Der erste Russe

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Was sollte meine Mutter tun? Niemand war in der Nähe, der ihr hätte helfen können. Der Ausweg bestand darin, sich selbst unangepasst zu verhalten, und so ging sie lächelnd, höflich, ja, regelrecht liebevoll auf den bewaffneten Mann zu: »Oh, ich habe Sie beinahe nicht erkannt! Wie geht es Ihnen?«

Der Mann ließ seine heraushängende Zunge im Mund verschwinden, verbarg das Messer und murmelte: »Danke, geht so, meine Liebe …«

Die Moral hatte den Mann aus dem Konzept gebracht. Die Höflichkeit erinnerte ihn daran, dass ihn jemand immer noch als Mensch wahrnahm.

Meine Mutter kam zwar wohlbehalten nach Hause, verbrachte wegen des Schrecks jedoch zwei Wochen im Bett.

Ich imitierte diesen Mann bei meiner Angebeteten, doch ich jagte diesmal ihrer Großmutter einen Schrecken ein: »Ah«, rief die alte Frau besorgt, »das heißt also, man kann nicht mehr zu Fuß auf die Straße gehen?«

Zu Fuß – nein. Nur noch mit dem Automann?

Ich hatte einen Fehler gemacht. Mich und den Präsidenten meiner Partei befiel Hoffnungslosigkeit. Seine Gedichte über die imitierten Angebeteten machten zwar mehr Eindruck auf die Zuhörerin, aber das änderte nicht viel: Alles nur leere Worte, mehr nicht.

Die Kriegsverlierer. Geld in der Tasche des Zugführers

Ich, ein ordentlich aussehender Student, werde vom Pädagogen unseres Militärkurses, Oberst Witali Ziklauri, zum Zugführer ernannt. Das heißt, ich muss am Semesterende von meinen Kommilitonen Geld eintreiben und dem Oberst als Geschenk übergeben. Anderenfalls würden wir keine Note eingeschrieben bekommen und zwangsläufig in die historisch gesehen schon unabhängige georgische, beziehungsweise Schewardnadse’sche, inhaltlich und strukturell jedoch noch sowjetische Armee eingezogen. Das will natürlich keiner riskieren, denn die Armee ist genauso wie die Regierung arm und kriminell.

Die Staatliche Universität bewahrt ihre Studenten vor der Einberufung, wenn sie im Verlauf eines Jahres theoretisch eine militärische Vorbereitung durchlaufen, aber das funktioniert nicht, denn so, wie in Wirklichkeit von Oberst Witali Ziklauri unterrichtet wird, kann man es gar nicht als richtiges Fach betrachten: Der alte sowjetische Offizier weiß nur, wie man laut und mit russischem Akzent Befehle schreit und das ganze Jahr ein und dasselbe wiederholt, nämlich dass es Liege-, Steh- und Sitzgräben gibt, mehr nicht.

Es ist der letzte Tag des Semesters. Ich bin furchtbar aufgeregt, denn mich erwartet eine unerträgliche Prozedur – ich soll mit Oberst Ziklauri in den Sanitätsraum gehen, wo ich eine psychologisch und moralisch vernichtende choreografische Übung absolvieren muss: Ich muss ihm möglichst unbemerkt die Opfergabe des militärischen Zuges in die Hand drücken: (»Hach, mein Junge, das wäre doch nicht nötig gewesen!«)

Ich muss das erste und das letzte Mal einen Menschen bestechen.

Er ist durch und durch ein Sowjetmensch – hinsichtlich Stimme, Verhalten, gespielter Wut und dem Geruch von Eau de Cologne, der den ganzen Hörsaal verpestet. Das Eau de Cologne ist bestimmt schon lange übers Verfallsdatum, vielleicht sogar schon giftig, aber Genosse (nach 1991 – Herr) Witali Ziklauri benetzt trotzdem beharrlich seine grau-grünlichen Wangen damit.

