns Gorbatschow im Regen stehen und jetzt der Staatsstreich! Und der Krenz macht sich auf Honeckers Sessel breit. Krenz!

Der Westen wird uns schlucken, und dann sind wir alle richtig dran. Alle, die an diesen Staat geglaubt haben.

Morgen werde ich die Patientenakten sichten.

Für diesen Krenz-Haufen werde ich mir nichts ans Bein binden.

Samstag, 04. November

Der Pöbel beherrscht die Straße und die Bonzen werden ausgepfiffen oder haben sich verkrochen. Das war´s! Rette sich wer kann!

Patientenakten sind bereinigt. Mit dem Kotitsch bin ich fertig. Vermutlich erkennt der mich auch nicht mehr.

Bleiben noch die Berichte an Helmut, diese Ratte. Da komme ich nicht dran. Andere hoffentlich auch nicht!

Katrin steht fest an meiner Seite. Nach allem was war?

Wir spielen Familie mit zwei Kindern.

Donnerstag, 09. November

Gute Nacht, Arbeiter- und Bauernstaat! Die haben die Grenze geöffnet. Diese unüberwindliche Grenze haben diese Kretins geöffnet und werfen uns der BRD zum billigen Fraße vor!

Was wird aus uns, wenn die Westler erstmal anfangen aufzuräumen. Diese Besserwisser mit ihrem Rechtsstaat.

Ich werde gehen! Müssen!

Ist vielleicht ja nicht das Schlechtere. Aber wenn, dann ohne Familienbagage.

Freitag, 24. November

Habe Helmut getroffen! Ist also noch an Bord. Aber er teilt meine Ansicht und meine Absicht. Hat selber ziemlich heiße Füße.

Aber immerhin: Die Firma vergisst einen nicht. Helmut besorgt mir eine neue Identität, nur für den Übergang. Für die ersten Jahre. Alles andere ist vorbereitet. In den Akten ist mein Name sauber.

Habe die zugeteilten Verfügungsgelder des Klinikbereiches flüssig gemacht, bevor es jemand anders tut. Liegen auf Abruf. Hier nimmt jeder, was er an Nützlichem kriegen kann. Aber nach außen wahren wir die Fassade.

Katrin hat Sorgen, aber sie steht zu mir. Was soll ich tun? Kann sie ja nicht zurückweisen.

Ich fürchte, sie wird es mit den Kindern schwerhaben, wenn ich erst mal weg bin.

Montag, 18. Dezember

Vera Kotitsch war heute im Haus. Sehr unangenehme Person. Hat mir gedroht. Und ich kann mich nicht wehren!! Wo sind wir hingekommen.

Jedenfalls wird es nun höchste Zeit. Wollte heute die Akten der Vorjahre sichten und „bereinigen“. Sind nicht mehr da! Nicht mehr im Hause greifbar! Geht’s jetzt los?

An die Kotitsch habe ich gar nicht gedacht. Hatte nur den Lehrer im Auge. Das Weib ist „klebrig“.

Werde im Westen als „Doktor med. Robert Snelting“ leben. Muss so ein Kerl gewesen sein wie der Slavik, dieser Doktor Snelting. Jedenfalls hat er sich in der Haft selbst verabschiedet. Gut für mich. Aber, ganz wohl ist mir bei der Sache nicht. Will doch nicht mit dem Namen eines Staatsverräters herumlaufen.

Mittwoch, 17. Januar 1990

Treffen mit Helmut. Jetzt ist sogar Helmut aufgebracht und in großer Sorge: Der Pöbel hat die Firmenzentrale in Berlin gestürmt. Die haben Zugriff auf die Akten!

Im Nachhinein fragt man sich, welche Trottel uns da regiert haben. Dieses Material hätte der Erich längst in den Ofen werfen können.

Jedenfalls geht’s jetzt ums Ganze. Was fehlt sind die Papiere und Geld natürlich. Die werden uns schon bald ihre schöne Westmark aufdrängen.

In der nächsten Woche bringt Helmut die Papiere.

Mittwoch, 24. Januar

Helmut ist nicht gekommen! Der wird mich ja wohl nicht hängen lassen? Auch Helmut ist nur ein Mensch, er soll es nicht wagen. Das Wasser steht uns allen bis zum Hals.

Mittwoch, 28. Februar

Keine Nachricht von Helmut. In all den Wochen keine Nachricht! Bin nahe daran, mich selbst zu behandeln.

Alle „Politischen“ sind aus der Haft entlassen worden! Ich fasse es nicht! Als hätten wir die nur zum Spaß inhaftiert. Als ob wir Sadisten waren.

