Die Forelle

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Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Ich packte den Loverdoppelgänger an der Schulter, kalt und glatt fühlte sich die nackte Puppenoberfläche an. Erst als ich ihn am Tanktop anpackte, der Opticus das Kunststoffimitat losließ und ich das Ding durch die Scheibenbruchstelle hob, fühlte es sich menschlich an, nach einem Baumwoll-Polyester-Nylon-Satin-Gemisch-beschichteten Wesen. Ich tat ein paar Schritte rückwärts, schleifte die Puppenfüße über ein paar noch hochstehende Glasdreiecke, die teilweise herausbrachen und die Leerstelle dazwischen deformierten, dass sie eine plötzliche Zufälligkeit bekam, bloß ein ballistisch rekonstruierbarer Steinabdruck inmitten leuchtender, scharfkantiger Glasflächen. Der Opticus schickte noch, er brauche ohnehin eine neue, vielleicht eine optische, oder gar keine, als Witz oder so, und schmiss das Geschoss hinterher, ein weiterer Zacken der immer weniger werdenden Scheibe zersplitterte. Ich stand auf dem Trottoir, die Haarwerbepuppe im Schleifgriff, wollte gerade umfassen, um keine Leiche zu ziehen, sondern einen Tanzpartner zu wiegen, da war der Opticus aber schon durch das kaum noch existente Schaufenster getreten, hatte die Wange der Puppe geküsst, sie aus meinen Armen gelöst, über das Marktgassenpflaster gehievt und geschmissen in den Entrümpelungscontainer. »Sie alle werden die Schönheit sehen«, sagte er zu mir, »Sie werden es sehen«, und beim Einsteigen in meinen Mercedes sah ich durch die dreckige, frostkristallbesetzte und schneeflockige Beifahrerfensterscheibe den Schaufensterrest, einen messerscharfen Glaszahnsplitter, den schon Sprünge und Brüche durchzogen, die wiederum den Anblick des Frisiersalons dahinter rasterten und frakturierten, aufspalteten in Felder, aus der fließenden Mannigfaltigkeit der Fläche in die kleinkarierten Kästchen optischer Analysten, genauer Schauer und findiger Hingucker überführten, wie ein Kreuzspinnennetzsegment, durch das man blickte. Dann kam die Sonne hinter einer Wolke hervor und ihre Strahlung tauchte den Glassplitter wieder in Grelle, dass jeder Durchblick ausgeblendet war wie im Altweibersommer. So ließ ich den Motor an und die Beifahrerfensterscheibe hinunter, rief dem schon wieder munter weiterrubbelndem Doktor Opticus zu, ob er wisse, was aus dem Pudel geworden war. »Natürlich«, quittierte er. »Und zwar?« Der lasse sich nie wieder anschauen. »Ja, und weiter?« – »Nun ist der schönste Mann im Ort wieder Volki Hort.«

