Der erste Russe

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Nun, Schriftsteller wurden normalerweise nicht mit Liebe assoziiert, denn georgische Literaten waren größtenteils aggressiv. Um die Einschaltquoten zu erhöhen, besuchten die Fernsehsender oft ein Zentrum des postsowjetischen Anachronismus – den Schriftstellerverband, wo unbekannte Schriftsteller zu Hunderten beinahe täglich Krieg um früher wichtige, jetzt unwichtige, wenn auch gut klingende literarische Posten führten. Präsident Schewardnadse betrachtete die Schriftsteller als »seine Intelligenzija« und finanzierte den Schriftstellerverband mit einer nicht allzu großen Summe aus dem ohnehin schon kleinen Staatshaushalt. Damit gab man seinen Schriftstellern die Möglichkeit, sich im historischen Hof des Schriftstellerhauses eine bäuerliche Existenz aufzubauen. Diejenigen, die reingelassen worden waren, erzählten, die Schriftsteller hätten Gurken und Tomaten im Hof angebaut und es sei Gegacker von versteckten Hühnern und sogar Ferkelgequieke zu hören gewesen. Wenn jemand fragte, wie ein historisches Gebäude mit illegaler Landwirtschaft zu vereinbaren sei, bekam er von einem wütenden Schriftsteller-Bauern ein total plausibles Argument als Antwort: »Nun, muss die Schriftstellerschaft etwa nichts essen? Sollen wir Meister der Worte etwa hungern?«

Als ein Journalist auf der Bauernsitzung der Schriftsteller die irritierende Frage stellte: »Es heißt, die Schriftsteller hätten einen Zwiebelhandel, stimmt das?«, brach im Schriftstellerverband ein unglaublicher Streit aus: Der Schriftsteller Schotadse schlug dem Journalisten sein Buch »Das Buch der besten Nekrologe« auf den Kopf, die Übrigen nahmen dem Kameramann seine Kamera weg und verfolgten ihn bis zur Ausgangstür.

Abends, noch bevor der Strom entgegen dem Zeitplan ausgeschaltet wurde, zeigten alle Fernsehsender, wie der Schriftsteller Schotadse den Journalisten mit seinen besten Nekrologen verfolgte und der Sekretär des Schriftstellerverbands einen angsteinflößend laut bellenden Hund auf den Kameramann hetzte. Der Hund hatte dem Kameramann bis zur Straßenecke nachgestellt, lief aber nicht weiter, weil der Mann es unbeschadet bis zum Auto geschafft hatte, hineingesprungen war und ihn daraus beschimpfte. Den Journalisten hatte eine unbekannte Dichterin, irgendeine Maria Scharikadse, zum Hinterausgang gebracht und bedauernd gesagt, es gebe hier auch normale Leute und man dürfe nicht alle in einen Topf werfen: »Uns gefällt auch nicht, was in diesem Land passiert. Auch wir haben Ahnung von Kunst, wir sind doch keine Wilden«, sagte die Dichterin.

In der Sendung, in der über die Auseinandersetzung im Schriftstellerverband berichtet wurde – den Kontrast zwischen Anachronismus und Gegenwart, beziehungsweise zwischen Jugend und älterer Generation –, gab es auch ein Interview mit ein paar jungen Schriftstellern, unter ihnen ein neues Gesicht (nämlich meins), fälschlicherweise trug es jedoch einen anderen Namen. Gegen Abend hatte mich eine Kollegin des mit dem Buch geschlagenen Journalisten angerufen und gefragt, ob ich mich zum Zwischenfall im Schriftstellerverband äußern wolle. Es klang eher nach einem Befehl als nach einer Bitte, dem ich sicherlich auch gleich Folge geleistet hätte, wenn mich die Journalistin nicht mit dem falschen Namen angesprochen hätte: Sie rief offenbar bei einem anderen Vor- und Nachnamen an, worauf ich sie auch sofort fast entschuldigend aufmerksam machte. Die Journalistin wunderte sich und legte auf, rief aber kurze Zeit später erneut an und meinte, sie habe den Namen verwechselt und wirklich bei mir anrufen wollen. Man hatte dann ein Interview mit mir aufgezeichnet (der Kameramann hatte keuchend die Kamera heraufgeschleppt, weil er nicht glauben wollte, dass in unserem Block der Strom nie ausfiel, und er deshalb den Fahrstuhl nicht benutzt hatte), ich jedoch sagte genau das, was von mir erwartet wurde: dass die Großväter Vergangenheit sind.

