Was am Ende bleibt

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Die Fernfahrerbar

Alle paar Minuten unterbrechen die beiden das Gespräch, um Bekannten zuzuwinken oder sie anzulächeln, ständig kommt jemand vorbei, um sie zu grüßen. Sie wirken wie ein lebendiges geselliges Paar. »Wir haben uns hier im Heim kennengelernt«, sagen sie, dann beginnen sie zu erzählen, nacheinander, durcheinander, und lächeln sich heimlich an, wenn sie dieselbe Geschichte gleich in Erinnerung haben.

Aufgeschrieben von: Laura Fischer

»Ich hasse ihn«, sagte ich als fünf- oder sechsjähriges Mädchen zu meiner Mutter. Als ich auf jedem Hof in Niederösterreich kniete und Rüben pflanzte für Geld, das ich nie sah. Die hölzerne Sparkasse, die er mir schenkte, blieb immer leer, oft nahm mein Vater mich noch mit in die Bar und ich musste zwischen den Beinen der Kartenspieler umherkriechen und das Kleingeld aufsammeln. Meistens sah er danach noch selbst nach, ob ich nicht etwas vergessen hatte. »Ich hasse ihn, wenn er bei der Tür reinkommt«, sagte ich mir, als ich vor meiner Mutter knien musste. »Hure«, sagte ich, so, wie er es mir befahl, dabei war sie keine, bei Gott nicht. Danach haben wir beide geheult, meine Mutter und ich. »Er soll bei lebendigem Leib krepieren«, sagte ich mir, und sagte ich meiner Mutter, als er die Hundepeitsche holte, ich dachte es mir, als er mich würgte, und dann dachte ich gar nichts mehr, dann war ich bewusstlos.

Das erste Mal geraucht habe ich als kleiner Bub mit sechs. Mein Freund aus der Schule ging damals immer zu den Russen, betteln. Ich bin 1945 geboren, kurz bevor die russische Besatzung begann. Einmal nahm mich der Freund mit. Einer der Russen gab mir eine Selbstgedrehte, das war nur Tabak in Zeitungspapier gewickelt. Manchmal bin ich mit dem Freund ins Russenlager gegangen, Kirschen klauen, und Marillen. Wenn sie uns gesehen haben, haben sie uns sofort weggejagt. Einmal habe ich den Stacheldraht oben am Zaun in die Augen gekriegt, geblieben ist mir aber nur eine kleine Narbe. Sonst ist nie etwas passiert.

In meinem Leben war ich oft Kellnerin. In Wirtschaften, Nachtlokalen, Cafés, überall, wo gerade eine Hand gebraucht wurde. Mit 16 war das noch in der Bar zu Hause in St. Pölten.

Ich sah sofort, wie er mich ansah, es war dieser männliche Blick, den ich mit 16 schon lange kannte. Er blieb bis nach meiner Schicht und fragte mich dann, ob er mich nach Hause begleiten durfte. Ich sagte ja. Wir gingen aus dem Lokal raus, die dunkle Straße entlang, und irgendwann legte er mir die Hand auf den Rücken. Ich kannte das schon, aber dann blieb er plötzlich stehen. Vorsichtig tastete er meinen Rücken entlang. Leise, fast zögerlich fragte er: »Darf ich mir das anschauen? Ich bin Arzt«, fügte er hinzu.

Ich hob die dünne Bluse an und er fuhr mir prüfend über den Rücken, über die Male, wo die Peitsche mir die Haut mitgenommen hatte. Er würde die Narben schleifen, sagte er. »Aber das kannst du dir nicht leisten.« Wer Schulden hat, muss sie abarbeiten, das wusste ich. »Bis du das abgebaut hast, bleiben wir zusammen«, sagte er. »Aber ich verspreche dir, ich rühr’ dich nicht an.«

Regelmäßig kam ich von da an verheult in die Arbeit, das Narbenschleifen tat so höllisch weh, aber gesagt habe ich nie etwas. Im Gegenzug habe ich gekocht, geputzt, den Garten gemacht, seine ganze Wohnung. Er hielt sein Versprechen, er rührte mich nie an, nie, nicht mal einen Kuss. Als die Narben fast weg waren, gab er mir noch eine Salbe mit, die durfte ich umsonst haben. »Die schenk ich dir«, sagte er, »weil mitgemacht hast du genug.«