Eduard Schewardnadse ist jetzt seit einem Jahr Präsident Georgiens (bis dahin hatte er den Posten des Staatsoberhaupts inne). Im Land herrscht die totale Hungersnot. Unsere Hoffnungen ruhen auf Schewardnadses alten Freunden – dem deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher und seinem US-amerikanischen Amtskollegen James Baker, die wie üblich für einen oder anderthalb Tage Georgien besuchen. Die Anhänger des vertriebenen ersten Präsidenten halten genau bei Bakers Ankunft eine Demonstration ab, um sich bei ihm über die Ungerechtigkeiten der neuen, ungesetzlichen Regierung zu beklagen. James Baker geht zusammen mit Schewardnadse in den großen Konzertsaal, wo der feierliche Kongress der Präsidentenpartei eröffnet werden soll, die Demonstranten kommen vom Bahnhof (von dort bis zum großen Konzertsaal sind es zwei Kilometer) und liefern sich auf dem Weg – auf dem Heldenplatz, in der Nähe des Zirkus, zwischen den zwei Hügeln der Stadt – Schusswechsel mit den quasi-staatlichen Kräften (halb Banditen, halb Kämpfer). Die Leute laufen auseinander, niemand weiß, wie viele getötet werden – manche sagen zwei Menschen, andere fünfzig, wieder andere nicht ein einziger (in Georgien waren offizielle Zahlenangaben immer schon mit Vorsicht zu genießen). James Baker eröffnet mit dem Präsidenten den Kongress. Er weiß nicht, dass in zwei Kilometern Entfernung vielleicht zwei bis fünfzig Menschen getötet worden sind.

Dieses Jahr wird im Hof des Obersten Rats ein Mordanschlag auf Schewardnadse verübt, doch wie durch ein Wunder kommt er mit dem Leben davon (innerhalb kurzer Zeit schon zum zweiten Mal; ihn werden noch weitere Terrorakte erwarten).

Das Land versinkt im Chaos, jedoch nicht in einem wie vor einem Jahr: Das diesjährige Chaos ist, verglichen mit dem Chaos der anderen Jahre, weniger chaotisch. Jeder hat eine Neurose, die in verschiedenen Formen verläuft. Bekannt ist der Versprecher des georgischen Verteidigungsministers Nadibaidse auf der Parade zur Unabhängigkeitsfeier am sechsundzwanzigsten Mai: »Ich gratuliere euch zu unserem vorzeitigen Feiertag!«

Keine Ahnung, welches Wort er statt »vorzeitig« eigentlich sagen wollte.

Minister Nadibaidse ist eine Mischung aus unserem Oberst Ziklauri und dem oft besiegten General Utscha Utschadse, der uns am letzten Tag des Semesters besucht.

Unser Utscha Utschadse redet ebenso eigenartig, er stottert, spricht die Wörter nicht zu Ende – nur einige Anfangsbuchstaben. Außerdem ist er beschwipst. Schon als er zu uns hereinkam, hatte er im Lehrerzimmer Schnaps getrunken, und keiner weiß, wie sich das auf sein Verhalten auswirkt …

Utscha Utschadse kommt in unseren Raum. Er scheint ein Typ zu sein, der normalerweise gut drauf ist.

Witali Ziklauri donnert wichtigtuerisch los: »Stillgestanden, zuhören!«

Doch schon beim zweiten Wort bricht seine Stimme ab, vielleicht würde er gleich noch loshusten. Ihm geht es schlecht, er ist es nicht mehr gewohnt, so herumzubrüllen.

Der besiegte General Utscha Utschadse steht am Tisch und nimmt die Mütze ab – er hat rote Wangen und nasses blondes Haar. Ein junger, dickbäuchiger Mann.

»Hallo, Jungs!«, schreit er (man hört nur die ersten Buchstaben Hal… Ju…)

Wir schauen stumm.

Ich habe das Geld der Truppe in der Tasche.

»Nun, schauen wir mal, wie gut ihr vorbereitet seid«, sagt er.

»Uh«, lacht oder stöhnt Oberst Ziklauri.

General Utscha Utschadse legt seine Mütze auf den Tisch. Er stützt seine mit blondem Flaum und bräunlichen Sommersprossen bedeckten Hände auf den Tisch und schaut uns aus müden grauen Augen an: »Nun, wie viel Mann sind eine Hundertschaft?«, ruft er.

Ach du Schande, weiß dieser Mann etwa nicht, dass wir nichts wissen?

Hätte ich das Bestechungsgeld dem Oberst etwa geben sollen, bevor Utscha Utschadse hereingekommen ist? Prinzipiell gehen mich die Hundertschaften nichts an, ich bin in einer Zwanzigschaft. Oder was ist das für eine Frage? Wie viele sollen denn eine Hundertschaft sein? Hundert wahrscheinlich. Nein? Aber warum fragt er uns, wenn es einfach hundert sind? Vielleicht sind sechzig Mann in einer Hundertschaft? Oder fünfundsechzig? Oder sogar zweihundert?

»Wie viel ist denn nun eine Hunderter Hundertschaft?«, wiederholt er die Frage. Seine Augen lächeln.