So wurde ich noch mal neu geboren, mein Fernsehgesicht sprach an einem Tag über sich selbst und seine Berufsgewohnheiten (dabei allerdings persönliche Dinge übergehend), am nächsten über Stromausfall, Kälte und Politik.

(–2)

An jenem Morgen, als die Aktion gegen den Stromzeitplan begann, wollte ich zu Ani gehen, die im anderen, dem historischen Teil der Stadt wohnte, doch unterwegs hätte ich es mir ein paarmal beinahe anders überlegt, weil die frisch formierten passiven Anarchisten die Erfindung der georgischen Demonstrationen – angezündete Reifen – in den Straßen herumrollten. Wenn etwas zwischen den verdunkelten Häusern leuchtete, waren das hie und da brennende Lagerfeuer und an Fernsehkameras angebrachte gelb flackernde Lampen, welche die Gesichter der aufgebrachten Demonstranten noch fahler erscheinen ließen. Ein Mann schrie in die Kamera: »Will er nicht mal sterben? Ist er Fidel Castro?« Frauen, bei denen ich nicht sicher war, ob sie den Morgenrock über den Mantel gezogen hatten oder umgekehrt, beschwerten sich kreischend über die unerträgliche Dunkelheit und den jenseits jeder Logik kommenden und gehenden Strom.

Ich hatte eine Mappe dabei, in der meine neueste vierzehnseitige Erzählung lag – ein Text, dessentwegen ich überhaupt aus dem Haus ging, was für mich in Zeiten der totalen Arbeitslosigkeit als Arbeit zählte.

Die Geschichte sollte wie eine parodistische Ergänzung zu Basili Esosmodsghwaris Chronik aus dem dreizehnten Jahrhundert anmuten, ich hatte sie während einer zweiwöchigen Schlaflosigkeit geschrieben, verkehrt herum nummeriert (weil ich darin schilderte, dass eine Episode in der Geschichte Georgiens verkehrt lief) und zuerst mir selbst und dann meinem Vater vorgelesen, dessen erster Eindruck so treffend war, dass er zum Titel der Erzählung wurde: »Im Prinzip ist das für uns der erste Russe

Bei Ani erwarteten mich Strom und eine dicke gelbe Jacke am Garderobenhaken.

Sie gehörte Anis Cousin Akako, der vor einem Monat mit seiner Schweizer Freundin aus Deutschland gekommen war. Akakos Eltern waren gestorben, als er noch ein Kind war, und seine Onkel und Tanten hatten seine Erziehung übernommen, unter anderem Anis Mutter, die unaufhörlich von Akakos Erfolgen, seinen zahllosen Diplomen und den Besonderheiten des Lebens in Deutschland erzählte. Akako vermietete seine Tbilisser Wohnung schon seit Jahren an Diplomaten aus dem Ausland und stieg, wenn er selbst in Tbilissi war, in der Wohnung der Tante ab. Akako hatte einige Diplome, unter anderem in Politologie und Sozialwissenschaften, hielt sich aber selbst für einen Kenner von Poesie. Er las der von seiner Liebe hypnotisierten Schweizerin Lena exzentrische, in einer unverständlichen Sprache verfasste Rezitative vor. Akako war in diesem Jahr das erste Mal in einer konkreten Funktion und mit Zielen nach Georgien gekommen, die durch die Herausgabe einer Zeitschrift namens »Freie Epoche«, finanziert von einer österreichischen Stiftung, erreicht werden sollten. Akako hatte den Leiter der Stiftung »Friedlicher Kaukasus«, Herrn Schota (und – nicht weniger wichtig – seine Frau Eva) von der Bedeutsamkeit der Zeitschrift überzeugen können, denn mit ihr wollte er seine mentale Revolution starten. Nach achtmonatiger Prüfung bestätigte die Stiftung beziehungsweise Herr Schota und dessen Frau Eva das Budget der Zeitschrift, und Akako machte sich auf die Suche nach Redaktionsmitarbeitern.

Akako verhielt sich diesmal um einiges angepasster; nach seiner vorigen Rückkehr hatte er eine politische Partei mit dem Namen »Gleichberechtigungspartei – Evolution, Weisheit, Fortschritt« gründen wollen und als Kraftprobe fast täglich vor dem Parlament skandiert: »Nieder mit den Spießern und Kleingeistern!«

Es kümmerte ihn jedoch nicht, dass Spießer und Kleingeister im stromlosen, vereisten Georgien nicht das Hauptproblem waren.

