Die Forelle

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Siegi bindet immer wieder viele, viele Fliegen

»Nun ist es so weit«, mein erster Fischtag stünde kurz bevor, »Muster Nummer zwei«, hatte ich Trottel wirklich gedacht. Ernstl schwang seine tischabgewandte Hand auf die Platte, zwischen den Fingern den Koffergriff eines tragbaren Radios, wie hingezaubert. Beim Wegziehen zitterte Ernstls Hand derart stark, dass sie aus der Geraden geriet und er das nebststehende Weinglas über die Tischkante zu Boden stieß. Es zersprang, und langsam breitete sich eine Weinlatsche in Dutzenden Flüssen zwischen den Dielen aus wie ein Mündungsdelta. Dann zog Ernstl die Teleskopantenne zu voller Länge, und lieber hätte ich die Schäfte einer Fliegenfischstange gesehen. Ernstl justierte die Antenne, indem er sie hin und her bewegte, wie mir schien, Empfang suchend in einem steten Kreissegment zwischen elf und ein Uhr. »Den Sender musst du einstellen«, sagte Ernstl, und ich legte einen Finger an das aus dem Mantel des Geräts hervorstehende, minimal gerillte Rädchen, hakte mit dem Fingernagel in ein Zahnradsegment ein und bewegte die Fingerkuppe nach unten, drehte am Rädchen. »Wie bei der Führerscheinausbildung«, und ich wusste nicht, ob Ernstl jemals Fahrstunden genommen hatte, »erst muss das Handling des Fahrzeugs perfekt sitzen«, ich kannte ihn monologisierend auf dem Beifahrersitz und konnte ihn mir nicht unsicher vor dem Lenkrad neben einem dahinpalavernden Fahrlehrer vorstellen, »dann kann man das Autoradio anschalten, sich etwas zurückgelehnt berieseln lassen«, ob er jemals einen Führerschein gemacht hatte, ob er ihm abgenommen worden war wegen Trunkenheit oder er mich prophylaktisch zu seinen Lieblingsstrecken am Fluss jene weiten Wege fahren ließ, die zu Fuß von der Herberge aus gar nicht zu bewältigen waren, ich wusste es nicht. »Na da schau her.« Aus den Radiolautsprechern drang inzwischen Arik Brauers unverkennbare Stimme, die Interviewfragen stellte und sogleich selbst säuselnd beantwortete: »Wie viele Kraftwerke haben wir am Strom?« – »Du dachtest wohl, wir brauchen das Radio bloß wegen der Kupferspulen, was?«, sagte Ernstl. »Ja, ja, der Löschnak Franzi …«, sang Arik Brauer. »Ein bisschen Demut«, und ich wusste, dass ich mit einem »wie bitte« genauso schlecht fahren würde wie mit einem »was bitte«, also schwenkte ich einfach meinen Handrücken in Ernstls Richtung, der sich zur Decke streckte, seine Brust durchdrückte wie ein Auerhahn balzgefiedert seinen Paarungsruf verkündet, »… und der Sinowatz, und der Wasnawas, alle drei …«, sang Arik Brauer die bekanntesten Namen der amtierenden Bundesregierung, »wie bei einem Schwein, das man vor der Schlachtung anbetet und um Entschuldigung anbettelt«, und Ernstl zog einen filigranen Kreuzschlitzschraubenzieher aus seiner Gesäßtasche, den er vor mich auf den Tisch neben die goldene Nagelschere legte. Sogleich wusste ich, dass mir dieses Instrument in den nächsten Tagen vertrauter werden würde als Geige, Gitarre, Bratsche und Mandoline zusammen, dass ich damit behänder umzugehen lernen würde als mit allen Bindestöcken und Goldköpfen der Welt, und vor allem, dass mich dieses Utensil, falls das überhaupt möglich war, noch weiter, als ich es ohnehin schon war, entfernen würde von der Fliegenfischstange und dem Forellenfluss, »die sagen, die letzten Ecken, sollts mit Zement zudecken«, sang Arik Brauer, und es war, als hätte mich ein Bergquell erfasst, der sich in einen Wasserfall verwandelte, mich die Steilhänge der Alpen hinunterspülte in einen Hochwasser führenden Strom, der mich in eine Staudammluke sog, wo ich feststeckte und aus der ich schließlich wie das Geschoss einer Kanone vom Druck des heranbrandenden und immer höher steigenden Wassers hinausgeschossen wurde, hinweg über alle Alpengipfel hinein ins tiefste Südtirol, woher ich nach einer Bruchlandung eine beschwerliche, barfüßige, arbeitsame und womöglich sogar abenteuerliche Reise auf mich zu nehmen hatte, mich selbst am Schopf ziehend, hinein ins letzte Eck des Salzkammergutes, Haare zwischen meinen Fingern, dass ich dann, vielleicht, endlich, einen selbstgebundenen Köder fischen könnte.

