Die Mito-Medizin

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Überholte Theorien zur Alterung

Unabhängig von der Lebensspanne altern alle Tiere in ähnlicher Form, nur in unterschiedlichem Tempo. Tiere mit schneller Stoffwechselrate altern schneller und erliegen bald degenerativen Erkrankungen. Bei Lebewesen mit langsamer Stoffwechselrate folgt die Alterung demselben Prozess, doch er zieht sich länger hin.

Die Faustregel lautet: Je größer das Tier, desto langsamer die Stoffwechselrate und desto länger die Lebensdauer. Eine Ausnahme bilden laut Lane die Vögel, die einen schnelleren Stoffwechsel, aber auch ein langes Leben mit einem geringen Risiko für altersbedingte degenerative Erkrankungen haben. Ihre Mitochondrien geben weit weniger freie Radikale ab, und dieser Umstand hat unmittelbaren Einfluss auf die Alterung, das Krankheitsrisiko und den Tod selbst (worauf ich noch näher eingehen werde).

In einem Kurvendiagramm, das die Lebensdauer im Vergleich zum durchschnittlichen Ruhestoffwechsel darstellt, würde ein Vogel ein Säugetier mit vergleichbarer Stoffwechselrate mindestens um das Drei- bis Vierfache schlagen. Lane vergleicht in seinem Buch eine Taube mit einer Ratte. Beide haben eine ähnliche Ruhestoffwechselrate, aber die Taube kann 35 Jahre alt werden, die Ratte hingegen nur drei bis vier Jahre. Dazu muss eine Taube jedoch nicht etwa ihr Lebenstempo herunterschrauben – ihr Leben verläuft genauso rasant wie das einer Ratte. Lane zufolge leben auch wir Menschen länger, als wir „sollten“. Offenbar werden wir drei- bis viermal älter als andere Säugetiere mit vergleichbarer Ruhestoffwechselrate.

Wichtig ist auch, das Altern nicht mit degenerativen Erkrankungen gleichzusetzen. Zwar entwickeln die meisten warmblütigen Säugetiere im Alter immer mehr degenerative Erkrankungen – aber eben nicht alle. Das ist ein Lichtblick, denn so können wir uns ein langes Leben vorstellen, das kaum oder gar keine Abbauerscheinungen mit sich bringt. Ein langes, gesundes Leben. Wünscht sich das nicht jeder?

Falls und wenn ein Säugetier derartige Erkrankungen entwickelt, so geschieht dies nicht zu einem feststehenden Zeitpunkt, sondern in Relation zu seiner Lebensdauer, und die umfasst für jede Spezies einen bestimmten Zeitraum. Ratten werden im Labor gern verwendet, um menschliche Krankheiten zu erforschen, weil sie ähnliche Alterskrankheiten entwickeln wie wir – allerdings schon nach zwei bis drei Jahren, nicht erst nach Jahrzehnten. Ratten können Diabetes und Adipositas bekommen. Sie können Krebs, Herzschwäche, Blindheit und Demenz entwickeln. An diesen Krankheiten leiden auch viele Vögel, doch bei ihnen treten sie erst nach einigen Jahrzehnten auf, weshalb sie als Versuchstiere in Bezug auf menschliche Erkrankungen ungeeignet sind.

In meinem ersten Jahr an der medizinischen Hochschule – lange vor der Arbeit an diesem Buch – schrieb ich zu diesem Thema ein Essay. Es ging um eine Theorie, die ich mir damals ausgedacht hatte, ohne sie belegen zu können, wohlgemerkt. Ich hielt Tod und altersabhängige degenerative Erkrankungen nicht für „normal“, sondern war der Ansicht, dass der Mensch eigentlich dazu bestimmt sei, bei bester Gesundheit endlos lange zu leben. Die These lautete, dass Tod und Krankheit eine Erfindung der Evolution seien, um auf Kosten des Individuums das Überleben der menschlichen Spezies zu sichern. Je schneller wir altern und sterben, umso schneller müssen wir uns vermehren. Wenn wir nicht älter werden oder sterben würden, gäbe es keinen Grund, sich zu vermehren. Ohne Alterung oder Tod stünde das Überleben der Menschheit auf dem Spiel, denn wir könnten uns schlechter an veränderte Umweltbedingungen anpassen. Und je länger eine Spezies lebt, desto länger wird der Abstand zwischen den Generationen. Je mehr „Generationen“ eine Spezies in einem gegebenen Zeitraum hervorbringt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine hilfreiche Kombination der bereitstehenden Gene (von Mutter und Vater) entsteht und so eine zufällige, positive Mutation in den Genpool einfließt. Und diese verbesserte Bandbreite der Gene erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass einige aus der Population jedwede Umweltveränderung überleben. In meiner Theorie diente das Altern als hilfreiche „Mutation“ daher ursprünglich dazu, uns den Anreiz zu geben, uns alle 15 bis 30 Jahre zu reproduzieren. Ich weiß, dass diese Theorie zahlreiche Lücken aufweist (wohl deshalb habe ich die damalige Prüfung nur gerade so bestanden). Doch wer hätte gedacht, dass ich Jahre später in diesem Buch ähnlichen Gedanken nachgehe. Diesmal jedoch (ich lerne aus meinen Fehlern!) stütze ich mich auf signifikante wissenschaftliche Belege aus mehreren Jahrzehnten und diversen Forschungsgebieten.