Einmal hatte er sich in den Kopf gesetzt, zum Hungerstreik gegen in Georgien ansässige Konzerne aufzurufen, aber seinen Zuhörern, völlig mittellosen Männern, fiel kein einziges Unternehmen ein, welches Kampf und Vernichtung wert gewesen wäre: »Also gegen die Regierung?«, fragten sie.

Nun verschwendete er keinen Gedanken mehr an die Partei, sehr zur Freude seiner Tante – Akako versuchte eine Zeitschrift ins Leben zu rufen, welche, wie er sagte, dabei helfen würde, die im Embryonalzustand befindliche georgische Zivilbevölkerung aus dem lethargischen Schlaf zu reißen.

Überall lagen Akakos und Lenas quietschbunte Sachen herum – solche, die den Optimismus der Ferne und eine Spur Wohlstand erkennen ließen. Auch Ani passte ihr Leben dem Fahrplan von Akako und Lena an: Sie nahm Frühstück, Mittagessen und Abendbrot zu festen Zeiten mit ihnen zusammen ein, was sie ohne die beiden so pedantisch nie getan hatte, es war, als würde sie ihnen zuliebe ein neues Regime und einen neuen Lebensstil einführen: Sie trank beispielsweise morgens frisch gepressten Orangensaft.

»Hast du sie dabei?« Akako freute sich.

»Hier.« Ich zog die Mappe heraus.

»Wovon handelt sie? Ist sie gut?«

»Von der Beziehung zwischen Russland und Georgien«, antwortete ich.

»Hast du Hunger?«, fragte Ani, die Hand stolz auf der Teekanne, eine Pose wie auf einem Renaissancegemälde.

»Weiß nicht.« Ich zuckte mit den Schultern und warf einen Blick auf den Tisch: Es kam darauf an, was es gab.

»Fangen wir mit den aktuellen Themen an?« Er hatte schon zu lesen begonnen. »Das ist gut!«

»Achthundert Jahre zurückliegende aktuelle Themen.«

Akako lachte und fing an, langsam, wie im Takt einer Musik, zu klatschen: »Bravo, das ist gut, bravo« (manchmal brachten ihn Dinge zum Lachen, die absolut nicht lustig waren). Dann beschloss er, gleich für Lena zu übersetzen, war dann aber doch zu faul, den Satz zu beenden, und sagte mit müdem Gesichtsausdruck: »Du findest es doch nicht schlimm, wenn ich ihr das nicht übersetze? Ohne Kontext versteht sie es sowieso nicht, das hat keinen Sinn.«

 

Lena lächelte ihren Geliebten an, weil sie merkte, dass sie über seine Aussage lachen sollte, obwohl Akako ihr nichts übersetzte, er nahm ihre Hand und zog sie auf seinen Schoß.

»Ups«, sagte Lena, die eine Tasse hielt und Angst hatte, den Kaffee zu verschütten.

»Sie ist sehr einfach gestrickt und süß«, fuhr Akako auf Georgisch fort, »so jemand wurde früher wahrscheinlich mit einem Bauern verheiratet. Sie ist unbelesen, interessiert sich für nichts außer fürs Essen und für mich …«

»Was?«, fragte Lena auf Deutsch, weil sie immer noch hoffte, Akako würde sie zum Lachen bringen.

»Nichts«, antwortete der, »ich sage, dass du viel isst, aber gute Gene hast und deshalb nicht dick wirst.«

»Und wenn sie doch versteht, was du sagst?«, fragte Ani und zündete sich eine Zigarette an.

»Nicht ausgeschlossen, dass sie mich veräppelt und alles versteht«, sagte Akako allen Ernstes, »sie stellt sich vielleicht nur dumm … Jetzt fällt mir ein, mit welcher Vehemenz sie was mit mir anfangen wollte, manchmal frage ich mich, ob sie nicht der Geheimdienst auf mich angesetzt hat. Die Niedlichen und Taktvollen sind die Gefährlichsten. Aber wenn sie Spionin ist, habe ich lieber sie in meiner Nähe, denn bei ihr weiß ich schon, woran ich bin. Nicht dass sie mir dann jemand Gefährlicheres schicken. Bist du über mich im Bilde?«, fragte Akako Lena und beugte sich zu ihren Lippen. Lena begriff, dass sie jetzt alles und jeden vergessen, die Tasse auf den Tisch stellen und die Zunge ihres Geliebten in den Mund hineinlassen musste. So eine unerwartete Leidenschaft wäre normalerweise für Anis Küchen-Mittagslunch unangebracht gewesen, aber Akako und Lena pflegten oft in Gegenwart anderer Zärtlichkeiten auszutauschen.