»Die letzten Wochen hast du dich an allen erdenklichen Handgriffen, wir könnten auch sagen Techniken, abgearbeitet, die im Muster der Goldkopfnymphe möglich sind. Also fragen wir dich«, doch ich berappelte mich gerade erst nach meinem Sturz, und Vaterstaat sagte diesseits der Grenze, »geh, denn ich hasse dich«, und jenseits, »komm, doch wir lieben dich nicht. Glaub bloß nicht, dass es hier Happi-Pappi gibt!« – »Wie viele Kraftwerke haben wir am Strom?«, fragte mich Arik Brauer singend und Ernstl streng: »Was ist ein Muster?« Auf beides wusste ich nichts zu antworten, also machte ich mich schweigsam auf den langen Marsch durch das Nichts, durch das wochenlange Und zwischen elf und eins, durch die ewige Zwölf, und Ernstl setzte fort und auseinander: »Ein klar umrissener Bereich im unendlichen Feld der Fliegenbindetechniken ist das Muster. Es definiert, es differenziert, es diskriminiert, ganz im Sinne der lateinischen Wortwurzel, es unterscheidet. Eine Goldkopfnymphe ist eine Goldkopfnymphe und nur sie selbst und nichts davon Verschiedenes und besteht aus nichts anderem als der exakt zu befolgenden Abfolge der anzuwendenden Fliegenbindetechniken, freilich, wie du gelernt hast, mit der Möglichkeit, zu variieren«, die frustrierende und zermürbende Arbeit, ein Motiv in der Musik einzustudieren, »neun, neun haben wir«, raunte Arik Brauer, ich schaute auf die Uhr und war erstaunt, ging aufgestaute, begradigte und unnatürliche Flüsse entlang, betrat auf meiner Wanderung das Naturschutzgebiet Hohe Tauern, barfuß, verletzlich, durch dichtes Geäst, hörte Steinadler rufen, sah Steinböcke klettern und Falter Nektar holen, roch schwarze und rote Waldameisen übermannshohe Berge bauen, die Hohen Tauern, nur um alle diese Arten jenseits der bewahrten Zone nie wieder zu erblicken und zu vergessen, »… aber eigentlich ist das Muster starr. Es schließt aus, und so ist auch jeder Variation, Interpretation und Improvisation das Zaumzeug angelegt. Der Ausritt auf dem Steckenpferd der Freiheit, der Eitelkeit, den Musterzaun zu überspringen, so weit geht er nicht. Freiheit ist nur in Grenzen möglich. In Ketten tanzen hat Nietzsche das genannt«, und ich kam zwischen Kiefernwäldern an Bauernhöfen mit ihren Keuschen und Ställen vorbei, bettelte um Essen und die nettesten Landbesitzer sagten mir, sie hätten nichts, während mir die schadenfrohsten einen Eimer Gülle hinstellten oder mich verhöhnten, indem sie mir einen Platz an ihren Sautrögen anwiesen, nur um ihre Stiere und Schweine wenig später an Wiener Künstler zu verkaufen, die ihnen ein Beil zwischen die Hörner trieben, die Schädel einschlugen und Halsschlagadern öffneten. Bolzen schnalzten, damit Blechmilchkannen randvoll liefen, Serien und Reihen an Bildern entstanden auf den Trottoirs der kopfsteingepflasterten Straßen nahe der Universität, des Ballhofplatzes, des Parlaments, des Heldenplatzes, nahe den Zentren der Macht, Blut gegen die wie Soldaten aufgestellten Staffeleien geschleudert, umringt von kunstgeilem und sensationslüsternem Wiener Kaffeehauspublikum, Tratschweibern und Hintertreppengesindel, ein Skandal für die einen, Avantgarde für die anderen, aber doch ein Magnet, kaum jemandem gleichgültig, immer Publikum dabei, Tierschützer und ehemalige Nazis, die noch einmal den Effekt eines Schlachtschnitts durch die Gurgel sehen wollten, ein Spritzen gegen die Wand, selbst wenn es nur eine Leinwand war. Oder sie beharrten verstockt in neuer Uniform auf dem Untergang des Abendlandes wegen dieser Ferkelei, in der Sau als Schimpfwort immer noch der Jude versteckt, der Fluch über Österreich, und das Schweineblut klatschte auf die