Ich war siebzehn, als ich sie vom Nachtlokal nach Hause begleitete, obwohl sie nicht mit mir tanzen wollte. »Mit dir hab ich ja schon getanzt«, hat sie gesagt und den blonden Kopf geschüttelt, dabei war das mein älterer Bruder, der mir so ähnlich sah. Sie war gelernte Greißlerin1, und von da an begleitete ich sie immer von der Arbeit nach Hause. Irgendwann traute ich mich zu fragen: »Gehst du mit mir ins Kino?«

Aber sie meinte: »Da musst du meinen Vater fragen.«

Also ging ich hinauf und fragte. »Aber du musst sie so heimbringen, wie sie ist, und nicht irgendwie, weißt eh, einen Blödsinn machen«, sagte er zu mir. Und das habe ich auch nicht. Um elf war das Kino aus und pünktlich um zwölf war sie wieder zu Hause. Dann durfte ich mit ihr ins Kino gehen, wann ich wollte, oder ins Kaffeehaus, ihr einen Kaffee bestellen oder ein Stück Torte, wenn sie eines wollte. Und jeden Abend brachte ich sie wieder nach Hause, so wie sie war, ohne einen Blödsinn zu machen. So lange, bis ich drei Jahre später wieder zum Vater hinaufging. Diesmal aber, um um ihre Hand zu fragen.

Ich war siebzehn, als meine Mutter mich ansah, von oben bis unten, und dann nochmal meinen Bauch. Es war schon zu sehen, ich konnte schon die Hand darum legen. »Bei aller Liebe«, sagte meine Mutter, »aber du kannst daheim nicht bleiben.« Wegen der Nachbarn war es, was sollten die Nachbarn denken, ledig, siebzehn, schwanger? Dabei hätte das so gar nicht kommen sollen, ich wollte ja heiraten, wir wollten ja. Aber das Jugendamt wollte nicht. Weil ich minderjährig war, musste ich beim Gericht eine Erlaubnis einholen, aber einen Kriminellen, der sich immer prügelte, einen Vorbestraften wollten sie mich nicht heiraten lassen. Also fuhr ich nach Wien. Wien ist groß. Und die Nachbarn? Meine Mutter sagte ihnen, ich hätte einen Tumor im Bauch.

In Wien lebte ich unter der Reichsbrücke. Netter als die Nachbarn waren die Leute dort allemal. Ich war im Zelt mit zwei Frauen, beide hatten lange graue Haare, die eine war ein bisschen dicker, die andere ein bisschen dünner, aber von der Art her waren sie wie Zwillingsschwestern. Was die eine gemacht hat, hat die andere auch gemacht. Untertags gingen sie zusammen mit den anderen betteln, das waren sicher dreißig Männer oder noch mehr. Am Abend kamen sie zurück, an guten Tagen mit Taschen voller Einkäufe, und machten den Ofen an. Um den standen wir dann und aßen, an schlechten Tagen war das ein Igel, der gebraten wurde, an guten konnten das sogar Tortenstücke sein. Ich war ja schwanger, da hat man schon mal einen Gusto. Aber ich bekam immer, was ich wollte. Bestellte ich mir eine Biskottentorte, dann kam eine Biskottentorte. Nicht immer sofort, sie mussten ja zuerst ausspitzeln, wo nicht so genau aufgepasst wurde, wo so eine Torte schon mal mitgehen konnte, ohne zu zahlen. Aber dann kam sie immer, die Biskottentorte für mich. Und abends, wenn das Feuer gemacht wurde, konnte ich mich im Warmen waschen, und sie passten auf, dass mir keiner was antat. Kein Einziger hat mich je berührt.

Als ich sieben Monate schwanger war, kam wieder einmal die Polizei. Wir rannten in alle Himmelsrichtungen, so wie immer. Aber im siebten Monat, wo rennt man da noch groß hin? Sie erwischten mich und steckten mich ins Heim. Die zwei Frauen sah ich nie wieder, die anderen auch nicht. Sie wollten ja nichts mit den Behörden zu tun haben. Und dann, nach neun Monaten, kam ich ins Krankenhaus. Nicht lange nach mir war auch schon die Jugendfürsorge da, und das Kind war auch weg.