»Mach den Jungen nicht verrückt, der ist noch klein«, schrie Ani ihren Cousin an und kicherte errötend.

Klein war ich.

»Warum, ist küssen etwa strafbar?« Akako schob den Kiefer vor, so wie er es oft tat, wenn er etwas Lustiges sagen wollte.

In Wirklichkeit fühlte sich Ani genauso unwohl wie ich, wenn Akako und Lena anfingen, sich mit exhibitionistischem Verlangen zu streicheln. Ani und ich hatten einmal lange darüber philosophiert, ob das Zurschaustellen von Liebe und Leidenschaft vulgär und wichtigtuerisch ist (konkret nach einer von Akakos und Lenas ersten öffentlich-erotischen Liebkosungen), denn uns beiden schien es, als wäre die scheinbare Gleichgültigkeit gegenüber den Augenzeugen ihres Tuns eher ein Zeichen für unechte Liebe und unverarbeitete Komplexe als für gegenseitiges ehrliches Verlangen.

»Warum sollte ich dich denn im Beisein von hundert Leuten bespringen und ablecken wollen?!«, sagte Ani.

Unseren Freunden ging es manchmal auf die Nerven, wie einträchtig und energisch Ani und ich das Verhalten anderer Leute bewerteten. Ihrer Meinung nach spielten wir uns als Moralisten auf, und wenn es am Ende nichts und niemanden mehr gab, dem wir einen Vorwurf machen konnten, fingen wir miteinander einen Streit an. Ani sagte, andere würden uns beneiden, besonders die Paare, die einander nicht viel zu sagen hätten, wir jedoch schafften es immer, uns miteinander zu amüsieren, und sei es nur, indem wir andere detailliert analysierten und mehr oder weniger bloßstellten.

»Entweder hat er keine Hemmungen, oder es ist Teil seiner geistigen Revolution, Lena in aller Öffentlichkeit an die Wäsche zu gehen. Hat er mit Lena schon mal im Beisein deiner Mutter geknutscht?«, fragte ich Ani.

»Na klar, meine Mutter tut dann bloß so, als würde sie es nicht sehen, sie sagt dann meistens ›Meine Güte, ist es hier stickig‹ oder so was …«

Diesmal hörten sie eher auf als sonst, denn Akako musste in die Redaktion, um einen Fotografen zu treffen.

»Die nehme ich mit.« Er griff sich die Mappe. »Hast du meine E-Mail? Schick sie mir noch dorthin. Ich lese sie durch und gebe sie noch anderen zu lesen. Wir prüfen alle Texte, so ist das bei uns Usus. Hast du die Erzählung gelesen?« Er blickte Ani an.

»Ja.«

»Ist sie ein Meisterwerk?« Akako schob den Kiefer vor.

»Sie ist ein Meisterwerk«, antwortete Ani auf dieselbe Art.

»Angeblich ist sie ein Meisterwerk, Lenchen«, schrie Akako seine schüchterne Geliebte an. »Die erste Ausgabe hat ein bisschen was von Vetternwirtschaft, aber was soll’s, wir sammeln Meisterwerke.«

Als Akako aufstand, begriff Lena, dass sie gehen mussten, ansonsten hatte ihr niemand etwas gesagt; während ihr Geliebter singend auf dem Klo pinkelte, stieg sie in ihre Schuhe und zog eine dermaßen dicke Jacke an, als wolle sie eine Expedition in die Steppen Sibiriens machen.

»Sie sieht aus wie ein Küken.« Akako lächelte mitleidig und ging zur Garderobe. »Wir sehen uns doch morgen?«, fragte er, wartete jedoch die Antwort nicht ab, sondern verließ mit Lena das Haus.

»Er wäscht sich nach dem Klogang nie die Hände«, sagte Ani.

Wir waren allein, was sehr selten vorkam.

(–3)

Sex war ein großes Problem, genauer gesagt, der Sex selbst und nicht das Sexobjekt, wie vor sieben oder vielleicht erst fünf Jahren, als meine Klassenkameraden und ich aufgrund von Testosteronüberschuss und ständiger Unzufriedenheit unermüdlich die Stimmen unseres angebeteten (in andere verliebten) Schulschwarms nachahmten. Ani und ich hatten stets mit den Widrigkeiten des Lebens und der Akustik zu kämpfen: Entweder bekamen meine Wand an Wand sitzenden, liegenden oder stehenden Mütter, Großmütter und Großväter mit, was wir trieben, oder eins von Anis Kindern wurde unerwartet wach, was sie wirklich manchmal taten, gerade als wir dachten, sie würden bis zum Morgen durchschlafen.