Zur Frage, warum wir altern, gibt es diverse Theorien. Gemäß der endokrinen Theorie beruht die Alterung beispielsweise auf dem Rückgang bestimmter Hormone wie Testosteron oder Östrogen. Aber ist das wirklich die Ursache oder vielmehr eine Folge? Warum geht der Spiegel dieser Hormone überhaupt zurück?

Auch Abnutzung wird diskutiert, was voraussetzt, dass Zellen im Laufe der Jahre von Natur aus degenerieren. Das klingt nachvollziehbar und ist daher eine beliebte Theorie. Aber warum degenerieren die Zellen? Warum verläuft die Abnutzung bei unterschiedlichen Spezies so unterschiedlich schnell?

Und was ist mit der Telomer-Theorie? Die Telomere – die „Endkappen“ der Chromosomen, die im Laufe des Lebens allmählich kürzer werden – verhalten sich von Art zu Art derart unterschiedlich (sogar innerhalb der verschiedenen Gewebearten des Menschen), dass sie unmöglich der zentrale Grund für die Alterung sein können. Außerdem ist diese Theorie bisher viel zu lückenhaft.

Wenn man immer wieder nach dem Warum fragt, zeigt sich, dass die meisten Theorien den Kausalitätstest nicht bestehen oder genau das postulieren, was sie belegen wollen. Eine gute Theorie muss eine Vielzahl offensichtlicher Widersprüche, Paradoxe und Logikschwächen überwinden. Sie muss auch widersprüchliche Beobachtungen bei verschiedenen Spezies erklären. Womit wir bei der Freie-Radikale-Theorie wären, der zufolge Alterung und eine festgelegte Lebensspanne auf Schäden durch freie Radikale zurückgehen. Tatsächlich erklärt diese Theorie viele Diskrepanzen und sogar die scheinbar paradoxe Beobachtung, dass Vögel trotz ihres schnellen Stoffwechsels erheblich älter werden als vergleichbar große Säugetiere. Die Theorie erkennt an, dass freie Radikale einerseits aus der mitochondrialen Elektronentransportkette herrühren, andererseits aber auch von außen in den Körper gelangen.

Wie alle Theorien wurde auch die Freie-Radikale-Theorie wiederholt infrage gestellt. Mit jeder neuen Herausforderung kristallisierte sich eine klarere und stärkere Form heraus. Eines hingegen erklärt diese Theorie nicht, und das ist das Sport-Paradoxon: Sportler scheinen länger und gesünder zu leben, obwohl sie viel mehr Sauerstoff verbrauchen (und viel mehr freie Radikale produzieren) als Menschen mit sitzender Lebensweise. Damit hält auch diese Theorie letztlich nicht stand. Wenn Alterung auf das Austreten von freien Radikalen aus der Elektronentransportkette zurückgeht, müsste die Stärkung der Verteidigung über Antioxidantien solche Schäden von vorneherein vermeiden und das Leben verlängern können. Säugetiere mit hoher Lebenserwartung müssten demnach anlagebedingt ein besseres Antioxidationssystem haben. Das wiederum würde bedeuten, dass Vögel hohe Antioxidantienspiegel haben müssten und Ratten sehr niedrige. Wenn wir uns also ein längeres, gesünderes Leben wünschen, müssten wir lediglich für mehr schützende Antioxidantien sorgen. Entsprechende Studien haben diese Theorie allerdings widerlegt. Bei Vögeln ist der Spiegel der Antioxidantien sehr niedrig (aber sie werden alt), bei Ratten sehr hoch (aber ihr Leben ist sehr kurz). Hinzu kommt, dass Nahrungsergänzungsmittel mit Antioxidantien das Leben zumindest im Labor nicht verlängern konnten. Seit mehreren Jahrzehnten verabreichen Forscher den verschiedensten, im Abbau begriffenen biologischen Systemen erfolglos diverse Antioxidantien. Bestenfalls konnten sie damit das Risiko für bestimmte Erkrankungen mindern oder gar die Symptome anderer Erkrankungen verbessern. Doch die maximale Lebenserwartung ließ sich nie verlängern. Man könnte natürlich einwenden, dass vielleicht die falsche Dosierung, die falsche Formel, die falsche Darreichungsform oder der falsche Zeitpunkt gewählt wurde. Fakt ist jedoch, dass Antioxidantien nicht die Wirkung entfalten, die wir ihnen bisher zugeschrieben hatten. Eine Reihe unabhängiger Studien argumentieren, dass umgekehrt eine negative Korrelation zwischen dem Spiegel an endogenen Antioxidantien und der maximalen Lebenserwartung besteht. Einfach ausgedrückt ist die Lebenserwartung umso kürzer, je höher die Antioxidantienkonzentration wird (und diverse Studien belegen zudem, dass oxidativer Stress tatsächlich das Leben verlängern kann).