Mein Vater hat Autos verkauft, manchmal war er auch als Fahrer unterwegs. Schon als Jugendlicher half ich ihm dabei, meistens dann, wenn er Kohle ausfahren musste. Zusammen warfen wir uns die großen Kohlesäcke über die Schulter, machten sie vorne auf und kippten alles in die Kohlenkiste. Gefahren bin ich also immer schon.

Ich fing meine Ausbildung bei einem Automechaniker an, weil ich schon fahren konnte, ließ er mich sofort ohne Führerschein ans Steuer. Mit dem neuen Amerikaner, dem Chevrolet, fuhren wir zusammen auf die Autobahn. »Ist das schon alles?«, sagte mein Chef zu meinem Hunderter. »Komm, steig drauf!« Und ich beschleunigte auf 150. Als ich jung war, fuhr ich oft Rallyes im Wald, mit 18 durfte ich dann endlich den Führerschein machen. So bin ich Fernfahrer geworden.

Kinder hatte ich viele im Leben, und Männer noch mehr. Mein erster Mann war drogensüchtig, der hat den Putz von den Wänden gekratzt, wenn er nichts bekommen hat. Der zweite war Alkoholiker. Mein erstes Kind nahm mir die Jugendfürsorge weg, das zweite die Schwiegermutter. Beim dritten Kind stand die Frau von der Fürsorge wieder über dem Krankenhausbett. »Wenn du unterschreibst, dass du ihn weggibst, dann gibt dir der Arzt eine Spritze, damit es schneller geht.« Wissen Sie, wie sich eine Steißgeburt anfühlt? Jedenfalls habe ich unterschrieben. Erst über fünfzig Jahre später sah ich das Kind wieder, als es mir, Andi getauft und mittlerweile erwachsen, einen Brief schrieb. Dieser Andi ließ nämlich nachforschen, wer seine leibliche Mutter war. Er will sich mit mir treffen, am Westbahnhof, schrieb er. Ich stand beim Ausgang oben, dann kam plötzlich ein Mann auf mich zu, der sah ein bisschen mir ähnlich und ein bisschen seinem Vater. »Ich bin der Andi«, sagte er.

Und ich darauf: »Ich bin dei Mutti.«

Wir umarmten uns und ich konnte nur noch weinen. Zusammen gingen wir essen und redeten und redeten, am meisten über seinen Vater.

Behalten habe ich nur das vierte Kind, meine Tochter Monika. Eigentlich wollte ich sie abtreiben, wollte ich auch bei den Kindern davor, aber im Spital wiesen sie mich immer wieder ab. »Sie müssen erst viele gesunde Kinder auf die Welt bringen, dann können wir eine Abtreibung machen«, sagte der Arzt zu mir. Ich nahm zwar die Pille, aber nach einem Jahr musste man damals noch aussetzen. Kaum hatte ich die Pille abgesetzt, war ich wieder schwanger.

Monikas Vater war auch Alkoholiker. Er wollte mich heiraten, aber ich sagte: »Zeig mir erst einmal, dass du ohne Flasche auskommst. Ich bin doch keine Wäscherin für einen Besoffenen, und schon gar nicht für einen, der zwei Packerl Zigaretten am Tag braucht. Die Flasche oder wir«, sagte ich, als Monika sechs war. Er wählte die Flasche. Sechs Jahre später stand ich gerade in der Küche, als es wieder an der Tür läutete. Schnell wischte ich mir die Hände am Geschirrtuch ab und ging zur Tür. Verdammt. Mal wieder stand ein Polizist davor, diesmal hatte er meine Tochter am Ellbogen nach Hause gebracht. »Wir haben Ihre Tochter beim Stehlen erwischt«, sagte er und ließ sie los. Ich nahm sie am Handgelenk und zerrte sie bei der Tür herein. »Sie können Ihre Tochter nicht erziehen. Das ist ein Fall fürs Jugendamt.« Ich grinste ihn an. Monika war kein einfaches Kind. Mit elf hatten sie sie mir aus dem Puff gebracht, sie wollte sehen, warum dort so viele Lichter waren. Aber ein kluges Kind. »Sie können mir die Monika wegnehmen, ich kann Sie ja doch nicht aufhalten. Aber dann lass ich ganz Wien abbrennen.« Ich konnte sehen, wie ihn das aufregte, er plusterte sich gleich auf noch fünf Zentimeter mehr auf. »Das ist eine gefährliche Drohung, Madame, ich zeig’ Sie an dafür.« Ich lachte, ich glaube, ich habe ihn ausgelacht. »Wieso? Ich hab Ihnen ja nicht persönlich gesagt, dass ich Sie abbrenn’.« Damit machte ich die Tür zu, riss Monika am Handgelenk herum, und holte sie mit drei, vier Schlägen wieder in die Realität zurück. Aber immer nur auf den Hintern, nie ins Gesicht.