Eine Wohnung zu mieten war unmöglich, also wirklich unmöglich, und das nicht wegen des Geldes oder eher des Geldmangels, sondern aus Angst, eine ernsthafte Entscheidung zu treffen, denn eine Wohnung zu mieten schien damals für mich tatsächlich eine ernsthafte Entscheidung zu sein. Das hieß allein zu leben, und ich wusste nicht einmal, wie ich diese Entscheidung hätte treffen sollen, ich hielt mich selbst für nicht alt genug und überließ deshalb die Entscheidung der älteren – sechsundzwanzigjährigen – Ani. Ani aber sagte nichts, sie dachte, für mich sei es total natürlich und akzeptabel, getrennt zu wohnen.

Eigenartig, dass wir uns mehr vor unseren eigenen Eltern schämten als voreinander: Ani hatte weniger Angst vor der Wand meiner Wohnung als vor jener, die ihr Schlafzimmer von dem ihrer Mutter und dem ihres Cousins trennte.

Genau genommen war zwischen mir und Ani nichts, was Ernsthaftigkeit erfordert hätte. Ich betrachtete mich als Anis Freund (und so war es auch), aber das hatte nichts zu sagen – tatsächlich lebte jeder von uns sein Leben. Wir haben nie ausgesprochen, wer oder was wir füreinander waren, und schon gar nicht, was unser Zusammensein bedeutete. Wir hatten am anderen einige Angewohnheiten lieb gewonnen, und diese verbanden uns. Ich wusste, dass ich Ani liebte, sogar sehr, denn ich war jedes Mal beunruhigt, wenn sie nicht gleich ans Telefon ging oder ohne mich irgendwohin gegangen war und sich auf dem Heimweg verspätete, ich rief bei ihr an, wie ich es als Kind mit meiner Mutter getan hatte, wenn ich dachte, sie würde sich verspäten. Außerdem war ich überzeugt, es ginge mich nichts an, was sie tat, deshalb war ich einmal mehr als erstaunt, als ich von Ani erfuhr, dass sie schon seit einem Monat die Reparaturarbeiten in Akakos Elternhaus beaufsichtigte und mit ihrem kleinen Auto herumfuhr, um Baumaterial zu kaufen. Selbst Ani war nicht auf die Idee gekommen, mich um Hilfe zu bitten, und auch ich hatte keinen großen Enthusiasmus versprüht. Sie liebte mich ja wegen »anderer Eigenschaften«.

Ani hatte ich das erste Mal bei einer Protestaktion auf einem kleinen Platz im Stadtzentrum gesehen, die nahtlos in einen Lyrikabend übergegangen war. Es war Sommer, und mein Blick blieb lange an einem sonnengebräunten Mädchen mit Jungshaarschnitt und ungewöhnlich langem Hals haften, das eine hübsche spitze Nase und eine angenehm vertraute Art zu sprechen hatte. »Liest du auch etwas vor?«, fragte sie mich mit dem Selbstbewusstsein, welches sonnengebräunten Menschen eigen ist.

Ich schrieb keine Gedichte (zumindest nicht, bis das Mädchen fragte), und Prosa unter freiem Himmel zu lesen traute sich nur ein verzweifelter Prosaiker. Meine Freunde erklärten sich immer nur unter Zwang bereit, einen neuen Text von mir anzuhören, denn Prosatexte langweilten alle, und doch ließen sie mir zuliebe riesige Auszüge über sich ergehen, und wenn ich sie, vom Lesen in Fahrt gekommen und ob ihrer Melancholie beunruhigt, fragte, ob sie sich langweilten, logen sie mich mitleidig an: »Nein, nein, überhaupt nicht … Ist es noch viel?«

Nur gut, dass ich beim Lesen nicht stecken blieb und spannende Stellen deutlich und fließend las. Jedenfalls stellte sich heraus, dass sie mich schon irgendwo lesen gehört hatte und mich kennenlernen wollte, sagte mir aber mit der für sie typischen selbstbewussten Direktheit, sie habe Angst gehabt, zu mir hinzugehen und sich vorzustellen – sie habe gedacht, ich hielte sie für dumm. Ich merkte, dass ich ihr Interesse an diesem Abend weiter schüren musste. Letztendlich vereinbarten wir unter dem Vorwand, dass ich »etwas Neues« vorlesen würde, ein nächstes Treffen, und zwar bald, zum Beispiel übermorgen. Ich scherzte, alle würden von Prosa müde, und hoffte, wenigstens sie würde diesem Genre gegenüber Taktgefühl entwickeln. »Ich reiß mich zusammen, versprochen«, sagte sie.