Leinwände, wahlweise wurde auch Kot geworfen oder uriniert, »einer Goldkopfnymphe eine Rippung zu verpassen ist eigentlich schon eine Frechheit, ihre Körperfarbe zu variieren zumindest bereits elaboriert, ihr einen Schwanz aufzubinden mit Sicherheit längst manieriert, aber immer noch kein Fauxpas …«, zählte Ernstl auf, »… Jochenstein, Aschach, Abwinden, Ottensheim, Mitterkirchen, Persenbeug liegen an der Donau …«, zählte Arik Brauer auf, und ich schlug mir wieder meinen Weg frei aus den Dachsteintälern hinaus, kletterte über Nacht abgegangene Muren entlang, brachte Katarakte hinter mich und kam an die Ufer des Hallstätter Sees, der die Grenze der salzburgischen Lande zu Oberösterreich markierte, wo auch die Traun entsprang aus Dunkelheit über einem eigentlich bestirnten, aber von Wolken verfinsterten Himmel, »nun, da du in allen Möglichkeiten der Variation firm bist und die Goldkopfnymphe so lange durch alle Spielwiesen der Rekombination gejagt hast, der Quellbereich dieses Musters im endlos großen Teich der Fliegenbindetechniken sozusagen ausgeschöpft ist, um nicht aus der Metapher zu fallen …«, und Ernstl griff nach dem Weinglas am Tisch, das ja längst wie meine Hoffnung, endlich zu fischen, zu Boden lag und dessen Inhalt in eine sich immer weiter ausbreitende Latsche verwandelt war, »… Nußdorf, Freudenau, da steht die lange Lache drin, von Passau bis auf Wien …«, und ich niemand anders als Ernstl war in seiner Jugend, hungrig, ohne Kenntnis, bar jeder Zukunft, mit einem biegsamen Stock bewehrt, »nun ist es an der Zeit, ein zweites Muster zu lernen, ein neues Bündel an Fliegenbindetechniken aus dem unendlichen Meer herauszugreifen und ihm auf den Grund zu gehen, es gründlich von der Goldkopfnymphe zu unterscheiden, denn mit dem neuen Muster kommen nicht nur neue Techniken, sondern auch neue Stoffe ins Spiel, die sich in keiner Weise mit denen überschneiden, die dir von der Goldkopfnymphe her schon geläufig sind. Es gibt einen Grund, warum die Musterlernschritte in der Reihenfolge erfolgen, in der sie erfolgen, es müssen maximal große Lichtkegel in maximal entfernte Bereiche des Feldes geworfen werden, damit die Abschnitte dazwischen dann, am Ende, umso deutlicher zu Tage treten wie scheidende Flüsse, die aus dem Untergrund der Landschaft sprudeln. Das dritte Muster wird dann schon eine Nassfliege sein, eine Arthofer, halbversunken, ein Aufsteiger, etwas völlig anderes, wiewohl zumindest je eine Technik und ein Stoff, die Rippung und die Kupferwicklung, die Kupferrippung sozusagen, sich schon in den beiden vorherigen Mustern finden, der Goldkopfnymphe und der Nymphe des Tages, for today, Ritz D!«, deklamierte Ernstl. »Und dort rinnt sie noch, ein winziges Eckerl, ein klitzekleines Stückchen, das werden wir doch wohl übrig lassen können. Danke!«, schloss Arik Brauer und der Applaus brandete auf. »Gentlemen, bitte!«, sagte Ernstl und flutete zwei Weinpokale. »Cheerioh, Miss Sophie«, sagte er und wir stießen an. Dabei warf Ernstl einen Blick durchs Fenster. Der gescheckte Kater huschte über die ganze Breite der Scheibe durch den Garten, »I will kill that cat«, knurrte er, und mit einer einzigen Bewegung bückte er sich, griff und riss den Stecker des Radios aus der Steckdose, so heftig, dass das Gerät auf der Tischplatte volle Breitseite umstürzte, ein Hund, der sich unterwarf, auf den Rücken drehte, dem Überlegenen die weichen Hautschichten unterhalb des Brustkorbs zum Zerfetzen anbot, hinter denen die Eingeweide schlummern. Auf den Schraubenzieher und auf das Radio, die vier verchromten kreuzschlitzenen Schrauben in den Ecken deutete Ernstl mit seinem Handrücken.