Jedenfalls kann jeden Tag hier die Bude hochgehen. Und diese Quertreiber und Unruhestifter werden sich nicht bei uns für die „Vorzugs-Behandlung“ bedanken.

Ich habe das Gefühl, die stehen schon unten vor der Tür, die Slaviks, Kotitsch und wie sie alle hießen.

Meine Papiere, Helmut!!

Mittwoch, 04. April

Endlich! Endlich! Helmut war am Treffpunkt. Und er hat die Papiere mitgebracht! Endlich! Geburtsurkunde, Pass, Meldebescheinigung usw., alles, was man so braucht, um als zivilisierter Mensch zu gelten.

Mittwoch, 20. Juni

War heute mit Helmut zusammen in Dresden. Wir haben uns ein Konto bei der „Dresdner Bank“ eingerichtet. Habe das Klinikgeld bereits eingezahlt (63.000 Ostmark). Soll ja 1:1 umgetauscht werden. Damit wäre ich erstmal aus dem Gröbsten raus. Außerdem haben wir ja noch 12.000.- Mark auf unserem Familienkonto in Waldheim. Ich habe es verdient, und ich nehme es mit. Lasse Katrin 3800.- Mark Übergangsgeld da. Danach muss sie sich halt umschauen. Wir leben alle unser eigenes Leben.

Kapitel 1

Oslo, 12. September 2016.

Ein Montag, trübe, regnerisch, ohne jede Verheißung. Erik sah aus dem Hotelfenster, die Arme vor der Brust verschränkt. Schon seit zwei Tagen saß er hier fest, sah hinaus in den Regen und wartete darauf, dass es endlich losging. Wie er das hasste. Wie er diese Typen überhaupt hasste. Hier ging es um alles oder gar nichts und diese Typen spielten mit der Zeit.

Unten im Hafen schob sich eine Fähre der „Stena Line“ behäbig aus ihrer Anlegebucht, quirlte das dunkle Wasser an ihrem Heck schaumig auf. Schob sich dann wie in Zeitlupe an einer mächtigen, blauen Fähre vorbei, deren Heck eine endlose Schlange von PKWs und LKWs absonderte.

Erik sah das alles nicht. Unzuverlässigkeit war etwas, was ihm geradezu physische Schmerzen verursachte. Zumal, wenn es sich um solche riskanten Aktionen handelte. Sein Blick flog zum x-ten Mal hinüber zur Uhr am rechten Rathausturm: vierzehn Uhr fünfzig.

„Verdammt! Es reicht jetzt! Komm schon, Bengtson! Komm schon! Lass mich nicht hängen, Kerl!“

Mit zusammengepressten Lippen brannte er seinen Blick auf der Uhr fest. Er kam an diesem verdammten Bengtson nicht vorbei, aber geahnt hatte er es. Im Voraus schon, von Anfang an. Er kannte diese radikalen Typen. Die lebten nur in ihrer eigenen Welt, kannten nur ihre eigenen Regeln, waren einfach…

Hinter ihm auf dem Tisch gab das Smartphone ein klares „Ping“ von sich. Er fuhr so heftig herum, dass er gegen die Tischkante stieß. Griff nach dem Smartphone und öffnete die eingetroffene Mitteilung.

 

„Hau ab! Verschwinde aus Oslo. Sofort! Treffen achtzehn Uhr Scandinavian in Arvika. S.B.“

Was sollte das denn jetzt? Verschwinden! Er zog seine Tasche heran, schob sein Laptop noch hinein und war schon an der Tür. Offensichtlich hatte der Bengtson tatsächlich was ziemlich Heißes in der Pfanne. Davon war im Voraus nicht die Rede. Verdammt! Und dann jetzt „Arvika“. Wo lag denn das jetzt? Wo lag Arvika? Er hetzte zu seinem Auto, weckte sein Navi, sah sich die Karte an: Arvika in Schweden, hundertsechzig Kilometer von Oslo entfernt. Er brauchte nur der E18 zu folgen. Mit etwas Glück war das machbar. Aber das war auch wieder so etwas. Warum nicht neunzehn Uhr? Du verdammter Kerl weißt genau, dass ich hier in Oslo bin. Er schaltete das Navi aus, fädelte sich in den Verkehr ein.

Zwanzig Minuten später lag Oslo hinter ihm, die Grenze nach Schweden überfuhr er um sechzehn Uhr fünfunddreißig. Der Regen wurde stärker.