10 Siegi hört eine Radiosendung über
Kleinstarbeit am Rasterteil

Erst unlängst hörte ich auf dem Kulturradiosender, der mir meine handkrampfigen finalen Tage versüßt, einen Beitrag über den französischen Maler Cézanne. Man weiß es ja eigentlich, es ist dann immer die Rede von der Kubisteninspiration, vom Aufstoßen der Türen, durch die Avantgarden stürmen, von Picassos fortwährenden Interpretationen der Cézanne’schen Motive und auch vom Porträt des Kunstsammlers Ambroise Vollard, eines seiner ersten und einzigen Förderer. Mit einer Stimme, dass man das Schmunzeln fast hören konnte, sagte der Radiomoderator, Vollard hätte nicht gewusst, worauf er sich einlasse beim Einwilligen, Cézannes Modell zu werden. Normalerweise nahm ein Gemälde damals ein paar Stunden in Anspruch, wiewohl der Künstler sodann ohne das Modell für unbestimmte Zeit an der vorerst hingehauchten Studie weiterarbeitete. Aber Paul Cézanne habe die Palette bereitgemacht, die Pigmente vermischt, die Grundierung aufgetragen, während Ambroise Vollard schon dasaß, womöglich ungeduldiger Miene, stutzend, wann es losginge. Aber Cézanne habe die ganze Leinwand gerastert, habe sie vorzeichnerisch in winzige, daumennagelgroße Dreiecke unterteilt. Vollard habe wahrscheinlich gefragt, ob er etwas trinken könne, schielend schon nach der Dienstmagd, sie bringe ihm doch sicher einen Kaffee, vielleicht auch einen Weißwein, je nach Tageszeit. Aber Cézanne habe das untersagt, habe gesagt, er trage jetzt erst die zweite Grundierung auf, er modelliere das Licht, zerteile es, wie es eben falle hier herein um diese Tageszeit, er strukturiere das Bild. Ach Paul, dann maltest du zwei Dreiecke aus und schicktest Ambroise weg. Morgen um dieselbe Zeit. Sage und schreibe zweihundertsiebzehn Sitzungen lang. Vierhundertvierunddreißig daumennagelgroße, Stunden auszumalen dauernde Dreiecke weit. Im Vorrücken des Minutenzeigers vernichtet die Tageszeit, den Blick geheftet nur auf das Modell, aber nicht auf Ambroise, sondern seinen Schatten, auf den Schein, ihn einzufangen bereit, keineswegs die Figur dahinter, finster aus dem Atelier herausgerissen, das dann dalag, bar des Lichts, fern der Sonne, vorbeigeschwommen im Verstrich des Tages, auf die andere Hausseite, woher kein Licht mehr fiel auf die dunkle, ebenholzige Kommode, auf Stores voller Stickereien vor den Fenstern, auf die Muster, von feuchten, runzlig gewordenen Tapeten auf die Wände geprägt, die fingerabdruckfettvolle Türklinke, den Teppich, der Atelier und Vorraum verbindet, es ist so weit, das Licht ist fort, und schickte Vollard wieder weg, der die Reihe durchgelaufener Schuhe entlangschritt, wohl dachte, ach, was könne er alles malen. Warum ausgerechnet mois. Morgen um dieselbe Zeit. Ja. Und dann wieder, und dann wieder, und dann wieder, ach Ambroise, armer Mann, aber wer hat dabei schon an Cézanne gedacht. Der saß da, in seinem Atelier, geschieden vom Licht, das die anderen Impressionisten suchten an feuchten Flussuferwiesen, bei Frühstücken im Grünen, auf der hauchigen, fast venendurchsichtigen Milchhaut von Frauen, blauunterlaufen, auf rauschenden Tanzvergnügen unter venezianischen Lampions, Männer in Fracks mit Seidenaufschlägen. Währenddessen darbte Vollards Porträt dahin, Dreieck für Dreieck, Splitter für Splitter, Farbfleck und Pinselstrich, Stunde für Stunde, Jahr für Jahr, als Paul dann sagte, aha, so sieht er also aus, dieser Ambroise Vollard, in seine zerschlissenen Schuhe schlüpfte, das Modell einfach sitzen ließ, jedes Leben von ihm abgezogen, und sich aufmachte ins Gebirg, immer wieder hinging, sich in diese Hütte einquartieren ließ, um Lichtquanten vom rauen Fels mit Pinselpalette und Pigmentstafette zu fangen und sich selbst vor die Augen zu stellen, wie ein Insektenforscher vielleicht Schmetterlinge mit einem zarten Kescher aus der Luft fischte und sich selbst auf den Handrücken setzte extralanger Haxen. Weberknechtartig stakste das riesige Insekt dann den Finger entlang, gelangte über den Nagel hinaus, schon braun und nicht mehr schwarz, krabbelte von Kurti weg und die Thermoskannenkappe hinauf und strampelte dann in kaltem Kaffee. Sobald ich ihn an der Flügelscheide schnappte zwischen Daumen und Zeigefinger, sogleich schabten Geweih und Fühler über mein Nagelbett. Wie winzige Haken, die an mir zupften, das Rucken kleiner Beinchen, fast liebköstlich. Wie Maikäfer, wie Junischwärmer, wie das hingehauchte Licht der Glühwürmchen, so die Berührung dieses kleinen Kerlchens. Ich setzte das süße Ding ab. Es bewegte sich weg, langsamer jetzt, zu einem dämmernden Grashalm hin. Er stellte sich auf die imposanten Hinterbeine und trank den Tropfen Tau zwischen seinem Geweih. Muschelmundartig öffneten und schlossen sich seine beiden Scheren, Schaufeln oder was auch immer. Wie die meisten Menschen hatte ich noch nie einen gesehen, geschweige denn berührt. Doch nun war die Existenz des Riesenkäfers bewiesen. Ich nahm den finalen Schluck Kaffee. So gut hatte der noch nie geschmeckt. Kein Krümelchen Satz darin. Ich war verzückt. Kurti steckte sich den letzten Tschick ins schwarze Gesicht. Er schaute zu der Eiche auf, die uns beschattete, zum Rohrdickicht hinaus, hinter dem der Wildwechsel in der Dämmerung lag, nickte und nuschelte.