 

Langsam aber sickerte Blut aus seinen Füßen zwischen die Splitter, in die Dielenritzen, bildete glitzernd das Muster einer Fahne und verwandelte weißen Wein in Rosé, »Monsieur, silvu ples, Ritz D!« Ich roch seine Fahne, und die beiden Fahnen stimmten darin überein, dass sie jemand vor sich hertrug und es allen Umstehenden unangenehm ist. »Warum Ritz D?«, fragte ich, weil mir nichts Besseres einfiel. »Na ja, die hat Charles Ritz entwickelt, ein begeisterter Fliegenfischer, wir hatten noch die Freude.« – »Ja, aber warum D?« – »Na, weil Ritz A, Ritz B und Ritz C scheiße waren. Auch die Muster haben ihre Geschichte, müssen eingeübt, an Flüssen ausprobiert, im Zweifelsfall verworfen und modifiziert werden. Es hat den guten Mann Jahre gekostet, Jahre, die du nun in wenigen Wochen in dich aufsaugen wirst«, und irgendwie beschwichtigte mich diese Antwort, vielleicht nur, da mich der lange Marsch in meiner Phantasie schon mundtot gemacht hatte. »Eine Frage noch, Ernstl!«, dazu vermochte ich mich noch aufzuraffen. »Wir hören dich gar nicht schrauben.« – »Sind wir eigentlich Umweltschützer?« – »Mit Sicherheit«, er zog sich einen Glassplitter aus der Ferse und schnippte ihn aus dem Fenster in den Garten hinaus, wo Nina einen faustgroßen Stein nach dem streunenden Kater warf. »Ich meine, sind wir überhaupt auf die Fische bedacht?«, fragte ich und meinte eigentlich vielmehr, ob es sich bei diesem ganzen Gehabe nur um die Marotten, die sich selbst übertreffenden Wunderlichkeiten, die zur Schmierenkomödie verwandelte Tragödie eines alten Mannes handelte. Impotenz, dachte ich, ein Fliegenfischer, der nicht Hand anlegte an Fische, wenn das nicht die Definition von Impotenz war. »Worauf sollten wir denn sonst bedacht sein, wenn nicht auf die Fische?« Und ich fragte ihn, wann wir uns dann endlich den Fischen zuwenden würden, und Ernstls Monolog begann. Einbildung sei eben auch eine Bildung und was ich mir denn einbilde, jetzt schon ans Wasser zu wollen. Was sein vorletzter Schüler, der Fredl, der Herr Polizistentrottel, dieser Bierdümpel, wohl geantwortet habe auf die Frage, warum er Fliegenfischen lernen wolle. Blinkern, Spinnfischen, Reusenlegen, Hochseeangeln, Netzeschleppen, Aalrutenfangen, das könnte er alles schon, wie schwer wäre da schon Fliegenfischen. Und Ernstl hätte ihn die Holzstufen der Herberge hinabgeprügelt. Dann erzählte Ernstl, dass diese Katzenbastarde auch nur deshalb ertränkt werden müssten, weil es sie ohne den Menschen, der die Katze zum Haustier gemacht hätte, gar nicht gäbe. Und sonst würden sie bald der Wildnis ungebührenderweise anheimgegeben, darin herumstreunen, und Streuner zeugen immer nur neue Streuner, und der größte aller heimatlosen, zukunftslosen und herkunftslosen Streuner ist sowieso der Mensch, und im Akt des Wiederfreilassens des gefangenen Fisches mimten wir eine Welt ohne Menschen, aber mit Menschen, viel ausgefeilter als das tumbe Menschenaussperren oder Tiereeinsperren des Naturschutzgebietes, im Angesicht der Forelle und bei der begnadigenden Berührung macht sich der Mensch selbst nichtig, hinterlässt keine Spur, wie Luther meint, im Wissen um die morgige Apokalypse würde er heute noch einen Baum pflanzen, und ich dachte, Ernstl hatte einen Traum. Wir gingen mit der Verleugnung und der Verdrängung produktiv um und so ist das Fliegenfischen stets nur auf die Fische bezogen und auf uns, und diese Verbindung, schloss Ernstl, sei die Fliege, und driftete dann weiter ab, wie ein Boot, das eigentlich schon am Steg festgemacht war, dessen Knoten sich aber löste oder dessen Seil von Verwitterung und Zersetzung malträtiert einfach zerfiel. Ernstl redete irgendetwas weiter, und wenn ich mir irgendetwas davon einprägte, so war es weniger, was er sagte, sondern der Ton, den er im Monologisieren anstieß, das sanfte Dahinschippern eines Kiels, das schwache Schwappen der Wellen, das Sich-wieder-Schließen der Flusswassermassen, auf dem dieses Totenboot hinübergleitet in die Unterwelt, das dem Abtritt vorauseilende und das Absterben geleitende und die Totenglocke läutende, die Tür hinter ihm zuziehende letzte Gebrabbel eines sturmalten Mannes, unter dem ein Fluss murmelt: »Gedenke stets der Ratte!