Zwei Kilometer hinter Töcksfors kroch vor ihm ein mit Baumstämmen beladener LKW aus einem Waldweg auf die Fahrbahn. Erik ließ sich etwas zurückfallen, wollte nicht den hochgewirbelten Dreck auf der Scheibe haben.

Die Zeit rann dahin. Er setzte mehrere Male zum Überholen an und musste doch wieder hinter den LKW zurück. Und dann wurde er allmählich unruhig. Er saß fest hinter dem LKW, während ihm die Zeit davonlief. Als er ihn endlich an einem Berg überholen konnte, war es siebzehn Uhr fünfundzwanzig. Er fuhr am Ortseingangsschild von Arjäng vorbei.

Arjäng! Nur einen Atemzug lang stockte er, dann wusste er, dass etwas verkehrt lief. Er war noch auf der E18, aber Arjäng lag nicht auf seiner Strecke. Dort gab es vor Arvika keinen Ort dieser Größe.

Er steuerte den nächsten Parkplatz an, stieg aus und lief durch den Regen zu einem Toilettenhaus. Die eintönige Fahrt hinter dem LKW, das regelmäßige Schrubben der Scheibenwischer – er hatte sich einlullen lassen. Es musste irgendwo einen Abzweig nach Arvika gegeben haben, und den hatte er übersehen.

Ein langer Kühl-LKW donnerte in einer Gischtwolke vorbei, zog seinen Blick hinter sich her. Er würde es nicht mehr rechtzeitig schaffen. Die Erkenntnis schmerzte geradezu. Bengtson war eine vorsichtige Ratte. Der würde sich kaum ein zweites Mal herauslocken lassen.

Erik sandte ihm eine SMS, bat um Zeitverlängerung. Die Antwort kam prompt: „Ok, bis achtzehn Uhr dreißig.“ Es war siebzehn Uhr siebenunddreißig. Kaum eine echte Chance. Verdammt noch mal, was sollte das für ein Spiel sein?

Er stieg wieder ein, rief sein Navi auf, änderte das Routenprofil auf „kürzeste Strecke“ und gab „Arvika“ ein. Unbekannte Gegend, Dunkelheit und heftiger Regen, was sollte da schon passieren? Er entschloss sich, alles auf eine Karte zu setzen, schloss die Wagentür, und fuhr wieder zurück auf die Straße.

„Nach zweihundert Metern rechts abbiegen.“

Na also. Seine Laune hellte sich im gleichen Maße auf, in dem es allmählich dunkel wurde.

Er bog ab, folgte nach wenigen Minuten der neuen Anweisung und war dann auf der Straße nach „Lenungen“ und zum „Naturreservat Glaskogen“.

Das Navi wusste offenbar, was er bevorzugte: asphaltierte, gerade verlaufende Straßen und möglichst kein Verkehr. Er jagte den BMW die Straße entlang, schien das einzige Fahrzeug auf dieser Strecke quer durch den Wald zu sein. Misstrauisch machte ihn diese Tatsache erstmal nicht.

Vier Kilometer später war jedes Misstrauen überflüssig. Übergangslos wechselte der Straßenbelag von Asphalt zu Schotter. Er ahnte sofort, dass er sich verpokert hatte: Regen, Dunkelheit und Schotterstraße quer durch den Wald. Das war wohl die mieseste aller Karten, und er musste sie auf Gedeih und Verderb spielen

Inzwischen leuchteten die Scheinwerfer eine Regengasse zwischen den Bäumen aus, in der nur sichtbar wurde, was das Licht erfasste. Immer wieder tauchten Kurven überraschend vor ihm auf, zwangen ihn zu hektischen Reaktionen. Die Zeit saß ihm im Nacken, die Fahrt wurde allmählich anstrengend und er verfluchte sein Navi.

Die Scheibenwischer! Ihr hastiges Hin- und Herhudeln nervte ihn, machte ihn kribbelig. Außerdem beschlugen die Scheiben. Er tastete nach dem Schalter der Klimaanlage. Im gleichen Augenblick huschte etwas durch sein Blickfeld. Sein Blick zuckte hoch: Im bisher dunklen Rückspiegel bewegten sich die Scheinwerfer eines anderen Fahrzeugs, undeutlich und noch weit hinter ihm. Er ließ den Heckscheibenwischer arbeiten.

Das Gebläse der Klimaanlage lief auf Hochtouren, und er sah wieder in den Rückspiegel. Die Scheinwerfer kamen näher. Solange er auf dieser Schotterpiste fahren musste, mochte er nicht überholt werden und dann eine Dreckschleuder vor sich haben. Er erhöhte die Geschwindigkeit noch etwas, sah in den Spiegel; das Fahrzeug hinter ihm kam dennoch näher heran.