»Also nochmal.«

»Ja?«

»Warum kommst du nicht mehr zu mir?«

»Ich hab einfach keine Zeit mehr.«

»Seit du bei Ernstl lernst?«

Und dann begannen hinter der Lichtung die Gipfel zu glühen. Das Strahlen strich von den Graten einher und legte sich auf die Wipfel. Zu allen Seiten wuchsen und blühten Linden gen Himmel. Ihre Blätter siebten zunehmend das Licht. Das Gestirn schwang sich als zinnoberroter Feuerball empor. Die Luft war erfüllt von Flieder, Märzenbechern und Hyazinthen. Bis an die Füße der Alpen lief die Straße über die Brücke schnurgerade hinweg. Der Asphalt bildete eine Einflugschneise für den Sonnenschein. Der Strom floss majestätisch mächtig darunter. Der rauschende Flusslauf lag vor uns in Herzblutrot, unterbrochen nur durch die Lindenblattschatten. Es waren bloß kleine Schwachstellen ganz normalen Wassers in unserer Sage voller Unbesiegbarkeit. »Die Allerallerwichtigsten …« – »Jaja, die Weibchen, wegen der Eier«, gab ich wieder, was ich zum zirka tausendsten Mal vernahm, »die kapitalen Weibchen. Die sorgen für Nachwuchs«, verbesserte mich Ernstl, aber zum ersten Mal sah ich, was mehr als jede Lehre war, dieses infernalische Bild. Der sich bis zum Kalkalpenfelsansatz windende Styx, die Höllensymphonie des plätschernden, murmelnden, singenden Wassers. Wo es gegen Steine stieß, warf es in die Luft Perlen, die das schräg einfallende Frühlingssonnenaufgangslicht regenbogengleich brachen, jedoch die Farbpalette satt ins Rote gestrichen. Und Ernstl sprach: »Das letzte Ziel ist eigentlich ein Fluss, in dem nichts mehr zu fangen ist. Alle Fische so oft gehakt, dass man sie nie wieder dranzukriegen vermag. Aber bis dahin«, erstens nahm er die Ritz D zwischen Zeigefinger und Daumen der linken Hand, zweitens hakte er die Fliege aus der untersten Öse der Stange, die er rechtens hielt. Drittens trat er so weit von der Brüstung zurück, dass sie den wachsamen Forellenaugen seine Armbewegungen verdeckte. Viertens stellte er sich anders hin, setzte den linken Fuß voran, im Knie leicht gebeugt, den rechten gestreckt zurück, wie ein Skispringer den Telemark. Fünftens ließ Ernstl die Ritz D mit beiden Fingern gleichzeitig los, weniger eine Handbewegung als das plötzliche Auseinandergehen zweier Zangenschenkel. Bevor die Fliege noch der Schwerkraft nachkam, in dem einen Augenblick, da sie schon schwebte, aber noch nicht fiel, begann Ernstl sechstens zu werfen flussabwärts. »Schau ihn dir an, den Volki, so ein Sepp, wie der so gut fängt«, Ernstl wies mit einem Nicken in Richtung der nächsten Brücke. Ihre Silhouette zeichnete sich Dutzende Meter tallängs schräg zum Sonnenaufgang ab, »es muss mit dem Teufel zugehen.« Ein hoch aufgeschossenes V von einem Oberkörper war zu erkennen, ein schmaler, flimmernder, vertikaler Strich markierte die Rute, ein beschattetes Gesicht, eine Krempe hineingezogen, im Hutband eine Hahnenfeder, »seine jämmerlichen Versuche, flussaufwärts den Strömungsschatten eines Steins anzufischen«, ein Vorfach schimmerte diesseits der unteren Brücke orangefarben in den Lavastrom, denn erstens wollen Forellen kaltes Wasser. Zweitens erwärmt sich Wasser, wo es steht, am schnellsten. Drittens wollen Forellen also rasendes Wasser. Viertens wollen Forellen aber nicht gegen die Stromschnellen schwimmen. Fünftens wollen Forellen also stehende Stellen im rennenden Fluss. Sechstens brauchen Forellen sauerstoffreiches Wasser. Siebtens können die H2O-Moleküle umso besser O binden, je größer ihre Oberfläche ist. Achtens lässt sich eine Oberfläche auffächern, indem sie gefaltet wird. Neuntens wirft Wasser die meisten Falten, wird am weitflächigsten aufgespalten, wenn es auf Hindernisse trifft. Zehntens wollen Forellen also kühle Moleküle, die über Steine rinnen und Schottergründe hinab in Flüssen Kaskaden bilden, aufgewühlten Sprudel, aber so, dass sich hinter einem Stein, wenn das Wasser wieder sauerstoffgesättigt weiterrinnt, ein Strömungsschatten ergibt. Da stehen also diese Forellen. Und elftens lieben sie den Schatten, da ist das Nass dann noch etwas kälter. Zwölftens fallen von Ästen Insekten ins Wasser. Dreizehntens fressen Forellen Käfer. Stehen also vierzehntens unter astbeschirmten Stellen hinter Steinen im Schatten ausgesetzter Strömung flussabwärts der Kaskaden. Fragt sich nur fünfzehntens, wie fischt man die an? Wie komm ich an die kapitale Forelle ran?