Macht General Utscha Utschadse einen Scherz?

Oberst Ziklauri schaut uns wütend an: »Gebt jetzt irgendeine Antwort! Keine alberne – eine ordentliche.«

Wann soll ich das Geld übergeben, Herr Witali?, frage ich mich.

»Hundert«, antwortet jemand leise.

»Oh, bravo«, sagt Utscha Utschadse und freut sich.

Ziklauri lächelt.

Wir freuen uns auch.

Doch plötzlich stellt er uns die nächste Frage: »Wenn Schießübung ist, sagen wir … Also, Waffen …«

Und er murmelt etwas. Wir verstehen nichts. Weder die ersten noch die letzten Buchstaben …

Er ist betrunken …

»Versteht ihr mich? Also, wer …«

Utscha Utschadse wird vor unseren Augen vom Suff übermannt.

Was sollen wir ihm antworten? Was hat er uns gefragt?

Er schaut uns an.

Wir sagen nichts.

Wir haben nichts gelernt, ein Jahr vertrödelt, den Krieg nur im Fernsehen gesehen – und auch das nur in Ausschnitten, denn während des Abchasienkrieges läuft ja die mexikanische Seifenoper im Fernsehen. Der Afghanistankrieg ist Geschichte, der Zweite Weltkrieg war vor unserer Geburt zu Ende.

»Gut, alles klar.« Utscha Utschadse schaut zu Ziklauri.

Was ist klar?

Wieder fragt er etwas, was wir überhaupt nicht verstehen (beim letzten Mal hatten wir wenigstens »Waffenausbildung« verstanden). Der Mann schwankt. Ist schläfrig. Fällt vielleicht um.

»Antworten!«, fordert er.

Er wird aggressiv.

Witali Ziklauri schaut uns an, rot im Gesicht: Sein Eau de Cologne stinkt noch mehr, vielleicht wird der Geruch durch die Nervosität verstärkt.

Wir können keine Antwort geben, aber Utschadse lobt uns trotzdem: »Gut, bravo« – er schaut zum Oberst – »das sind gute Jungs …«

Wir haben nichts gesagt, aber die Antwort gefällt ihm trotzdem.

Scheinbar weiß er, dass der Zugführer Geld für den Oberst in der Tasche hat, jedoch weiß er nicht, wer der Zugführer ist.

»Krieg und Kampf sind Männersa…«, sagt er (er spricht das Wort nicht ganz aus: entweder ist er zu faul oder unfähig), »Georgier …«

Und Schluss.

Der oft besiegte General Utschadse setzt die Mütze auf und salutiert uns. Niemand hat uns gelehrt, wie man einem General salutiert, wir haben das nur in Filmen gesehen. Eingepackt in einen Schal und eine dicke Jacke stehen wir da und schauen den oft besiegten General an. Kann doch sein, dass dieser betrunkene General uns einen Befehl gibt: »Stellt sie alle an die Wand, auf der Stelle!« Keiner könnte ihn aufhalten. Er hat so viele psychische Traumata. Über ihn heißt es, er sei durch den Enguri geschwommen, die Kalaschnikow hochgereckt, damit sie nicht nass würde. Von ihm sei nichts zu sehen gewesen außer dieser Kalaschnikow. Munition hatte er auch keine mehr. Als er von den Kriegsverbrechen der Abchasen und Russen erfuhr, habe er auf den Tisch geschlagen und im Befehlston gebrüllt: »Mobilisiert die Luftwaffe!«

 

Auch damals war er wahrscheinlich betrunken gewesen: Hatte Georgien etwa jemals eine Luftwaffe?

Aber jetzt ist er zufrieden. Diesmal salutiert er uns mit der linken Hand und geht hinaus auf den Flur. Oberst Ziklauri folgt ihm, gibt ihm Begleitschutz. Er zieht das Bein leicht nach, jedoch nicht aus Lahmheit, sondern Gehorsam. Als wolle er Mitleid erregen.

Der Unterricht ist beendet.

Der Oberst kommt wenig später zurück. Er ist zufrieden. Hat immer noch gerötete Wangen. Vielleicht hat er auch mit dem besiegten General getrunken. Oder nur am Schnaps gerochen. Er sagte einmal: »Ich trinke keinen Schnaps. Wenn mir danach ist, benetze ich mir die Finger damit und rieche daran.«

»Zugführer, zu mir!«, ruft er mich.

Die Studenten merken: Ich soll dem Oberst die Opfergabe für die Noten geben.