«, Bisamrattenfell bekäme ich wohl noch zum Fliegenbinden, ehe ich zum Fliegenfischen käme. »Und jetzt los! Liebe ihren Schwanz!«, draußen riss Nina handschuhlos eine violett blühende Distel aus. Ich schraubte das Radio auf, während Ernstl die schwarze Kunststoffschatulle öffnete. Wie zwei der Länge nach geöffnete Kadaver schauten mich die Innereien der beiden Hohlkörper an. Den Kupferdraht zu entfernen wies er an, und ich tat, was er mich hieß, wie immer. »Macht, dass ihr rauskommt!«, der Sauerei auf dem Boden wegen, wie ich annahm, schrie Nina. »Was regst du dich …«, brauste Ernstl auf. Aber bevor seine Böe Sturmstärke erreichte, kreischte Nina uns wirbelnder Hände zum Windfang hinaus, woraufhin Ernstl um die Herberge ging, wahrscheinlich beim Fenster einstieg und mit seinen drei Schäften wieder erschien, zu meinem Auto hin, ich hinterher, »sonst haben wir eh alles«, und schmiss seine zerlegte Stange in den Kofferraum, taxierte den Himmel, Schleierwolken und Flaute, »sonst brauchen wir eh nichts«, ich ließ den Motor an.

2 Friedl besetzt das Wasser
und Ernstl verhindert das Schlachten

Morgens dachte ich, die Welt wäre eine bessere, wenn alle die Dinger nur bräuchten, um sie auszuschalten, auszustecken, aufzuschrauben, auseinanderzubauen und die Kupferspulen zu entnehmen, während ich den Wagen um die Kurven fuhr. Das Radio schwieg wie auch der Nachwuchs auf den billigen Plätzen und in mir stieg hoch das Gefühl wie ein Salmonid, die monologisierende Stimme Ernstls, der Beifahrersitz leer, es fehlte.

»Eingesetzt wird heute. Ein verlorener Tag. Wir lassen das Wurftraining sausen. Sparen unsere Kräfte für morgen. Neue Forellen schmeißen die Vereinskollegen rein. Vom sehr verehrten Herrn Züchter Friedl. Ist verboten dann das Fischen den Rest vom Tag. Damit sich die Viecher verteilen im Fluss. Damit sie sich erholen vom Stress. Bevor wir sie in die Pfanne hauen, diese Erztrotteln.« Verwundert sah ich ihn an und verriss fast das Lenkrad, versenkte uns beinahe im Fluss, so kalt war sein Blick, so brutal seine Artikulation, als er wieder zu sprechen begann, laut, bestimmt und schrill, dass er aus dem Innenraum des Wagens Arik Brauer komplett verdrängte zwischen den Zügen, die Doppelliterflasche schon am Mund, ein Glucksen, ein Schlucken und Spucken pro Wort: »Abendsprung fällt auch ins Wasser.« – »Aber wir notieren doch nur.« – »Die Dreckszuchtviecher verhageln die Statistik. Die Säue fressen ja alles! Die sind von der Industrie gefüttert.« Ich schaltete die Scheibenwischeranlage ein und das Radio aus, misstraute meinen Glupschern, als das gesprenkelte Muster auf der Scheibe blieb. Aus dem Augenwinkel sah ich dann, dass die Tropfen flogen aus Ernstls Mund, rundherum: »Herangezüchtet in stillem Wasser. Und tief sind die nicht. Direkt unter der Oberfläche stehen sie. Habacht um fünf Uhr Nachmittag. Da fallen die hormongespritzten Brotbrocken rein von Friedls Hand. Darauf fallen sie rein. Verwöhnt vom Teich. Keinerlei Strömung. Zwei Jahre lang kennst du sie von den anderen, wild gewachsenen. Sie gelangen in die Fänge der Bierdümpel. Wenn wir nicht alle vorher haken. Wir lassen sie Erfahrungen machen. Mit allen Mustern, die es überhaupt gibt. Wir geben den Crash-Kurs. Erst in ein paar Wochen wenden wir uns wieder den Tiefstehenden zu. Seicht greifen wir morgen in die Trickkiste. Verzichten auf jeden Schnickschnack. Wir fischen unterste Lade. Die allerältesten, aufgelegtesten, aufgesetztesten, artifiziellsten, affektiertesten, abgefucktesten, letztklassigsten, geschissensten, ausgelutschtesten, abgedroschensten, groschenspottensten, grobschlächtigsten, unfängigsten Muster, die es überhaupt gibt, die alle Biertrinker dieser Welt in jedem Handbuch zu egal welchen Zeiten nachlesen können, eine Ur-Szene quasi machen wir. So kriegen wir sie dran, Treffpunkt Herberge, um fünf Uhr.