Vor ihm tauchte die nächste Kurve auf. Der BMW rauschte durch eines der gefühlt zwei Millionen Schlaglöcher, das Wasser spritzte hoch bis an die Seitenscheiben, und gleichzeitig tauchte am Rand der Straße ein kleines, weißes Haus auf. Das Scheinwerferlicht huschte nur rasch über eine Wand, er erkannte eine kleine Treppe zur Haustür und ein einzelnes erleuchtetes Fenster. Dann war er vorbei. Im Scheinwerferlicht vor ihm lag wieder die aufgeweichte Straße.

Erik sah in den Rückspiegel, zurück zur letzten Kurve. Sah schon den Lichtschein, und sofort danach tauchten in der Kurve die Scheinwerfer auf. Sein Verfolger kam ihm unerbittlich näher, und das machte ihn nervös. Deutlich konnte er jetzt erkennen, dass es sich um ein höheres Fahrzeug handeln musste, einen Geländewagen.

Und auf einmal war er zu schnell. Die Kurve raste im Regen auf ihn zu. Er war viel zu nah dran, drohte den BMW zu verlieren. Bäume, nur noch Bäume tauchten vor ihm im Scheinwerferlicht auf. Fluchend zog er das Lenkrad herum, weg von den Bäumen. Von unten schlugen Steine gegen den Boden, während er den Wagen durch die Kurve zwang. Eine gefühlte Ewigkeit lang raste er am Rand der Straße entlang, bis er endlich aus der Kurve hinausfuhr, wieder Gewalt über den Wagen bekam.

Angespannt riskierte er einen schnellen Blick in den Spiegel. Der Kurvenbereich hinter ihm war schon hell beleuchtet.

Etwas in ihm schlug Alarm.

Sein Blick fiel zurück zur Straße und gefror.

Mitten auf der Straße stand jemand. Stand auf dieser aufgeweichten, verdammten Schotterstraße wie ein Wesen aus einer anderen Welt.

Und er raste darauf zu, unfähig, zu reagieren. Starrte nur auf das Wesen in seinem langen, weißen Gewand, auf den alten Korbkinderwagen, den es quer über die Straße vor sich herschob, im Regen, im Scheinwerferlicht, wie über eine Bühne.

Dann schoss Panik in ihm hoch. Er schrie, schrie seine Angst heraus, riss das Lenkrad herum. Instinktiv, kein klarer Gedanke. Alles in ihm wollte fort von diesem Wesen, das ihm nun entgegensah, den Mund erschreckt weit aufgerissen, die Augen groß wie Wagenräder.

Der schwere Wagen rutschte daran vorbei, zu nah, räumte irgendetwas mit dumpfem Aufprall zur Seite.

Er spürte es, spürte diesen Aufprall geradezu schmerzhaft und stemmte den Fuß auf die Bremse. Stemmte das Pedal nieder mit dem Gewicht seines Körpers, umklammerte das Lenkrad mit beiden Händen. Und dann riss es ihn hoch vom Sitz, als ein Baum seine Fahrt jäh stoppte.

Das trockene Krachen, mit dem der Wagen an einer Fichte aufschlug, drang ebenso wenig in sein Bewusstsein wie das Auslösen des Airbags, der verhinderte, dass sein Kopf gegen den Holm oder die Scheibe krachte.

Dann war Stille.

Ein – zwei Sekunden lang saß er nur da, starrte ins Nichts. Kein Gedanke.

Die Beifahrertür wurde aufgerissen. „Sind Sie okay?“

Eine Frauenstimme. Die Innenbeleuchtung war angegangen, er konnte dennoch nur den dunklen Umriss einer Kapuze erkennen.

Die Frau auf der Straße‘!

Erik war wieder da. Löste hastig den Gurt, strich mit schnellen Bewegungen kleine Glasbrocken von seiner Kleidung und kletterte über die Mittelkonsole und den Beifahrersitz nach draußen in den Regen. Alles ohne klaren Gedanken.

„Sind Sie verletzt?“ Die Fremde stand im Dunkeln vor ihm, umgeben von dichtem Buschwerk und nur eine Armlänge entfernt. Nur ihren regentriefenden Wachsmantel konnte er erkennen. Zwischen den tropfenden Büschen hindurch sah er auf der Straße den vor sich hin brabbelnden Geländewagen, einen Range Rover.