»Herr Witali«, sagt ein Student, »ich hab es nicht dabei, Entschuldigung. Ich hab vergessen, dass heute Abgabetermin ist.«

»Was hast du nicht dabei, mein Junge?« Dem Oberst entgleisen die Gesichtszüge.

»Das Geld«, antwortet der Student.

Das hätte er nicht sagen sollen. Geld hätte er nicht erwähnen dürfen. Hier hätte niemand von irgendetwas wissen dürfen – weder vom Salutieren noch vom Vorbereiten der Gefechtsstellungen noch davon, dass wir Oberst Ziklauri Bestechungsgeld gegeben haben. Wissen hat hier genau nichts zu bedeuten.

»Wie kannst du es wagen!«, schreit Ziklauri, und plötzlich: »Nichtsnutz!«

Au Mann, denke ich, jetzt beschimpft er ihn bestimmt noch weiter.

Und wenn er ihn beschimpft, was soll ich da machen, ich als Zugführer?

Ziklauri hört nicht auf: »Du Lump!«

Ziklauri ist ein unflätiger Mensch.

Und was sehe ich da: Der Student, der noch vor wenigen Sekunden beunruhigt war, weil er das Geld nicht dabeihatte, holt ein Messer aus der Tasche und sagt ein paar Worte auf General-Utschadse-Art, leise und unverständlich.

Jetzt gibt es Krieg. Ich bin dabei, als der Krieg in unserem Hörsaal ausbricht. Das ist ein Spiel mit dem Feuer. General Utscha Utschadse ist wahrscheinlich noch hier und kann dem Studenten, also meinem Truppenmitglied, und mir als Zugführer übel mitspielen. Utschadse ist zwar ein besiegter General, aber wir haben keinerlei Garantie, dass ihn unsere Truppe besiegen würde.

Der Student flucht leise, flüsternd, was noch viel unflätiger klingt als lautes Fluchen.

Oberst Ziklauris Gesicht nimmt eine grau-grünliche Farbe an …

Wird er einen Krieg vom Zaun brechen?

Oberst Ziklauri öffnet den Hosenknopf …

Was hat dieser Mann vor? Will er ihn auspeitschen?

Nein, er öffnet schnell den Reißverschluss …

Er steht seitlich, zieht die Hose leicht herunter und murmelt mit zitterndem Kinn vor sich hin: »Ich hab einen steifen Rücken, wegen euch kann ich kaum laufen …«

Oberst Ziklauri hat einen weiß-gelben Schal um den Rücken gewickelt … Ein alter, rückenschmerzgeplagter Mann …

Er tut uns leid.

Es bricht kein Krieg aus. Mein Truppenmitglied hat erfolgreich die Muskeln spielen lassen.

Das Geld wird mir später trotzdem abgeknöpft.

»Ach Mann«, sagt er und nimmt mir das Bestechungsgeld ab, »wir darben, was sollen wir machen? Die Zeiten sind nun mal so.«

Literarischer Abend. Die Rache am Geschichtsbuch

1992 begleitete ich meinen Vater zu einem literarischen Abend im ersten Gebäude der Staatlichen Universität.

Im Universitätsgebäude herrschte Eiseskälte, die Zuhörer waren eingehüllt in Mäntel und Pelze, die Männer – wenn nicht sogar alle Leute – trugen der damaligen Mode folgend unter der Hose noch eine Hose oder Unterhose, ganz zu schweigen von den Wollsachen, mit denen, wie böse Zungen behaupten, die geschickten Ehefrauen die intimen Körperteile ihrer Ehemänner umstrickten.

Es war egal, ob man im Gebäude war oder draußen, 1992, 1993, 1994 und 1995 herrschte überall die gleiche Eiseskälte. Erst recht in alten, hohen Gebäuden. In diesem Saal war schon seit Jahren nichts mehr passiert, was erwähnenswert gewesen wäre, wenn man vom spektakulären Auftritt des Philosophen Schawadse absieht, den dieser mit seinem Nachttopf auf der erweiterten Rektoratssitzung hingelegt hatte (jener Philosoph Schawadse, der den georgischen Philosophen ein dickes wissenschaftliches Werk hinterlassen hat: »Die Emanation des Lumpenpacks – wer ist wer in der georgischen Philosophie«). Der Philosoph hatte den Nachttopf geradewegs aufs Podium gestellt und sich laut an die dick in ihre Mäntel eingehüllten Professoren gewandt: »Das hier ist Scheiße, meine Herren, meine Scheiße, denn mehr haben Sie auch nicht von mir verdient! Hier, das ist Ihre Vergangenheit und das ist Ihr alter Ruhm!«