 

Mit meinem LKW war ich in ganz Europa. Moskau, Sibirien, Frankreich, England. Aber Sibirien war am schlimmsten. In Moskau kaufte ich mir zwei Waffen und fuhr los. Minus siebzig Grad und ich hatte nur einen Arbeitsmantel. Im Wagen ging es, da hatte ich eine Heizung, aber manchmal musste ich raus und einen Reifen wechseln. Aber da biss ich einfach die Zähne zusammen, zog den Mantel aus, um die Arme bewegen zu können, wechselte den Reifen und weiter ging es. Einmal geriet ich in eine Schneeweh, die war so hoch, dass ich den Laster oben mit der Plane abdecken konnte. Zum Glück hatten sie mir an der Grenze eine Nummer gegeben, für den Notfall. Am anderen Ende der Leitung war eine Kaserne. »Zwei Panzer bitte, ich stecke fest.« Zum Glück sprach einer von ihnen ein bisschen Deutsch, geschickt hat er mir aber trotzdem nur einen. Der zweite kam dann später, als sie merkten, mit einem kriegen sie mich nicht raus. Am schlimmsten waren aber die Eisbären. Ich erinnere mich noch, wie ich mal zwei auf der Straße sah. Um sie nicht anzufahren, blieb ich stehen. Ich schaue den Eisbären an, der Eisbär schaut mich an, auf einmal steht er auf und kommt auf mich zu. Plötzlich haut er mit der Pranke die Scheibe ein, reißt die Tür am Rahmen auf und langt mit der Tatze zu mir herein. Zum Glück hatte ich das Gewehr. Bumm, erschossen, und den zweiten mit dazu, als er seinem Kumpel zu Hilfe kam. Beim nächsten Telefon rief ich meine Frau an. »Glück gehabt«, sagte sie.

So sah ich die ganze Welt. In England schaute ich mir die Tower Bridge an, in Frankreich den Eiffelturm – und egal wo ich war, immer rief ich meine Frau an. Am Anfang, bevor ich Fernfahrer wurde und oft für ein ganzes Jahr weg war, sprachen wir darüber. »Willst du mich trotzdem?«, fragte ich. »Und kannst du damit leben?« Selbst wenn ich in Wien war, sah ich nicht meine Frau am öftesten, sondern die Zollbeamten. Bei jedem Zollpunkt musste man mit ihnen trinken, sonst verzollten sie nicht. Glauben Sie mir, da habe ich mit dem Trinken angefangen, aber so richtig. Eine Flasche Wodka allein, ohne irgendwas. Danach ging ich aber ins Hotel und schlief mich zwei, drei Tage aus. Dann erst teilte ich die Waren auf die Greißler auf, bevor ich zu meiner blonden Greißlerin nach Hause kam. Aber sie wollte mich trotzdem. Von überall her rief ich sie an und schrieb ihr eine Karte, egal wie teuer das war. »Ich bin gerade in Moskau, mir geht’s gut, ich liebe dich. Ich bin in Paris, alles ist gut gelaufen, ich liebe dich.« In Frankreich waren die nettesten Leute. Aber auch die schlimmsten Mädchen, die sind einem sofort über den Weg gelaufen. Ich habe aber nie eine angefasst. Ich war immer treu.