Ich sollte sie in zwei Tagen anrufen, und für mich war klar, dass ich das auch tun würde, denn in diesen zwei Tagen konnte ich an nichts anderes denken als an ihren langen Hals, ihre Schultern und ihren Bauchnabel, der unter dem kurzen karottenroten T-Shirt hervorblitzte. Aber es geschah ein Unglück: In unserem sechzehnstöckigen Block, in dem fast nie der Strom ausfiel, war der Strom plötzlich weg und – wie verhext – das Wasser ebenfalls, ich konnte mich weder waschen noch meinen hässlichen, kümmerlich sprießenden Bart abrasieren. Zu allem Überfluss hatte mich genau an jenem Morgen an der Lippe auch noch ein großes herpesähnliches Gebilde befallen. Ich rief Ani an, machte ihr etwas von einem angeblichen wichtigen Geschäftstermin weis und bat sie, unser Treffen um zwei Tage zu verschieben, worauf sie erwiderte, dass mir da sicher wieder was dazwischenkäme. Ani hatte eine leicht piepsige und recht komische Telefonstimme, weshalb ich anfangs dachte, es wäre jemand anderes rangegegangen. Als wir uns dann wahrhaftig trafen und ich den speziell ihr vorbehaltenen anderthalbseitigen Text vorlas, sagte sie mir, wiederum typisch geradeaus, sie habe an jenem Tag vom Morgen an auf mich gewartet und sei sehr enttäuscht gewesen, als ich absagte. Daraufhin gab ich ihr – auch für mich unerwartet – einen Kuss irgendwo neben ihre Lippen und erkannte zufrieden (oder vielleicht auch schon glücklich), dass sie in diesem Moment noch etwas von mir erwartete. Irgendwie war mir, als würde sie den Kopf leicht wegziehen (weil ich einen Moment vorher gedacht hatte, die Zeit sei noch nicht reif dafür), aber sie wartete nur neugierig ab.

Beeindruckender als ihre Neugier war für mich ihr leicht verspätetes Geständnis (möglicherweise, gerade um mich zu beeindrucken), sie habe gedacht, wir würden gleich am ersten Tag Sex haben, weshalb ich ohne nachzudenken fragte: »Wo hätten wir den haben sollen?« – »Na wo schon? Du hättest mich mit nach Hause nehmen können«, erwiderte sie. Ich war begeistert, dass ich es mit einem Menschen zu tun hatte, der viel älter und freier war als ich.

Von Anis zwei Kindern erfuhr ich gleich bei unserem ersten Treffen, als sie einen Anruf von ihrer Mutter bekam und sie dieser mit einer anderen Stimme – nicht der, mit der sie mit mir redete – befahl, sie sollten sich pünktlich schlafen legen. Dieser Befehl galt einem sechsjährigen Jungen, der wahrscheinlich verängstigt neben ihrer Mutter am Telefon stand: Offenbar hatte er seine jüngere Schwester geärgert und sie am Einschlafen gehindert.

Die Kinder ähnelten unbestritten der Mutter, besonders der Junge, der Anis Augen und Augenbrauen hatte und blondes Haar, wie es auch Ani in seinem Alter gehabt hatte: »Wenn er älter ist, wird es nachdunkeln«, sagte Anis Mutter, als fälle sie ein Urteil. »Alle dunkeln später nach.« In den Gesichtszügen des Mädchens verbarg sich irgendein Fremder, der weder Ani ähnelte noch dem Jungen oder der Großmutter – Mund, Kinn, Nase und Ohren (aber nicht den Körper, von dem es hieß, sie habe ihn von der hübschen Großmutter) hatte sie von jenem Mann, der fast acht Jahre lang Anis Ehemann gewesen war.

Dieser Mann hieß »geschiedener Ehemann« und Ani lebte schon mehr als zwei Jahre bei ihrer Mutter, ab und zu jedoch rief er an, um sich in Erinnerung zu bringen.

 

»Er nervt gern, und außerdem ist er sauer auf mich«, sagte Ani, »weil er mir nicht verzeiht, dass ich mir nicht wie das arme Mädchen alles gefallen lassen habe.«

»Das arme Mädchen« war die neue Frau ihres Exmannes, die eine schüchterne, passive Version von Ani darstellte – eine verängstigte und schicksalsergebene Ani, die ihr sogar äußerlich ähnelte.