« – »Warum erst so spät?« – »Morgens. Dann können wir binden und im Dämmerlicht gleich los. Wenn die werten Kollegen Richtung Ufer wanken, hatten wir schon alle dran. Die werden schauen, und schwärmend frische Fische sehen, und keinen aus dem Rauschen heben.« In unmissverständlichem Grün zeigten die Digitalziffern meines Radios elf Uhr an. »Aber heute noch, zum Wirten, auf ein Abendmahl?« – »Nichts da. Wochenends sitzen uns normalerweise schon zu viele Bärbeißige rum. Was meinst du, was da los ist. Der einzige Tag im Jahr ist das für sie. Der fängt schon heute und dauert bis morgen an. Da fängt sogar der versoffenste Trottel was. Das muss im Vorhinein begossen werden. Und wenn wir da hinkommen, die wir immer fangen, frage nicht. Da sind sie empfindlich. Die ziehen nicht den Olivenzweig. Die sind nicht zimperlich. Die zucken richtig aus. Rapier schnell zur Hand. Damit zipfeln sie uns dann vorm Gesicht herum. Auf ihr Niveau müssen wir uns erst runtersaufen. Wir werden sie schon kitzeln. Ganz gentlemenlike aber. Denen zeigen wirs. Mit Stil!«, inzwischen schrie er, die Flasche war leer, wild hieb er damit herum vor seinem Gesicht, fuchtelte quer der Konsole, immer weiter die Kreissegmente, über die ganze Breite der Windschutzscheibe. Beim vierten Streich musste ich mich schon wegducken, und beim fünften Hieb begriff ich erst, dass er mich dirigierte und abzubiegen hieß, beim sechsten Schwung kurbelte er dann übergriffig mit der freien linken Hand das Fenster herunter bis zur Hälfte, weiter kam er nicht, denn ich stieg aufs Pedal und wir sausten aus der Kurve heraus schleifender Kupplung und schleudernder Reifen und Haare peitschenden Seitenwinds, dass es eine Freude war mit dem Mercedesheckantrieb, dass die Stresssträhnen ergrauten, dass Ernstls freie Hand sank, und beim siebten Schlag ließ er die Flasche los, dass sie voller Fliehkraft gegen die Scheibenkante krachte, aber nicht sprang, sozusagen abprallte mit grellhellem Klang, über die Plexiglasfläche gelangte in aerodynamische Position, vom eigenen Schwung ins Freie katapultiert und zusätzlich fahrtwindtechnisch untergriffig weggerissen wurde. Weil ich über eine Brücke abbog, behielt ich durch das Seitenfenster die Flasche im Blick, sah den hohen Bogen, das Blitzen des Lichts am Glas. Mit Effet schraubte und purzelbaumte sie sich der Sonne entgegen, beide Achsen entlang rotierend, und so erreichte die Weinflasche den Scheitelpunkt, stand erhoben, und sturzflog ins Flusswasser, mit dem wir ebenfalls fuhren. Durch die Windschutzscheibe sah ich sie wie eine Flaschenpost erst oben schwimmen. Im Beifahrerfenster schon reckte sich gerade so der Hals aus dem Wasser, ums Verrecken noch nicht untergegangen. Dann verschwand die Doppelliterflasche völlig hinter Ernstls Körper, hinter der Fenstersäule und im hinteren Beifahrerfenster unter Wasser, soff sich voll, wurde eine sinnlose, unerhört zurückgebliebene, nie aufgeschnappte Botschaft. Neben Ernstls fuhrwerkenden Armen im Seitenspiegel erblickte ich die leere Doppelliterflasche grün unter Wasser schimmern und einem Kassandraschrei in der Wüste gleich verklingen, zur akustischen Fata Morgana verklärt, da war doch gar nichts, wie viele Kraftwerke haben wir am Strom? Vom Rauschen überlagert zerbarst das Ding, setzte noch nicht mal eine Blase an die Oberfläche frei, gespült und geschmettert gegen einen strömungsbrechenden Stein. Ich meinte noch, Splitter blitzten, aber das vermochten auch aufsprudelnde Wassertropfen, die Licht zwar in Spektren zerlegten, aber wegen des Flusstons satt ins Grüne strichen.