Meinen dritten Ehemann lernte ich kennen, da war Monika acht Jahre alt. Er hat sie kaum miterzogen. »Es ist dein Kind«, sagte er immer, meine Tochter akzeptierte ihn auch nie als Stiefvater. Er war 18 Jahre älter als ich, gegen Ende wurde er blind und fast taub, aber er war ein Engel. Er hätte alles für mich getan. Reich wurde ich aber auch mit ihm nicht.

Ich habe mein ganzes Leben gearbeitet, entweder in Wien oder in St. Pölten. In Wien habe ich in einer Gärtnerei angefangen, jeden Abend die Paradeiser zu gießen, hat mir gefallen. Wenn ich in St. Pölten war, habe ich meistens wieder gekellnert. Eine Zeit lang war ich dort in einem Nachtlokal. Nicht in so einem mit nackten Frauen, einem normalen. Das hätte gar nicht funktioniert, die Polizei war ja ständig da, um nach dem Rechten zu sehen. Unser Lokal wurde in der Früh oft von Fernfahrern besucht, die sich ihr Frühstück holten und dann weiterfuhren. Er war einer davon.

Sie erinnerte sich nicht gleich an mich, aber ich wusste sofort, das war die Kellnerin von damals. Ich hätte schon damals gewollt, aber das hätte ich nie gemacht, ich war ja verheiratet. Ins Heim kam ich, als ich schon längst verwitwet war. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns wieder treffen, und das auch noch in einem Heim in Wien, wo sie doch aus St. Pölten kommt?

Nachdem seine Frau gestorben war, hatte er kurz eine Freundin hier im Heim. Die war aber dement, die hat nichts geredet, nur gelacht und verkehrte Antworten gegeben. Aber als wir uns kennenlernten, entschied er sich sofort für mich. Er ist meinem dritten Mann ähnlich, beim Handkuss zum Beispiel oder bei den Küsschen auf die Wange. Heiraten werden wir nicht, sonst verliere ich meine Witwenpension. Aber in zwei Monaten ist die Verlobungsfeier.

Nähe und Distanz

Alexander W. (nicht anonymisiert) ist 83 Jahre alt und hat eine tiefe, raue Stimme. Er klingt wie ein Mensch, der sein Leben am Theater auf der Bühne verbracht hat und das hat er auch. Allerdings nicht auf, sondern hinter der Bühne, als Dramaturg. Seit drei Monaten liegt er im Diakonie-Hospiz Lichtenberg in Berlin und kann nicht alleine aufstehen, weil eine Metastase auf zwei Wirbel seines Rückgrats drückt und seinen Unterkörper lähmt. Auf dem Fensterbrett steht ein Bild von seiner Frau.

Aufgeschrieben von: Marija Barišic

Als ich sie das erste Mal sah, hat sie aus Wut getanzt. Wobei, ganz so stimmt das nicht. Das erste Mal hatte ich sie eigentlich schon zehn Jahre vorher gesehen. Mit meinen 33 Jahren war ich damals der jüngste Dramaturg am Deutschen Theater in Berlin und der Leiter des neu gegründeten Jugendklubs, in dem sie mir auch das erste Mal über den Weg lief. Ihr Name war Blanche, sie war erst 17 Jahre alt, deutlich jünger als ich, ein wunderschönes Mädchen.

Ich selbst war zu dem Zeitpunkt eigentlich verheiratet und hatte mit meiner Frau zwei Kinder, eine Tochter und einen Sohn. An eine andere Beziehung wollte ich nicht einmal denken, aber ich hatte mich wohl in Blanche verliebt. Immer, wenn ich sie im Jugendclub sah, versuchte ich gleichgültig zu wirken, doch irgendwann beschloss ich, einen harmlosen Annäherungsversuch zu starten: Ich lud sie zu den Proben des Stückes »Prinz Friedrich von Homburg« ein, woran sich leicht ein Gespräch über den armen Kleist und unglückliche Liebe anknüpfen ließ. Inzwischen waren einige Jahre verstrichen, Blanche war schon verheiratet und hatte, so wie ich, zwei Kinder. Die Umstände waren noch nicht auf unserer Seite, erst zwei Jahre später, 1977, würden sie das sein.