 

11 Siegi versucht sich in der
ernstllosen Zeit zurechtzufinden

Jeden Tag ging ich an einer ungemein perfekten Stelle vorbei, seit Ernstl nach Graz abgereist war, und überlegte. Vom jenseitigen Ufer hingen Trauerweidenzweige in die Wasseroberfläche, genau neben das Gestein, es ragte aus dem Fluss. Davor bildete sich eine sprudelnde Untiefe, die seitlich des Brockens die Strömung beschleunigte und die Zweige noch mehr in den Schatten trieb, den Stein zum Fliegengrab verwandelte, die Stelle dahinter umbrachte, ein toter Winkel, unfischbar unter Trauerweidenzweigen. Einen Vorhang bildeten sie dort, nahtlos. Eintreiben lassen konnte ich also vergessen. Selbst wenn ich es schaffte, die Fliege dorthin zu dirigieren, der Stein war genau in der Mitte des Flusses, ich hätte einige Arme Schnur auf dem Wasser, die in der schnellen Strömung abtreiben und die Fliege wieder hinter dem Stein hervorziehen würden. Aber daran war ja gar nicht zu denken, weil die Äste mir den Wurf verstellten. Die andere Flussseite war nicht zu betreten, dort wucherten Pflanzen und hinter einer steilen Böschung hob eine Pferdeweide an. Den Zaun durchströmte Elektrizität. Den hätte ich erst überwinden, mich dann an den Gäulen vorbeischleichen, die Böschung hinunterschlagen müssen. Das sprach nicht für sich. Ich überlegte, die Fliege ins hinterste Eck den Fluss hinaufzuwerfen, sofort Schnur nachzulegen, die zu mir heruntertriebe und die Fliege vom anderen Ufer her in einem Bogen vor den Stein ziehe. Aber was dann? Wenn er so bisse, der Fisch, straffe sich die Schnur, lege sich flussaufwärts um den Stein – und risse. Mindestens auf sechzehn müsste ich mit dem Vorfach hinaufgehen. Vergiss es. Das sieht der Fisch. So ging ich tagaus, tagein den Fluss ab und überlegte. Die Stelle war zu perfekt, sie nicht zu befischen. Natürlich stand da der Gigant. Zeitweise sann ich darüber nach, was wäre, wenn ich ins Wasser watete und die Weidenzweige einfach abzwickte. Aber das machte ja nur die Stelle unattraktiver. Die Ameisen würden dann nicht mehr vom Baum ins Wasser fallen. Außerdem hat das Knacken einer Stelle nur dann ihren Reiz, wenn sie möglichst schwierig zu befischen ist. Und ich, jetzt noch Schüler, würde die schönste Forelle ganz ohne die Hilfe des Meisters erwischen, dann selbst schon Meister. Insofern war ich sehr glücklich mit Ernstls Abwesenheit und meinen quälenden Gedanken, wie denn zu fangen wären die Fische hinter dem Stein. Bewegung tut solcher Überlegung gut, und so ging ich auf und ab den Fluss, die verschiedensten Stromschnellen und Gumpen, Kaskaden und seichten Äschenpassagen, Saiblingsstellen, Sandbänke und Wildränke entlang, immer nur den einen Stein im Kopf. Wenn ich dann müde war, die Sonne hitzewallend den Zenit erreichte, kehrte ich in den Gasthof ein, auf die ebenerdige Holzveranda. Ich blickte versunken ins Wasser, sah mir die großen, schon jahrelang dort gewachsenen Schonstreckenforellen an, wie sie majestätisch schwebten, und dachte daran, blickte hinüber zum Stein, wie viel kräftiger, wohlgeformter, kurz vollkommener noch das Tier sein musste, das dort auf mich wartete. Bis mir eine Lösung einfiele, es anzufischen, kaufte ich mir einen Eisbecher. Dann saß ich vor dem schmelzenden Dessert in der Sommerhitze. Ich kaufte viele Eisbecher. Und die Vorstellung, die Forelle dort doch noch zu fangen, zerrann im Vergehen der Tage.