»Siehste, so eine bin ich! Mich kriegt man nicht klein!«, sagte Ani mit ihrer Piepsstimme und lachte.

Wie ein Arzt, der sich die idiotischen Klagen eines Patienten genervt anhört, so hörte Ani ihrem Exmann so lange zu, bis sie sein Gerede, die banalen Anschuldigungen und Vorwürfe satthatte: »Er tut mir leid, ich kann aber auch nicht einfach auflegen«, sagte sie, »aber er tut nichts als jammern.«

Eines Nachts rief er an, als ich das erste oder zweite Mal bis spät bei Ani geblieben war. Er sagte, er stehe vor Anis Fenster, mit seinem Telefon von der Größe eines Maschinengewehrs, und drohte damit, die Scheiben einzuschlagen. Ich saß gerade vor dem leise gestellten Fernseher, Ani neben mir auf dem Rand der Liege, die Kinder schliefen und plötzlich Aufruhr. Der Exmann stand draußen. Er drohte. Ich dachte: Muss er sich herumstreiten? Was soll das? Geht mich das was an? Ich konnte ihn zwar durch die Ritzen der Fensterläden nicht sehen, war aber irgendwie sicher, er musste ein Riesenvieh sein.

»Lass uns die Polizei rufen«, sagte ich zu Ani.

»Nein, Mensch, er ist ein Feigling«, beruhigte sie mich.

Sie ging hinaus.

Ich dachte: Soll ich rausgehen? Und wenn ich rausgehe – wie soll ich mich ihm vorstellen – als der junge Schriftsteller oder als der neue Geliebte?

Ani kam bald zurück, und ich sagte ihr freiheraus, dass ich es nicht geschafft hatte, zu definieren, was genau ich war.

»Sich als Schriftsteller vorzustellen hätte keinen Sinn gehabt, er schaut kein Fernsehen. Und falls doch, kennt er keinen außer Schewardnadse und dem Patriarchen. Außerdem war er gar nicht da. Er hat mich veräppelt. Wahrscheinlich sitzt er zu Hause und ruft von dort aus an. Wenn er das noch mal macht, hab ich wirklich die Nase voll. Du hast mich noch nicht wütend erlebt.«

Hier war alles neu für mich: ein fremder neuer Mensch in meinem Leben und meine (oder seine) neuen Lebensumstände – Kinder, Mutter, Exmann und eine Vergangenheit, die einen nicht ruhen lässt. Ich erinnere mich, dass ich dachte: So wird das nicht gehen. Wahrscheinlich muss ich mich trennen.

Wir trennten uns nicht. Die Vergangenheit erwies sich als harmlos. Mehr noch, sie war kein Grund zur Eifersucht. Einmal hatte ich aus dem Nichts eine masochistische Anwandlung und versuchte mir Sex zwischen Ani und ihm vorzustellen, aber es gelang mir nicht. Auf jeden Fall gewöhnte ich mich sehr schnell an die neuen Lebensumstände: Wenn ich nicht zu faul war, las ich den Kindern vor dem Schlafengehen Märchen vor und fand das ganz normal.

(–4)

Eines Abends, als Ani, ihre Mutter und ich eine Sendung über Schriftsteller und Straßenstreikposten schauten (die Fernsehjournalisten der kritischen Opposition hatten völlig zusammenhanglose Themen in der Sendung miteinander verknüpft: die als Schewardnadses postsowjetische Intelligenzija bekannten Schriftsteller und die abgesperrten Straßen), entdeckte ich mich wirklich selbst im Mittelpunkt der wichtigen Nachrichten und fand außerdem Gefallen daran, von Leuten, die furchtbar unsympathisch und anders waren als ich, als Feind betrachtet zu werden – sie wurden in der Fernsehsendung als fleischgewordene Symbole des Anachronismus präsentiert.

Ich sah mich unversehens und völlig unerwartet der eingehenden Analyse der Kommentatoren ausgesetzt. Mein Fernsehdoppelgänger wurde von jetzt an stetig mit etwas, wenn auch nur leicht Skandalösem, in Verbindung gebracht, das vom Oppositionssender Tbilissi2 aufgewärmt, geschürt und aufgebauscht wurde, was mir manchmal innerlich gegen den Strich ging. Und plötzlich begannen sogar diejenigen, die mich von Kindesbeinen an kannten, mich nach meinem Fernsehauftritt wie meinen Fernsehdoppelgänger zu behandeln: Sie sprachen über Themen und auf eine Art mit mir, wie es ihrer Meinung nach einem Fernsehgesicht der neuen georgischen Zeit gebührte.