Als der Abend begann, fiel jedem diese Begebenheit ein, aber niemand hätte gedacht, dass auch ein Schriftsteller so etwas tun könnte. Die ehrwürdigen, durchgefrorenen Professoren, also die, denen noch der Geruch der Exkremente des Philosophen und Extremisten Schawadse in der Nase lag, besetzten Plätze in den vorderen Reihen und blickten mit skeptischer Miene (beziehungsweise mit einer, die damals alle hatten) auf den Autor umfangreicher Prosatexte, der auf der gleichen Bühne stand, auf die vor einigen Tagen der skandalöse Nachttopf gestellt worden war.

Zwar redete der Großteil der georgischen Bevölkerung obszön daher, aber öffentliche Obszönitäten waren noch nicht die Norm.

Zu jener Zeit war ich immer noch ein – objektiv betrachtet – sündloser Jugendlicher und hätte weder bestätigen noch abstreiten können, dass Sex in der Sowjetunion praktiziert wurde, aber wenn jemand das Wort Sex in den Mund nahm, konnte er in große Schwierigkeiten geraten und bekam die absurde Wut der Zuhörer zu spüren. Das würde jeder bestätigen, der seit den 30er-Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts bis in die Jahre 1992, 1993, 1994 und 1995 die Schule abgeschlossen hatte.

Und siehe da, plötzlich trat in einem Saal der Staatlichen Universität ein Redner auf und fing an, Texte zu lesen, in denen gleich im ersten Satz deutlich und höhnisch dieses Wort zu hören war: Ficken.

Dieses Wort vernahmen zuallererst die durchgefrorenen greisen Professoren in der ersten Reihe (manche hielten sich die Ohren mit dem Mantelkragen zu, manche zogen sich die dicke Mütze über den Kopf, und andere glaubten einfach, sie hätten sich verhört), aber der Text ging weiter und das Wort lag über dem gesamten Saal: Ficken. Ficken. Ficken.

Erst fing eine alte Frau in der Ecke an zu kreischen, dann stieß jemand in den hinteren Reihen eine Art Verwünschung aus, ein junger Glatzkopf. Wie eine Welle durchlief ein Krampf die erste Reihe, und diejenigen Zuhörer, die Ruhe bewahrt hatten, schauten sich um: Wieder Extremismus? Wieder Beleidigung? Was hat man mit uns vor?

Seufzer und aufgeregte Rufe waren zu hören. Wie Gewehrschüsse peitschten verbotene Informationen durch den Saal: Er hat diese gefickt, die hat jenen gefickt, und das wäre ja noch zu ertragen gewesen, hätte der Autor seine Obszönitäten nicht mit der erhabenen alten georgischen Sprache gemischt und uns verkündet, wer wen wo in Georgien fickte, als würde er ein in die Schulpflichtlektüre eingegangenes hagiografisches literarisches Denkmal lesen, zum Beispiel »Das Martyrium der Heiligen Schuschanik« aus dem fünften Jahrhundert.

Ein Aufschrei ging durch den Saal, mir schien, als wischte sich ein Mann Tränen aus den Augen (weinte er etwa?), einige klatschten Beifall … Der Autor rief uns von der Bühne aus zu: Ficken, Ficken, Ficken!

Sollte das schon erlaubt sein?

Meine Großmutter und ich waren einmal ins Kino gegangen, in einen Film, den die meisten schon mehrmals gesehen hatten, denn damals war es normal, sich Filme mehrmals anzusehen. Es lief »Es war einmal in Amerika«, den offenbar meine Großmutter im Gegensatz zu mir eigenartigerweise zum ersten Mal sah, und bei der Szene, in der Robert De Niro das tut, was der extremistische georgische Autor mit einem obszönen Wort beschrieb, hielt sie mir so lange die Augen zu, bis die verstörende Episode vorbei war. Die Szene zusammen mit meiner Großmutter zu erleben war auch für mich kein Vergnügen, und ich hätte deswegen einen Streit vom Zaun brechen und ihre Hände wegschieben können, aber das tat ich nicht, weil ich erstens Angst vor einem leichten Familienskandal hatte und zweitens begriff, dass ich beim Spiel meiner Großmutter mitmachen musste, um einander die Peinlichkeiten von Anfang an zu ersparen. Gott sei Dank hat sie mich nicht gebeten, die Finger in die Ohren zu stecken.