Wie Vanille, so blond die Sandaufschüttungen im Strom vor mir. Etwa so, als bestellte ich statt Eisbecher Topfenstrudel, von etwas hellerer Farbe also jene Inseln im Fluss, die zwar betretbar waren, in deren Oberfläche man aber Ballen voran, gefolgt von Zehen und Ferse, einsank, gerade noch rechtzeitig den Fuß hob aus dem eigenen Abdruck, der sich sogleich anfüllte bis zum Pegel rundum, Wasser vom Grund, schlammig ungesund koloriert, und futsch war die Spur, man selbst einen Schritt weiter, wo man längst wieder versank, bis man wieder im Gasthof saß unter blauem Himmel. In dieser Farbe schraffierte ich jene Flächen der Dünen, die bei höherem Wasserstand unter der Oberfläche lagen. Der lange Eislöffel hatte die Farbe des Kugelschreibers, den ich benutzte zum Einzeichnen der Kiesbänke in die Mäander. Sie entstanden nur durch zwei tintenblaue Schlingen, gut geschwungen, violaschlüsselig. In der Musikschule saß ich, wartete auf verspätete Schüler, wartete aber nicht, beschäftigte mich, nahm alle meine mit Ernstl verfertigten Notizen zur Hand, welcher Fisch auf welches Muster, an welchem Tag, welche Stelle, versuchte, Rhythmen abzuleiten aus ihren Bisszeitortschnittstellen, suchte wiederkehrende Metren im Fischverhalten, aber da waren keine, Rückschlussverweigerung, nur Johannes: »Warum spielst du nicht?«, er stand in der Tür, die Violine lag neben mir, die Notizhefte am Notenständer, ich hingefläzt am Sessel, Arme vor Brust gekreuzt, Rücken gegen Lehne, Beine ausgestreckt, Krausbirn aufgestellt, glühend, die Ohren. »Du hörst nicht richtig«, sagte ich. Zögernd trat er über die Schwelle, fraglich sein Gesicht. »Hörst du nicht?« Er schüttelte den Kopf. Also nahm ich die Geige, raunte »das Rauschen«, und strich ein sattes Vibrato. »Ich komm manchmal her«, sagte er, schmiss den neonkarierten Schulrucksack von seinem Rücken und setzte sich neben mich. Ich war nun dran, ihn anzuschauen, als wäre was. »Aber du spielst nicht mehr.« – »Also nochmal zum Mitschreiben. Du steigst auf der Heimfahrt aus dem Schulbus. Um mich hier zu belauschen. Vor dieser schalldurchlässigen Tür. Da wartest du dann eine Stunde. Bis zum nächsten Bus?« – »Manchmal auch länger«, sagte er und mir wurde etwas mulmig. In aller Unschuld saß Johannes da, noch kein Stoppel Bart, abartig reine Haut. Sein grauer Pullover mit Regenbogenemblem, Captain Beefheart and his Magic Band. Ich vermutete, das Kleidungsstück gehörte Lukas. Ich spekulierte, deshalb war er hier, konnte sich unmöglich blicken lassen im Zug, den vielleicht auch sein großer Bruder nahm. Der kleine Kerl konnte ein regelgerechter Berserker sein, wenn es um sein Eigentum ging, wenn es um Lenas sinnlose Keinkleidertauschklausel ging, es hielte sie ohnehin schon jeder für Zwillinge etc. pp. Ging es allerdings um die Stücke seines jüngeren Bruders, war Lukas immer nur in eigener Sache unterwegs. Auch die neue Anlage konnte kaum einen Tag im Arbeitszimmer stehen, ohne dass er Anspruch darauf erhob, indem er die Boxen einfach davontrug in sein Zimmer, mit den dortigen alten vertauschte. Lena begeisterte die Fähigkeit ihres Sohnes, autodidaktisch erworben quasi, die Drähte gezwirbelt, in den Verstärker gesteckt, alles angeschlossen, ohne sich zu stromen. Das hatte zuletzt noch ich gemacht, und schon hatte es auch Lukas auf dem Kasten, da floss das Elektrosignal, durch die bohrgelöcherte Regalrückwand, die Leiste am Fußboden entlang, wo extra Miniaturhalterungen angebracht waren, superverdrahtet das plastikbeschichtete und magnetisolierte Kabel. Und erst dieser furchtbare Musikgeschmack, der dann alle Räume der Wohnung verdarb, vibrierend die Wände entlangkroch, den Boden entlangpoch, schon beim Aufstehen in die Fußsohlen, selbst durch zentimeterdicken Plüsch, in den Schlafzimmerteppich, während Johannes sich schon im Gang den Arm rieb, rot angelaufen britzelte er, eine Brennnessel hatte ihm der Herr Bruder verpasst, weil er es gewagt hatte, nach lauterem Bass zu verlangen, Lena schon im Krankenhaus, ich ließ den Rüffel aus, scheiß drauf.