 

Ernstl hatte weder nach draußen gesehen noch seine Armschwünge beendet, ganz so, als hielte er sein Falsett noch höchst konzentriert in Händen und hätte etwas auszufechten. Die Bewegung versandete so wenig wie das Heben und Senken längst imaginär gewordener Bierkrüge, die, selbst schon verschwunden, Hände zogen, abwechselnd zum Mund und zur Tischplatte schwebten, nicht mehr geführt wurden, sondern Männer wie Frauen verführten, unermüdlich geübte Muster geboten, Praxen des Trinkens, stumme Schluckrefleximitationen, Aufziehpuppen, routiniert, stundenlang, metronomisiert, Marionettenkönig Methanol, Wochentag für Jubiläumsjahr, beharrlich, aber beherrschungsverloren, dem Ruf ergeben, sabbernd und doch trockengelegt, sodass Speicheltropfen Krüge füllten, auf und ab gehend als Spucknäpfe jetzt vor Insassenbrüsten, die sich in Wirklichkeit die Hosen vollgeiferten, dass die Pfleger eine Arbeit hatten, enerviert hin und her huschten, eher wieder Wärter wurden, »hast dich wieder vollgeferkelt, du Sau«, einmal bloß den Vater dort besucht, während er den Kelch empfing am Mund, ihn wieder runterstellte und hob, die leere Faust des Vaters ging nieder, die Klientel derweil gruppiert um gigantische Tafeln, alle dasselbe machend, in kolossalvollen Sälen titanischer Kerkerhaftanstalten, überall und allenthalben hingepflanzt die letzten Trinkluftschlösser dieses Winzlingslands, abgestellt in pomplosen à la das-kriegen-die-eh-nicht-mehr-mit, aber abartig großen Alkoholkrankenparkhäusern ohne Ausfahrt.

Ich parkte in gebührendem Abstand vom Bahnhofsgebäude. Wie eine Kathedrale oder eine Universität erschien mir die Flügeltür des ramponierten Zementhaufens. Wie Novizen und Studenten würden meine Söhne darin eingehen, wie auch ich mein Curriculum wiederaufnehmen würde. Ich stellte den Viertaktmotor und die Zündung aus, und es wurde ruhig. Frühsommersonnenaufgangslicht fiel durch die Windschutzscheibe auf meine Söhne, deren Köpfe ich im Rückspiegel sah. Niemals nahmen sie die äußeren Plätze auf der Rückbank ein. Stets saß einer der beiden in der Mitte. Dabei wechselten sie sich ab. Diesmal saß Lukas rechts, und als ich ihn die Seitentüre öffnen hörte, stieg ich in Eintracht aus, stand sogleich links vom Wagen. Ich konnte die beiden nicht sehen, weil ihre Köpfe noch nicht erwachsen genug waren, das Autodach zu überragen. Auf dem Blech spiegelte sich die langsam in meine Augen steigende Sonne und ich blinzelte, während ich dachte, Lukas und Johannes, sie würden wachsen, bald schon, größer. Als ich mein Gesicht abwandte, um die Motorhaube entlangzublicken, die genau auf das Bahnhofsgebäude zeigte, sah ich nur noch die Rücken meiner schnurstracks losmarschierenden beiden Söhne, die eine Schultasche in Camouflage gehalten, die andere in neonfarbigen Karos. Ich wollte schon rufen, als Lukas seinen Arm hob, den Ellenbogen durchstreckte sowie die Finger an der bloßen Hand, die an diesen Frühsommermorgen nicht mehr in Handschuh gepackt werden musste. Er fasste seinen Bruder Johannes an der Schulter, am Träger des Rucksacks, den mein Sohn weit unter seinem Hintern trug. Die beiden Schultaschen schwenkten aus meinem Gesichtsfeld. Der Minutenzeiger der Bahnhofsuhr rückte vor, schon fast auf Abfahrtszeit. Aus der Bahnhofsstube strömte warmer Kaffeegeruch und aus den Tälern kam mit starkem Föhn Waldaroma. Es war göttlich, wie sich meine beiden Söhne auf dem Parkplatz vom Bahnhofsgebäude abwandten, irritiert zu ihrem Vater umdrehten, die Gesichter voll Überraschung und vom einfallenden Sonnenschein zerrissen in Rot und Schatten. »Was machst du noch hier?