Diesmal war ich 41 Jahre alt, zweimal geschieden und mit einer Schauspielerin verabredet, auf die ich damals ein Auge geworfen hatte. Zusammen schauten wir uns eine Premiere am Deutschen Theater an, anschließend war die Premierenfeier im Foyer geplant, zu der sie mich aber nicht mehr begleiten konnte, da sie noch zu einem nächtlichen Rundfunktermin musste. Ich begleitete sie höflicherweise noch bis zum Bahnhof Friedrichsstraße, das Theater liegt ja nicht weit davon entfernt, und wollte im Anschluss eigentlich nach Hause fahren. Aber dann dachte ich mir: Ne! Also lass dir jetzt bloß nicht diese Premierenfeier entgehen wegen so einem blöden Zufall! So bin ich wieder zurück ins Theater, den ersten Stock hinauf, durch die Tür zum vollgestopften Foyer, wo die Leute schon wild tanzten, als mir plötzlich ein Schuh in hohem Bogen direkt vor die Füße flog.

Das, ich sage es Ihnen, war ein Erlebnis wie aus einem Märchen. Ich blickte ein paar Schritte nach vorne und sah sie, Blanche, wie sie mit einem jüngeren Mann und nur einem Schuh am Fuß Boogie-Woogie tanzte, wobei Tanzen hier der falsche Ausdruck wäre. Sie hat so richtig getobt. Später stellte sich heraus, dass sie an diesem Abend eigentlich in finsterer Stimmung war: „Ich habe aus Wut getanzt“, sagt sie, wenn wir heute darüber sprechen, „und irgendwann hast noch du mich angequatscht, mehr weiß ich nicht mehr“. Sie war seit einem halben Jahr geschieden und außer sich, da sie erfahren hatte, dass sie gerade hier, am Deutschen Theater, eine versprochene Gastrolle doch nicht bekommen würde.

Der Schuh war natürlich die perfekte Gelegenheit zu ihr zu gehen, sie anschließend zum Tanz aufzufordern, um dann anschließend zu fragen, ob sie denn nicht ein Glas Wein mit mir trinken möchte. Und das wiederum war die perfekte Gelegenheit zu sagen, dass es so schade wäre jetzt schon nach Hause zu gehen, nach so einem schönen Gespräch, dass ich zu Hause sehr schöne Platten von Franz Schubert habe, die wir uns anhören könnten. Im Gespräch hatte ich nämlich herausgefunden, dass sie erstens äußerst musikliebend und zweitens ein großer Fan von Franz Schubert war. Ich hatte zufälligerweise mehrere Platten von Schubert zu Hause und so verbrachten wir schließlich eine ganze Nacht mit seiner Musik in meiner kleinen Wohnung. Ich kann mich sogar noch ganz genau daran erinnern, was wir gehört haben: die Klaviertrios, gespielt vom tschechischen Suk-Trio, eine wirklich wunderschöne Platte. Wir haben sie immer etwas zweideutig Vögelchen-Platte genannt, weil eine grüne Wiese mit einem Vogel im Käfig auf ihr abgebildet war. Ich glaube wir haben den halben Abend geweint, so gerührt waren wir von uns und der Musik, die wir hörten.

Irgendwie haben wir sofort eine Verbindung gespürt. Ich habe diese Verbindung an einem Gedanken erkannt, den viele andere Menschen auch haben, wenn sie der richtigen Person über den Weg laufen: Die würde ich jetzt gerne meiner Mutter vorstellen. Es war dieses Gefühl, das einem sagt, irgendwie passt die in die Familie, vom Gesicht her. Meine Mutter war natürlich nicht so schön wie sie, aber Blanche war ja auch Schauspielerin. Auf dem Foto, das hier auf meinem Fensterbrett liegt, war sie gerade einmal 25 Jahre alt. Es wurde geschossen, als sie im Film Jakob der Lügner die Rolle der jungen Jüdin Rosa Frankfurter spielte und war eigentlich eine Filmpostkarte, die damals von allen Hauptdarstellern in Riesenauflagen gedruckt wurde. Der Film wurde nämlich für den Oscar nominiert, man hoffte damals, dass der Oscar jetzt endlich auch in die DDR kommen würde. Leider hat es aber nicht geklappt, obwohl der großartige Film es definitiv verdient hätte.