»Was habt ihr denn heute so angestellt?«, fragte ich im Unterrichtszimmer sitzend Johannes. Noch waren sie da, die roten Streifen auf seinen Armen. Egal wie viele Ellenbogen ins Gesicht er abkriegte, immer wieder griff er seinem Bruder ans Genick, ihn zu umarmen, ständig zu zweit unterwegs die beiden. »Wir waren auf der Polizei«, so ein Scheiß, vielleicht verhaftet der Kleine. »Klassenaktionstag.« – »Und was habt ihr da gemacht?« – »Die haben uns allerhand Sachen erklärt. So was machen wir immer, wenn Konferenzen sind und die Noten schon feststehen. Oder wenn eine Schularbeit bei den Lehrern zu Hause liegt und es um nichts geht gerade. Heute hat uns der Herr Gemeinderat was erzählt vom Flächenwidmungsplan. Da ist festgehalten, welche Grundstücke wozu verfügbar sind, Äcker, Baugrund, Wohnsiedlungen, Waldgebiet, Erholungszonen und so.« – »Dir ist aber klar, dass diese Widmungen bloß so lang fix sind, wie niemand dem Herrn Bürgermeister eine Kiste Wieselburger unters Flugdach stellt.« – »Dann gelten die nicht mehr?« – »Die werden umgewidmet.« Und dann stand in der Tür, die Johannes offen gelassen hatte, die verloren geglaubte, diesmal wahnsinnig gut angezogene junge Frau ohne Totenkopfring am Finger und mit wasserstoffblondem Schopf. Während ich Johannes ins Wartezimmer komplementierte, wo er dann abends noch über seinem Hausaufgabenheft mit neonorangefarbenem Kunststoffumschlag saß, sah ich schon den ganzen Ammoniak von ihrem verwirrten Kopf durch die Abflussrohre strömen und den Fluss verpesten, und ich machte, weil Johannes sich immer noch nicht bewegte, eine rotierende Handgeste, die den Jungen gleichzeitig hieß, sich zu verabschieden, und die junge Frau, Platz zu nehmen. »Hey du« und »Hey Conny«, sagten sie einander im Vorbeigehen, »Ballett ist so scheiße«, sagte sie mir, spielte so gut wie noch nie, schickte mich quasi kommentarlos nach Hause, wie ein Mathelehrer von Lukas beim Eintritt in das Klassenzimmer am Elternsprechtag mich mal fragte, was ich da mache, ich solle nach Hause gehen, ich solle meinen Hobbys nachkommen oder was auch immer.

»Wo fährst du denn hin?«, fragte mich Johannes auf der Heimfahrt. Ich müsse noch wo hin, sagte ich, fädelte auf die Bundesstraße ein und zischte sie runter Richtung Oberland, um noch die abendliche Flusstemperatur zu messen. »Ich bin dir nicht böse«, sagte Johannes, »dass du so viel fischen gehst. Schön, dass du was gefunden hast. Apropos«, und gleich würde er mich um etwas bitten, was Lena verbot, »apropos was? Hobby oder Familie?«, fragte ich. »Beides. Ich habe mir überlegt. Darf ich zu Lukas ins Zimmer ziehen?« – »Was sagt deine Mutter dazu?« – »Nichts«, was mir ja bekannt vorkam. »Nun gut, aber warum?« – »Also, er ist so cool.« – »Und weiter?« – »Er hört Musik.« – »Nicht, warum er so cool ist, sondern warum du zu ihm ins Zimmer willst.« – »Er hört Musik«, das verstand ich, drehte das Autoradio so laut wie möglich auf, Eric Clapton mit Backgroundchor in Altstimmlage, dass Johannes und ich schrien. Unser Gespräch handelte weiter vom Flächenwidmungsplan, pro österreichischer Gemeinde genau einen. Legt man sie exakt aneinander, jeder einzelne so groß wie ein ganzer Konferenzraumtisch, ergibt sich die genaueste Karte unserer Nation, offiziell zumindest, Maßstab eins zu fünfhundert. Ich fertigte von da an Blaupausen meines Flusses an, ging rechtsseitig des Verhältnisses einen Zentimeter runter, eins zu vierhundertneunundneunzig. Das ganze mir vorschwebende Konvolut an Notizheften, Merkzetteln, Post-its und DIN-A 4-Karten-Mosaiksteinchen taufte ich mein Fischstandprotokoll. Abends saß ich selig davor, spottete im Geiste über Bürgermeister und Gemeinderäte, die glaubten, irgendetwas zu verstehen von meisterhaften Bürgern und beratschlagender Gemeinschaft, fing wie ein Omen mit der Forellenstelle an, wo zwischen jenen beiden Brücken Ernstl Volki panierte im Morgengrauen, während ich mich langsam entfernte, auf den Kescher in meiner Linken gestützt wie auf einen Gehstock, in der Rechten Notizheft und Stift. Ich ging rückwärts, um den Moment in mich aufzusaugen, wie der Meister warf, Schritt für Schritt.