»Was musstest du dich auch darüber auslassen?«, fragte mich meine Großmutter am Telefon. »Kennst du die Leute da überhaupt? Wenn du so ein loses Mundwerk hast, warum mischst du dich in deren Streitereien ein?«

Der Anruf meiner Großmutter ging mir auf die Nerven, weil sie erstmals und unverblümt meinen politischen Standpunkt bewertete. Irgendwie dachte ich, meine Großmutter gäbe es nur auf familiärer Ebene und sie würde keinesfalls jene Grenze überschreiten, wo sie keine Großmutter mehr wäre. Plötzlich konnte ich mir deutlich vorstellen, wie sie die »Klappe halten«-Geste machte, um grob und witzig zugleich dafür zu sorgen, mein loses Mundwerk zum Schweigen zu bringen. Jedenfalls sagte ich beleidigt, sie hätte ja keine Ahnung und wenn sie mehr Einfühlungsvermögen haben würde, hätte sie angerufen, um mich zu loben und nicht, um mir die Leviten zu lesen. Meine Großmutter wiederum war von meiner Bemerkung genauso gekränkt wie ich von ihrer; bevor sie auflegte, schrie sie einen wegweisenden Ratschlag ins Telefon: »Wenn du im Fernsehen auftrittst, musst du ruhig und lächelnd sprechen und nicht gereizt und schnell! Niemand wird dir zuhören, was du zu sagen hast, wenn du wie ein Verrückter losquatschst und allen auf die Nerven gehst.«

Ich gab meiner Großmutter deutlich zu verstehen, dass ich auf ihre Meinung pfiff. Nach dem Telefonat beschlich mich das Gefühl, dass mir wirklich jemand (in diesem Fall das Fernsehen) eine neue soziale Rolle zugedacht hatte und alles, was ich sagte und worüber ich etwas sagte, für mich völlig bedeutungslos war. Plötzlich erkannte ich, dass ich von den Leuten, die frustriert waren über den Zeitenwandel und über die Schwächung, wenn nicht gar den Verlust ihres Status, fast genauso viele Beleidigungen einstecken musste wie die Journalisten während ihres Aufenthalts im Schriftstellerverband; auch mir würde das Stigma des Beleidigers und Beleidigten für immer anhaften, wie allen in Georgien, die eine Funktion im medialen oder politischen Leben erfüllten.

Irgendwie dachte ich, der Streit im Schriftstellerverband und meine Reaktion darauf würden in der neu eröffneten Redaktion der »Freien Epoche« unter die Lupe genommen, jedoch regte sich niemand hier über das Treiben der Bauern-Schriftsteller auf.

Die Wände waren weiß gestrichen worden, und überall hing Farbgeruch in der Luft. Das Knarren des alten, jedoch mustergültig gewienerten Parketts war durchs ganze Büro zu hören, die von der Stiftung extra für die Redaktion gekauften vier Computer waren teilweise noch mit zerknitterten Plastiktüten verhüllt.

Sitzkreise hatten sich gerade erst etabliert, in Georgien waren sonst Zusammenkünfte im Stile des Zentralkomiteesekretärs üblich: an der Stirnseite des Tisches – unser aller Schewardnadse, die anderen an den Seiten.

Akako stand an der neuen weißen Tafel und schrieb mit rotem Filzstift die Überschriften der voraussichtlichen Publikationen für die erste Ausgabe auf (auch das war neu: Filzstift statt Kreide).

»Setz dich doch, setz dich!«, rief er mir gleich beim Hereinkommen entgegen.

Ich setzte mich zwischen zwei Frauen, die mich, für Nichtregierungsorganisationsmitglieder typisch, mit Sportsgeist und Energie begrüßten. Offensichtlich war ihnen die Bedeutung einer richtigen Begrüßung auf der Arbeit bewusst. Als ich mich im Kreis umsah, fiel mir auf, dass nur zwei Leute dem männlichen Geschlecht angehörten – ich und Akako –, was ich als Grund für die Exaltiertheit des Letzteren ausmachte. Rechts von mir saß die Rubrik Justiz und Gesellschaft (eine blonde, stupsnasige Frau), links Urbanistik und Ökologie (eine bebrillte Dame mit Oberlehrerinnenmiene).