Heute, 46 Jahre später, ist Blanche fast 70 Jahre alt und immer noch schön. Ich finde sie tatsächlich immer noch genauso schön wie damals. Dabei ist das eine besondere Schönheit, die ich meine, denn seitdem ich sie kenne, schminkt sie sich überhaupt nicht. Für mich drückt sich darin aus, wie absolut ehrlich sie ist. Und mutig. Die ist viel mutiger, als ich es jemals war, auch im Herangehen an Menschen. Sie hätten sie sehen sollen, als wir zum ersten Mal in das Hospiz hereinkamen: Nach zwei Tagen hatte man den Eindruck, dass sie die Oberschwester hier ist. Das liegt bestimmt an ihrem Beruf als Dozentin und Regisseurin, aber auch daran, dass sie schon sehr lange mit jungen, klugen Menschen zusammenarbeitet.

Irgendwann hat sie nämlich Abschied vom Theater genommen und begann stattdessen an der Universität Witten-Herdecke zu unterrichten. Dort hat sie aus eigenen Kräften eine Studentenbühne aufgebaut und jedes Jahr ein Stück inszeniert, aber nicht irgendeines, sondern immer Klassiker von Shakespeare oder Brecht. Sie im Umgang mit ihren Studenten zu sehen ist sagenhaft, das ist wirklich ein Erlebnis. Bei ihr kann man gut beobachten, dass dort, wo gut gelehrt, wo mit Liebe gelehrt wird, auf der anderen Seite viel Begeisterung entstehen kann. Die Studentenbühne hat sie in einer für uns sehr schweren Zeit aufgebaut und auch das spricht für ihre Stärke, denn ich war damals jahrelang intensiv mit der Arbeit am Theater beschäftigt und hatte fast gar keine Zeit für sie.

Der berühmte Dramatiker Heiner Müller, ein bescheidener, aber anspruchsvoller Mann, inszenierte nämlich eines seiner Stücke am Deutschen Theater und hatte mich gefragt, ob ich die Dramaturgie für ihn machen wolle. Er mochte meine Frau sehr, sagte damals aber zu ihr: Irgendwie musst du dich zurückziehen. Wenn du ihn jetzt zu sehr brauchst, geht er kaputt, denn ich brauche ihn total. Das war damals nicht böse, sondern einfach nur ehrlich, ganz ehrlich gemeint. Er hat mich sehr stark vereinnahmt und ich habe mich auch gerne vereinnahmen lassen, weil es natürlich ein interessantes Leben war. Ich bin überall mit ihm mitgefahren: Palermo, Barcelona, Wien, wo wir die Gelegenheit hatten mit berühmten Bühnenbildnern zusammenzuarbeiten und Vorträge abzuhalten. Natürlich war das großartig, es war ja meine Leidenschaft! Aber die andere Leidenschaft war eben meine Blanche, die damals sehr unter meiner Abwesenheit litt, vor allem nachdem ihre Mutter gestorben war und sich kurz darauf ihr älterer Sohn das Leben nahm.

 

Ich war damals einfach nicht für sie da. Einerseits, weil ich durch meine Arbeit wirklich nicht konnte, andererseits, weil ich nicht wusste, wie. In dieser Hilflosigkeit flüchtete ich in meine Dramaturgie. Dazu kam, dass meine Tochter ungefähr zur gleichen Zeit im Alter von 26 bei einem Autounfall ums Leben kam und ich mich um meinen verzweifelten Sohn kümmern musste, der sehr unter dem Verlust seiner Schwester litt und immer wieder in die Klinik musste. Auch ihr jüngerer Sohn litt unter dem Tod seines Bruders, wir waren beide, jeder für sich, damit beschäftigt, mit diesen katastrophalen Zuständen zurecht zu kommen, die uns den Boden unter den Füßen weggerissen hatten. Man könnte meinen, dass gerade dieses Leid Grund genug sein musste, noch näher aneinanderzurücken, sich noch stärker am anderen festzuhalten. Aber wissen Sie was? Gerade dann ist es besonders schwer, füreinander da zu sein, weil man nie ganz nachempfinden kann, was der andere in diesen schrecklichen Tagen und Wochen durchmacht und was er braucht. Ich will dafür aber gar keine fadenscheinigen Ausreden suchen, denn es waren sicher Situationen, in denen ich geflüchtet bin und für meine Liebste versagt habe.