 

Der unterste Bezugspunkt der Stange, die goldene Spule, schillerte im Licht des Sonnenaufgangs bronzen. Sie drehte sich, verwehte und verwirbelte den Schein damit, machte ihr Klack-Klack-Klack, solange sie Schnur gab. Ernstl ließ die zittrigen Finger seiner linken Hand von der Winde. Stattdessen riss er direkt am Bauch der herauskommenden Schnur. Meterweise lief sie aus der Spule mit einem Zug, klack-klack-klack, das Rädchen justiert auf fast keinen Biss, klack-klack – klack – klaaak, sie lief gemächlich aus. Wieder riss Ernstl Schnur von der Spule. Sie kreiselte ihr Glänzen zu runden Lichtspuren, die meinen Blick wie ineinanderlaufende Spiralen in ihren Mittelpunkt sogen, in den Fluchtpunkt, das hypnotische Auge einer Schlange, klack-klack-klack, züngelte die Schnur aus der Spule hervor. Diesmal beruhigte Ernstl ihren Drall, indem er das Metall antippte mit der linken Zeigefingerkuppe, sobald er genug Bünde in der Hand hatte, die er auch Klänge nannte. Die Spule stoppte abrupt. Ganz ruhig lag auf ihrer Oberfläche der Sonnenschein, nun nicht mehr vermischt, sondern gold- wie orangefarben, nebeneinander, gestreift.

Auf eins. Die Ritz D flog über das hintere Brückengeländer hinweg, nach vorne, stetig steigend, in einer halbellipsoiden Bahn, wie ein Regenbogen. Ihre Kurve erreichte und durchquerte ihren höchsten Punkt, Ernstl in Verlängerung gen Himmel gedacht, gescheitelt passierte die Ritz D die Zwölf. Sie trat über das vordere Brückengeländer hinaus den Sinkflug an, bewegte sich vor Bäumen und Bergen durch Lindenlaubschatten in Bronze und Schwarz, dazwischen feuerrot und golden schimmernd, als flimmernder Strich über den Fluss, die farbige Variation einer Sternschnuppe. Nur verglühte sie nicht, sondern verharrte, die Eins erreicht, zwischen Ende und Anfang zweier sich fast berührender Lindenblätterschatten. Wie einander zugewandte Gesichter waren die anzusehen, dazwischen ein sanduhrförmiger Lichtfleck, wie geschaffen für eine Ritz D, die schwebte und fernblieb dem Grund verrieselter Zeit. Die Fliege zuckte schon in der Luft, glänzte, tanzte, lebte, bevor sie ein weiterer Ruck erfasste.

Auf elf. Ehrfurchtsvoll trat ich zurück, tumb, stolpernd fast, nur einen Schritt. Wegen des Klack-Klack-Klack der Spule glitt mein Blick zurück, nach unten, die Stange hinab. Zu drei Vierteln umklammerten den Korkgriff Ernstls vier Finger. Sie ließen die linke Seite unberührt, die war für den Daumen reserviert, der die neongrüne Schnur presste gegen Kork. Er hob sich jetzt, ließ die Schnur frei, die sogleich aus Ernstls linker Hand und unter seinem rechten Daumen hinweg durch die Ösen sauste im Schwung der Stangenspitze. Sobald die sich halbwegs entladen, die Kraft fast verbraucht hatte, justierte der rechte Daumen beim »und« von »zwei-und-zwan-zig« die Schnur wieder gegen den Kork, damit die restliche Energie die Schnur strecken konnte auf elf hinter Ernstls Rücken. Seine Hände zitterten zwar sehr, doch hinderte ihn das in keiner Weise. Die ersten vier Finger seiner Linken knickte er, und die Schnur lief die Glieder entlang, dann durch unter dem gehobenen Daumen der rechten Hand, die auch die Stange umfasste. Mal hielt der Daumen rechts die Schnur fest an den Kork gepresst, während die Fingerglieder der linken sich schlossen, klack-klack-klack mehr Schnur von der Spule rissen. Das war immer dann, wenn die Fliege gerade beschleunigte, den Anfangspunkt ihrer Bahn verließ, der gerade noch der Endpunkt gewesen war. Mal öffneten sich die Finger, und ihre ersten vier Glieder bildeten aneinandergehalten eine Rinne, über die es dahinlief neongrün. Ernstl hielt seine linke Hand also mit der Rückseite zum Boden, die Fläche nach oben, als würde er etwas hochhalten. In Wirklichkeit arbeiteten und entspannten bloß die Finger, zumindest ihre ersten Glieder, während der Daumen sich von der Schnur hob, damit sie frei durch die Ösen schoss, bis er sie wieder ausbremste, gegen den Kork presste, die linke, klack-klack-klack, Klänge für den nächsten Wurf abspulte. Je länger es ging, je länger Ernstl warf, je mehr Schnur schon über ihm war, umso mehr ging, umso länger wurde der Wurf, umso mehr Schnur konnte Ernstl pro Stangenschwung in die Luft bringen, weswegen die Intervalle der linken Hand immer länger wurden, ergo immer mehr Meter Schnur abgespult wurden, und bald wartete so viel davon auf das Loslassen der Fingerglieder und das Heben des Daumens, dass Ernstl die Schnur zu doppelten, dreifachen und vierfachen Klängen geschlungen hielt. So vermied er, dass sie über die Straße schleifte beziehungsweise zu Boden hing und auf hartem Asphalt Schaden nahm oder sich verknotete in den Phasen, wenn der Daumen gerade am Kork ruhte, wenn Ernstl die Schnur gerade nicht in die Ösen entließ. Jetzt öffnete er die Handfläche wieder, hob den Daumen, gab frei, was er zuvor gesammelt und zusammengerafft hatte. Das war immer dann, wenn die Fliege gerade verlangsamte, den Endpunkt ihrer Bahn erreichte, der gleich wieder der Anfangspunkt sein würde, markiert sodann durch Daumensenken und Fingerschließen. Und so bildeten Ernstls zwei zitternde Hände ein versetztes Zusammenspiel, ein Laissez-faire aus Freiheit und Kontrolle, Tanzen in Ketten, Laufenlassen und Stoppen. Und ich trat baff noch einen Schritt rückwärts.