„Halloo – haben Sie sich verletzt?“ Sie sprach laut jetzt, beugte sich etwas vor, um ihn sehen zu können.

„Ich habe eine Frau angefahren.“ Er ließ sie stehen, hastete an ihr vorbei zur Straße, zum Geländewagen.

„Hier ist keine Frau.“ Sie hatte ihn eingeholt, sah ihn forschend an. „Außer uns beiden ist hier niemand.“

„Doch, verdammt noch mal. Sie war hier. Genau hier.“ Seine Hand wies in einen Bereich der Straße, direkt vor den Geländewagen. Im Scheinwerferlicht waren noch die Spuren zu erkennen, die sein schleudernder Wagen im aufgeweichten Schotterboden hinterlassen hatten.

„Genau hier. Eine große Frau in einem weißen Kleid. Sie schob einen Kinderwagen. So einen uralten kleinen Korbkinderwagen.“ Er sah sie an, sah ihre gefurchte Stirn. „Ja. Ich weiß, das hört sich alles verrückt an. Aber genau so verrückt war es auch. Und ich bin sicher, dass ich sie angefahren habe.“ Der Regen lief ihm in die Augen, er wischte, sah sie wieder an, eindringlich. „Ich habe den Aufprall gehört. Die muss hier irgendwo sein.“

Unruhig, besorgt sah er sich um, suchte den Bereich ab, den die Scheinwerfer ausleuchteten. Aber da war nichts außer Pfützen, in denen dicke Blasen platzten. Er sah ihr Gesicht, ihren skeptischen Blick und ließ sie einfach stehen.

Vor dem Geländewagen her hastete er durch den Matsch auf die andere Straßenseite. Seine Schuhe sanken ein im Morast. Er achtete nicht darauf, lief am Rand entlang, dort wo nasses Gras und kleine Sträucher sich in die Straße hineinfraßen. Suchte im schwachen Licht, suchte zwischen und unter den nassen Sträuchern. Seine Hände fuhren suchend über die durchnässten Taschen seiner Jacke: sein Smartphone. Er brauchte Licht. Er würde den hellen Kleidungsstoff erkennen – oder den Kinderwagen. Er sah nichts!

Scheiße! Wo bist du? Der Druck in seiner Magengegend nahm zu. Er hatte einen Menschen angefahren.

„Kommen Sie rüber! Hierher!“

Er fuhr herum, sah ihr Smartphone auf der anderen Seite des Range Rovers im Regen blinken. Empfand ihre Stimme wie einen Stich.

„Ist sie dort?“ Er war schon unterwegs. Sah die Fremde vorgebeugt am Rand der Straße, direkt neben der Stelle, an der er in den Wald gerutscht war.

„Hier unten, unter dem Busch.“ Sie richtete sich auf. „Ich denke, sie ist nicht durch den Unfall hier gelandet. Die hat sich hier verkrochen.“

Das Licht ihres Smartphones schwenkte kurz zu ihm herum, als er näherkam; über ihnen flogen in der Dunkelheit einige Vögel aufgeschreckt davon.

„Das ist Lotta. Ich habe es schon befürchtet, als Sie so fest davon überzeugt waren, hier eine Frau gesehen zu haben.“

„Was meinen Sie?“ Erik wischte sich den Regen aus dem Gesicht, versuchte sie anzusehen, ihr Gesicht genauer zu erkennen.

Das Licht war wieder nach unten gerichtet, leuchtete in den Straßengraben, unter wucherndes Buschwerk und erfasste etwas Helles. Etwas, das hier ganz klar nicht hingehörte. Das war sie.

Wie ein scheues Tier hockte sie, vom Licht erfasst, im knietiefen, nassen Graben. Ein großes, verwundetes Tier in einem schmutzig-weißen Gewand mit überlangen grauen Haaren und einem alten Gesicht, das ihnen mit großen, dunklen Augen entgegensah; Lotta hatte Angst. Weit nach vorn gebeugt wiegte ihr Körper langsam vor und zurück. Ihre Arme hielt sie vor der Brust, presste dort irgendetwas gegen den Körper.

Er schob die Zweige des Busches zur Seite. Merkte nicht, dass ihm der Regen und ein dünnes Rinnsal Blut jetzt auch in die Ärmel liefen. Er musste näher heran. Ging in die Hocke, um genau sehen zu können.

„Lotta ist ein armes Ding. Sie lebt in ihrer eigenen Welt – und in der Welt von Lasse. Das sind gleich zwei Gottesstrafen.“