«, fragte Lukas und Johannes sagte: »Papa, du bist ja ausgestiegen.« Ich schritt ihnen nach, kniete mich hin vor die beiden Knirpse, dass ich auf Augenhöhe war, sagte, »ganz recht, mein Sohn«, legte meine vier Finger an Johannes’ Wange, sah ihm in die Augen, in denen sich meine spiegelten, in denen sich seine spiegelten, stellte nicht den kleinsten Unterschied fest und zeichnete ihm mit dem Daumen ein kleines Kreuz auf Stirn, Nase und Mund, dann küsste ich ihn auf die Wange. »Ihr seid so groß geworden«, beim Berühren seiner Haut spürte ich seine Mundwinkel nach oben wandern und bemerkte, wie warm die Wange war und dass Johannes keineswegs aus Rebellion gegen das elterliche Zieh-dich-warm-an die Haube zu Hause vergessen hatte. Lukas trug sie wahrscheinlich aus modischen Gründen. Ich würde sie ihm etwas aus dem Gesicht schieben müssen, um auch seine Stirn zu bekreuzigen, Vatersagen hatte mein Vater immer gesagt, auch mir fiel nichts Besseres ein, doch als ich meine Hand nach Lukas ausstreckte, machte er einen Satz zurück und sagte: »Was fürn Scheiß!«, drehte sich weg und ging eilenden Schritts in den Bahnhof ein, der wenige Sekunden später auch Johannes verschluckte. Im Mitgehen versuchte er noch mehrmals, Lukas an der Schulter herumzudrehen, ihn zu zwingen, mich anzusehen, wie ich da stand, einen Kuss auf meine Handfläche hauchte, um dann zu winken, vielleicht zeitgemäßer als der Vatersegen. Ich tat das drei, vier Mal, während die beiden eingesogen wurden vom Bahnhof und davongetragen von den dahinterliegenden Gleisen und mir auffiel, dass Johannes den Camouflage-Rucksack trug und Lukas den neonkarierten, Johannes Lukas herumgedreht hatte und nicht umgekehrt. Wie ein Tropfen Blei in einem sonst reinen Bergquell lag eine Spur stechenden Schmierölgeruchs in der Luft. Dann hupte mich ein Audifahrer an. Seine beinahe zu spät kommenden Blagen säßen längst im Zug, wären sie sofort ausgestiegen und gerannt, statt darauf zu warten, dass ich zur Seite trat, um anschließend bis zu den Treppen des Bahnhofsgebäudes vorgefahren zu werden. Als die beiden Kinder vom Beifahrersitz und der Rückbank die Türen öffneten, hoffte ich, sie würden gegen die Marmorstufen knallen, die natürlich aus Granit bestanden. Der Minutenzeiger der Bahnhofsuhr rückte auf die Abfahrtszeit vor, die Knirpse flitzten los, einen Moment bloß, nachdem die Jungs sich die Minute genommen hatten, ihrem Vater am Fahrersitz einen Kuss zu geben, der eine auf die Stirn, der andere ins Genick. Ich fühlte sie wie Schüsse, schlenderte nachdenklich zu meinem Wagen zurück, merkwürdig, Johannes war inzwischen größer als Lukas, spürte den Föhn die Schöße meines Mantels hinter mich wehen, ging schneller gegen den Wind, zertrat den regenbogenfarbigen Film auf einer Pfütze, sah die offene Fahrertür meines Wagens schimmern, hörte den Motor laufen, das Radio wimmern, roch Abgase, merkwürdig, stieg ein.