Auf Eins. Der Daumen ging nieder, die linke Hand zog, die Spule spulte ab, klack-klack-klack, die Fliege flog, die Schnur streckte sich, das Vorfach, so hauchdünn und schmal, wurde gegen den Luftwiderstand in Schlaufen geweht. Die Fliege, schwerer und schleuderbarer, schnellte voran, zog das im Licht orangefarben schillernde, im Schatten transparente Vorfach hinterher. Es war noch in liegende Achten gefaltet. Im Luftstand zwischen Schnurende und Fliege, die ihren Schwebepunkt längst erreicht hatten, breitete sich das Vorfach sekundenweise aus. Jeder Millimeter Schlaufe strebte in die Gerade, halb zog die Fliege das Vorfach, halb schob das Vorfach die Fliege. Jedenfalls brauchte es doppelt so lange wie die Schnur, obwohl es nur einen Bruchteil der Länge maß, zwei Ernstlarmspannweiten das Vorfach, das Neongrün hingegen ein Dutzend Meter zwischen Ende und Spule inzwischen. Ernstl hob den Daumen, öffnete die Fingerglieder und dann lief nochmal Schnur hinaus. Die Fliege hielt, Neongrün und Orangenabglanz, austariert, in Schwerelosigkeit balanciert, die Fliege voran, alle Schnur und das Vorfach durchgereckt, Daumen nieder, klack-klack-klack, Ernstl ließ die Fliege nicht fallen, hielt sie hoch, zog nochmals zurück, klack-klack-klack, schwenkte seinen Arm auf elf wie einen Uhrzeiger, und ich tat noch zwei Schritte Richtung taufrischem Ufer, näher zum Fisch, und ein-und-zwan-zig, die Schnur an Ernstls Torso vorbei, Gebetsroither Wurftechnick, untendurch, die Fliege hinterher, haarscharf verfehlte sie das Geländer, an Ernstl vorbei, das hintere Geländer touchiert, die Ritz D überholte die Schnur, die streckte sich, zog das Vorfach nach, Ernstl hob den Daumen, gab wieder Schnur, erneut im Steigen begriffen die Fliege, zwei-und-zwan-zig. Und noch zwei Schritte zurück, in die Böschung seitlich der Brücke hinein, die Tropfen an den Gräsern benetzten meine haarigen Beine zwischen Sockenaufschlag und Hosennaht, und hinter Ernstl die durchgestreckte Schnur, und das Klack-Klack-Klack, der Daumen schon wieder unten, ein langer Bund Schnur zu achtfachen Klängen in Ernstls linker Hand, den rechten Arm auf eins, obendrüber die Fliege, jetzt, und wieder, das Strecken bis in die Spitzen der Ritz D, hintereinander, Stangenspitze, Schnurspitze, Vorfachspitze die Ritz D und Vorfach und Schnurgeben, ein-und-zwan-zig, zwei-und-zwan-zig, saust das Neongrün durch die Ösen, schiebt das Vorfach weiter nach vorn wie die Fliege, das Schummern in Rot und Blau und Grün und Orange und Violett und Indigo und die Fliege selbst wie eine Regenbogenfarbabfolge, halbelliptisch dirigiert Ernstl die Schnur wieder hinter sich, untendurch und obendrüber, und klack-klack-klack, und eins, ein-und-zwan-zig, zwei-und-zwan-zig und fast schon unten war ich am Wasser, beinnahe im Schilf, im Begriff, den Kescher zu wässern, begriff, dass es vergebens war, Ernstl Bünde in die Lüfte ballern würde, bis der Wurf eines vierundsechzigfach gefalteten Klangs hinter jenen Stein gelang, den Volki zu seinen Füßen, von dort unten aus, von der einige Dutzend Meter flussabwärts entfernten Brücke anfischte.