Als ich diese Begebenheit in ihrer Gegenwart meinem Vater erzählte, verteidigte sie, damit wir sie nicht der Verklemmtheit bezichtigten, ziemlich laut ihren Standpunkt und gab demjenigen, der es wissen wollte, zu verstehen, dass man schlau genug hätte sein sollen, seinen Enkeln beizeiten die Augen und Ohren zuzuhalten, »egal, ob sie so alt sind wie dieses Kind oder viel älter«, dann hätten sie sich nämlich nicht im Stil der Filmmörder gegenseitig auf der Straße umgebracht.

Diesmal musste mir keiner die Ohren zuhalten – die Leute rannten nur in Scharen aus dem Saal. Als ob da ein Mörder auf der Bühne stände!

»Worüber machst du dich lustig, du Missgeburt?«, schrie jemand vom Ende des Saales her. »Über unsere Geschichte? Unsere Sprache?«

Die, die dageblieben und nicht fluchend davongerannt waren, fühlten sich alle merkwürdig glücklich, dass diese furchtbaren Wörter im frostigen, schäbigen Saal der Universität so laut und kategorisch zu hören gewesen waren. Als hätten die jahrelang verbotenen Wörter und die Wut ihre Daseinsberechtigung wiedergefunden. Dabei hätte ich mich eigentlich unwohl fühlen müssen, wie kurz vor meiner Ankunft hier, als ich mich beim Wasserballtraining in der Umkleide verspätete (wahrscheinlich hatte ich mich mit dem Fuß in der Hose verheddert oder die Badekappe nicht rechtzeitig gefunden) und der Trainer mich so laut rief, dass es das ganze Schwimmbecken hören konnte: »Was ist los, hast du etwa gewichst?« Als Antwort verkündete ich am selben Tag zu Hause, nie wieder zum Wasserball zu gehen (das war sowieso nur die nächste Idee meiner Mutter nach dem Weg der heiligen Nino gewesen, und ich konnte es kaum erwarten, mich vor dem Ganzen wieder zu drücken). Meine Mutter interessierte es außerordentlich, was mein Lehrer denn zu mir gesagt haben könnte, ich konnte mir aber überhaupt nicht vorstellen, den Wortlaut in ihrer Gegenwart zu wiederholen. »Sag es deinem Großvater«, schlug sie am Ende vor (ich dachte, was drängt sich diese Frau mir denn so auf), aber auch ihm gegenüber fiel es mir schwer, die Frage des Trainers zu wiederholen, nur dass mein Großvater mit seiner ihm eigenen kompromisslosen Art den Trainer sogar noch übertraf: »Hat er ›Ich ficke deine Mutter‹ gesagt?«

»Nein …«

»Hat er ›Ich ficke deinen Vater‹ gesagt?«

»Nein, Opa …«

»Hat er ›Fickt ihr euch in den Arsch?‹ gesagt?«

»Oh Mann, natürlich nicht!«

Ich kapierte nicht mal seine Fragen.

»Was für einen Scheiß hat er denn zu dir gesagt?«

Damit dieser Albtraum von Befragung endlich endete, musste ich den Grund meiner Aufregung offenbaren, deshalb überwand ich mich und wiederholte deutlich die Bemerkung des Trainers.

Mein Großvater wurde nicht wütend, er gab nur einen kurzen, unklaren Kommentar ab oder eher einen Laut: »Oh.«

Schon komisch, aber während mich jenes gar nicht mal so skandalöse Wort vom Schwimmbecken noch in die Flucht geschlagen hatte, fesselte mich diesmal die mittlerweile legitime und rückhaltlose Obszönität, das hundertmal ausgesprochene verbotene Wort an den Stuhl und faszinierte mich zudem dermaßen, dass ich bedauerte, nicht anstelle des Redners auf der Bühne zu stehen. Offenbar waren wir nicht gekommen, um einen literarischen Abend, sondern einen Racheakt zu erleben. Es stellte sich heraus, dass wir ein tödliches verbales Raketenabwehrsystem hatten: die grausame und bis zur Krankhaftigkeit aufrichtige Sprache, eine Waffe, die sich der Geschichte der Unterdrückung entgegenstellte.