Natürlich hat sie unendlich darunter gelitten, das weiß ich und es ist ein ganz dunkler Schatten in meinem Leben, weil Abwesenheit in entscheidenden Momenten sich nie wiedergutmachen lässt. Damals hätte ich das wahrscheinlich gar nicht in Worte fassen können, aber rückblickend war es vermutlich die Angst vor dem Tod und vor der Trauer, die immer damit verbunden ist. Die ist schon sehr früh da, diese Angst, eigentlich unser ganzes Leben lang.

Auch heute kommt sie noch hoch und dann kann man machen, was man will, nichts schickt die Angst vor dem Tod wieder zurück ins Unterbewusstsein. Man kann maximal abwarten, dass man sie durch einen Zufall, eine schöne Begegnung oder eigene gute Gedanken wieder vergisst. Bei mir ist das der Fall, wenn meine Frau da ist, obwohl ich gerade in diesen Momenten auch oft an den Tod denke, weil ich weiß, dass uns eine Trennung bevorsteht. Trotz der vielen Jahre, die wir zusammen hatten, und es waren ja wirklich viele Jahre, denke ich, es könnten ruhig noch ein paar mehr sein.

Wenn mich Menschen fragen, wie wir es denn geschafft haben, so lange zusammenzubleiben, weiß ich gar nicht so recht, was sie hören wollen. Ich könnte von Großzügigkeit, von Toleranz und von Treue sprechen und das stimmt auch alles sicherlich. Aber ich denke, in unserem Fall war es gerade die Tatsache, dass wir erst nach zwanzig Jahren unserer Beziehung zusammengezogen sind. Die Hälfte unserer Zeit haben meine Frau und ich gar nicht zusammengelebt. Das hatte damals mehrere Gründe.

Einerseits haben wir uns in all den Jahren nicht immer gleichmäßig geliebt und andererseits waren wir durch unseren Beruf viel unterwegs. Diese große räumliche Distanz würde bei anderen Paaren vielleicht gar nicht funktionieren, aber ich bin trotzdem der Meinung, dass die Liebe eine viel größere Stabilität erfährt, wenn man sich ab und zu trennt. Es ist nichts furchtbarer als in den Alltag zu rutschen und dann nur noch mit Nichtigkeiten zu tun zu haben, über die man sich dann auch noch zu streiten beginnt: Wo der Löffel denn jetzt hingekommen ist und wer ihn weggeräumt hat. Paradoxerweise kann die größte Nähe zwischen zwei Menschen erst durch Entfernung entstehen. Ich denke, Blanche sieht das ähnlich, auch wenn sie damals sehr unter meiner langjährigen Abwesenheit gelitten hat.

Heute sagt sie, dass sie rückblickend sogar dankbar dafür ist. Durch diese Distanz hatte sie die Freiheit, sich selbst zu verwirklichen und viel Herzblut in ihre Träume zu stecken. Wer weiß, ob sie die Studentenbühne jemals überhaupt gegründet hätte, wenn ich immer da gewesen wäre? Vermutlich nicht. Somit ist ihr durch die Trennung auch etwas Schönes geschenkt worden. Wir haben ja im Nachhinein noch oft über meine Abwesenheit und die Versäumnisse, die damit einhergingen, gesprochen. Ich denke, wir sind uns mittlerweile im Reinen darüber, dass es so sein musste und können heute ganz gut damit leben. Und so verbringen wir unsere letzten gemeinsamen Stunden damit, das Leben und unsere Liebe intensiv zu genießen – das ist oft schwierig, macht es aber nicht weniger schön.

Olete lõpetanud tasuta lõigu lugemise. Kas soovite edasi lugeda?