 

Niemand rührte den Redner an – es hätte ja jemand auf die Bühne stürmen und den Sprachbeleidiger mit einem Fußtritt runter in den Saal befördern können! Aber nein. Diejenigen, die dageblieben waren, schrien ihn an, ließen ihn aber bis zum Schluss lesen. Er harrte wie ein unantastbarer Heiliger vor einer riesigen Tafel aus (auf der ungeachtet dessen, dass es fast März war, geschrieben stand: »Liebe Studenten, wir wünschen euch ein gesundes neues Jahr«) und fuhr ungestört fort, uns zu beleidigen: »Ficken! Ficken! Ficken!«

Denjenigen, die flohen, war klar, dass sie den zeitgenössischen georgischen Schriftsteller ein für alle Mal hassen würden; diejenigen, die blieben, waren so beflügelt, dass sie kilometerweit zu Fuß bis nach Hause laufen würden (was sie wahrscheinlich sowieso hätten tun müssen, weil es keinen Nahverkehr gab).

»Mein Lieber«, mein Vater tippte dem Redner auf die Schulter, »das hier war ein längst überfälliger, ehrlicher Protest, eine der besten Aktionen der letzten Jahre! Hervorragend! Du siehst ja, wie die Leute durchdrehen! Die wachen erst auf, wenn die eine Ohrfeige verpasst bekommen.«

»Das war meine Rache«, erwiderte er und wischte sich mit dem Handgelenk über die verschwitzte Stirn, »Zahn um Zahn. Wir wollen doch kein Maschinengewehr in die Hand nehmen!«

Der Priester im Flugzeug. Februar 2002

Meine Tasche kommt aus der Röntgensicherheitskontrolle, ich stecke den Pass in die Hosentasche, fädele den Gürtel durch die Schlaufen und versuche, meinen Blick von dem schnaufenden georgischen Priester hinter mir abzuwenden, der von schwarz gekleideten, fülligen Frauen begleitet wird. »Megi, Megi«, der Blick des Priesters irrt umher, »wo ist mein Telefon?« – »Hier«, antwortet Megi, die ihre Schuhe hatte ausziehen müssen und nun mit blauen Tüten an den Füßen und abgespreizten Armen neben einer Grenzbeamtin steht. Megi hat in jeder Hand ein Telefon.

Ich lege schnell die georgische Sprache ab. Als ob ich nichts mehr verstünde und nichts mehr sähe. Ich muss mir was überlegen, damit mich dieser Mann nicht sieht. Er erinnert mich an meine Ängste eine Woche zuvor: an den dunklen Garten des Patriarchats, die schwach gelblich beleuchteten Flure und den Geruch von Weihrauch drinnen im Patriarchat. Ich fühle mich verfolgt. Ich denke: Wohin kehre ich zurück? Warum kehre ich zurück? Nach einer Weile sehe ich ihn zusammen mit einer zwei Köpfe kleineren Frau durch den Duty-free des Istanbuler Flughafens schlendern. Die dicke, agile Megi schreit durch den ganzen Flughafen: »Vater Bessarion, möchtest du Schokolade oder sonst was?« Nicht möchten Sie, sondern möchtest du. Wahrscheinlich sind sie zusammen zur Schule gegangen.

Ich komme aus Mailand, wohin ich sieben Tage nach meiner Nicht-Reue gefahren war. Ich habe kein Geld mehr beziehungsweise gerade so viel, um mir davon ein Wasser kaufen zu können. Unter fremden Leuten fühle ich mich ruhiger als unter meinen Landsleuten, die am Gate Istanbul–Tbilissi zusammengepfercht sind.

Ich besteige das Flugzeug, setze mich in die erste Reihe, Megi und die Frauen quetschen sich hinter mich. Diese Megi hat dicke Arme, sie stopft die Tasche eifrig ins Gepäckfach, Vater Bessarion möchte in der Businessclass sitzen.

Ein kleiner Vorhang trennt meinen Sitzplatz von seinem. Ich sehe, wie die Flugbegleiterin gekühlte Getränke reicht und er auf komische Art Alkohol verlangt: »Bitte, hier, Whisky.«

Danach schließt sich der Vorhang.

Ich stelle mich schlafend: Ich habe sogar meinen Mund leicht geöffnet, damit es glaubhaft wirkt.

Das Flugzeug rollt auf die Startbahn, die Besatzung ist angeschnallt, plötzlich steht eine alte Georgierin auf, öffnet das Gepäckfach und versucht, eine Tasche herauszunehmen. Die alte Frau wird zurück auf ihren Platz gesetzt. »Ich dachte, ich könnte vielleicht was essen«, sagt sie. Ihr Telefon ist ebenfalls nicht ausgeschaltet. Sie versteht weder in ihrer Mutter- noch in Gebärdensprache, dass Telefone nicht benutzt werden dürfen. Ich weiß jetzt schon, wenn sie es ihr am Ende doch begreiflich machen, wird sie sagen, sie wisse nicht, wie man das Telefon ausschaltet, und wird es weinend irgendwem in die Hand drücken: »Ich weiß es doch nicht, mein Sohn hat es mir gegeben.« Aber es gibt Schlimmeres als das, denn wir alle haben eine große gemeinsame Angst – vor einigen Monaten sind in New York zwei Flugzeuge in die Zwillingstürme gekracht, und jedes leicht unangemessene Verhalten kommt uns anormal und verdächtig vor. Die alte Frau wird auf ihren Sitzplatz verfrachtet, ich schließe die Augen, höre ihre Stimme – sie erzählt der jungen Frau neben ihr: »Fünf Jahre lang bin ich nicht in Georgien gewesen, mein Neffe ist gestorben, außer mir haben sie niemanden mehr, ich kümmere mich um meinen betagten Bruder …«

Sie ist selbst betagt.

»Meine Gute, kommen wir heute an?«

Offenbar sitzt sie zum ersten Mal in einem Flugzeug. Wie ist sie dann nach Istanbul gekommen? Wie hat sie es bis hierher geschafft? Oder wie kam sie überhaupt bis ins Flugzeug?

Ich versuche, nicht mehr darüber nachzudenken. Es kommt mir vor, als ob diese Frau noch größeren Unsinn von sich gibt: »Kommen wir von vorn oder von hinten angeflogen?«

Jemand berührt mich an der Schulter und schüttelt mich gehörig durch. Ich öffne die Augen, vor mir steht Vater Bessarion.

»Entschuldigung, hab ich dich geweckt?«, fragt er.

»Nein, nein.« Was soll’s.

»Falls du nicht müde bist, komm doch rüber nach dem Abendmahl, neben mir sitzt keiner. Ich hab’s schon den Mädels gesagt …«

In Flugzeugen gibt es ein Abendmahl?!

Vater Bessarion hat gerötete Augen und irgendwie unnatürliche, wie mit einem schmalen Pinsel aufgemalte, ängstlich hochgezogene Augenbrauen. Er spricht mit hoher Tenorstimme, aber nicht besonders laut. Die alte Frau schaut den unbekannten Priester liebevoll an, wahrscheinlich möchte sie auch ihm unbedingt erzählen, warum sie nach Georgien zurückkommt. Erzählen und sich segnen lassen … Gleich hier – im Gang der Economyclass. Ich ahne, dass meine Mitpassagiere mit Vergnügen eine Predigt von Vater Bessarion hören würden, der wie die Flugbegleiterinnen im Gang stehen könnte: »Flieget hin und werdet glücklich!«

Ich ärgere mich, dass ich parieren muss, dass ich wieder gehorchen muss, so wie ich schon diesen ganzen letzten Monat gehorcht habe, dass ich mich erneut darum drücke, Ja oder Nein zu sagen, und trotzdem stehe ich auf und folge ihm in die Businessclass, als ob ich vor seinem Sitzplatz die Beichte ablegen wollte.

Vater Bessarion schnallt sich flink mit zittrigen Händen an und vertraut mir mit zugekniffenen Augen und besorgt-müdem Gesicht seine Reisegeschichten an: Diese Megi und die anderen Frauen seien Mitglieder seiner Gemeinde, die via Istanbul nach Griechenland geflogen und jetzt aus Athen zurückgekommen seien, sie hätten an den Gräbern orthodoxer Heiliger gebetet und auch überdies allerhand erlebt, was er mir ausführlich erklärt. Dann erzählt Vater Bessarion von Megis Abenteuern. »Ein gutherziges Mädchen«, sagt er leise, »hat seinerzeit viel erreicht … hat eine Chance bekommen, auch finanziell, nur …«

Jedenfalls sieht es aus, als habe man ihr später alles weggenommen, denn nun stand ihr der Sinn nach einer Reise zu heiligen Gräbern.

»Sie schauen anders auf den Glauben … nicht so, dass sie sagen würden: Wo ist das Wunder, lass es mich berühren … Nein, so nicht … Wie Apostel Thomas den Finger in die Wunde legt, so in etwa.«

Vater Bessarion versucht sich umzuschauen, er will wissen, ob ihn jemand hört, aber er hat den Gurt so festgezogen, dass er sich nicht umdrehen kann oder ihm schlecht wird, wenn er sich bewegt. Plötzlich errötet er wieder. Stattdessen blicke ich mich um und schaue Megi an, die schon schläft, den Mund offen: Es gibt Menschen, die unheimlich schnell einschlafen. Genau so ein Mensch ist Megi.