Zum Glück haben die Hersteller dies eingesehen, weshalb wir mittlerweile nicht mehr so viel über Antioxidantien hören wie früher. Bis vor wenigen Jahren galt ORAC (oxygen radical absorption capacity, ein Maß für die Fähigkeit einer Substanz, im Labor antioxidativ zu wirken) als die Zauberformel schlechthin. Findige Marketingabteilungen priesen diesen Wert als Allheilmittel an. Dummerweise eignen sich Reagenzgläser bekanntlich nicht, um herauszufinden, wie gewisse Substanzen in einem biologischen System wirken. Neuere Arbeiten belegen, dass viele Antioxidantien dennoch therapeutisch von Vorteil sein können. Das liegt jedoch nicht unmittelbar an ihrer antioxidativen Kapazität, sondern daran, dass sie die Expression bestimmter Gene in Bezug auf bestimmte Erkrankungen modifizieren (sie können relevante Gene an- oder abschalten). Obwohl ich diesen Ansatz außerordentlich faszinierend finde (und ihn zumindest streifen möchte), würden weitere Ausführungen den Rahmen dieses Buches sprengen.

 

Es bleibt jedoch sehr schwierig, Antioxidantien in die Mitochondrien einzuschleusen (woran die pharmazeutische Forschung intensiv arbeitet). So entstand die Theorie, das Alterung auf den Mitochondrien beruhen könnte. Auch diese These wurde seit ihrem Aufkommen Anfang der 1970er-Jahre immer wieder angepasst. Derzeit handelt es sich dabei um die stichhaltigste Theorie zur Alterung. Sie erklärt, warum wir in späteren Lebensphasen an degenerativen Krankheiten leiden, erklärt das Sport-Paradoxon und umschifft all die Untiefen, an denen andere Theorien zerschellt sind.

Die Mitochondrientheorie der Alterung

Eine moderne Fassung dieser Theorie wurde Ende der 1980er-Jahre von Professor Anthony Linnane aufgestellt, einem australischen Wissenschaftler. Seitdem wurde die Theorie mehrfach modifiziert, sie verzichtet aber weitgehend auf exogene Quellen für freie Radikale. In der Hauptsache geht es darum, dass die Mitochondrien der wichtigste Entstehungsort für freie Radikale im Körper sind, die mit Alterung in Verbindung stehen.

Freie Radikale schaden den Zellen weniger, als wir glauben. Wir erzeugen eine Vielzahl an antioxidierenden Enzymen, die diese Radikale unschädlich machen, und wenn die Zelle doch geschädigt wird, existieren Reparaturmechanismen, die unablässig aktiv sind. Aber die freien Radikale, die mit der Alterung in Verbindung stehen, schädigen gezielt die Mitochondrien, insbesondere ihre ungeschützte DNA, der die Reparaturmechanismen der restlichen Zelle fehlen. Tritt der Schaden schneller ein als ein Mitochondrium ihn selbst beheben kann, funktioniert es nicht mehr richtig. Das ist der erste Schritt zur Alterung. Dieser Theorie nach wären im Grunde die Mitochondrien die „biologische Uhr“. Der Ablauf sähe dann folgendermaßen aus: Freie Radikale treten aus den Atmungsketten aus (einige Szenarien dazu wurden bereits geschildert) und attackieren die unmittelbar benachbarte mtDNA. Das führt zu Mutationen, welche die Mitochondrienfunktion beeinträchtigen können. Wenn die Mitochondrien schwächer werden und irgendwann absterben, gehen die Funktion und Viabilität der Zelle insgesamt zurück. Sobald Zellen keine Energie mehr erzeugen können, gehen sie zur Apoptose über, was wiederum Funktion und Viabilität des Gewebes oder Organs beeinträchtigt.

Da sich in den Mitochondrien Zufallsmutationen ansammeln, entsteht ein bioenergetisches Mosaik, in dem alle Zellen je nach Grad ihrer mitochondrialen Schädigung völlig unterschiedliche Energiemengen erzeugen (manche produzieren sehr wenig Energie, andere mittelmäßige Mengen und wieder andere sehr viel). Bei einem gesunden Kleinkind ist dieses Mosaik nicht zu beobachten, weil die Energieproduktion in fast allen Zellen gleich hoch ist. Ab etwa 40 Jahren entsteht jedoch ein merklicher Mosaikeffekt, und dessen Ausmaß beruht auf dem Tempo der bioenergetischen Alterung in bestimmten Gewebearten.

Aus bioenergetischer Sicht scheinen manche Gewebearten sehr schnell zu altern, andere in mäßigem Tempo und wieder andere relativ langsam. Dieser Effekt illustriert zugleich, warum sich das biologische Alter von zwei Menschen signifikant unterscheiden kann, obwohl beide chronologisch gleich alt sind.

Linnanes Theorie geht davon aus, dass dieser mutationsgetriebene bioenergetische Abbau ein Hauptfaktor für degenerative Erkrankungen und die allgemeine Gebrechlichkeit im hohen Alter ist. Jüngere Untersuchungen in verschiedenen Fachbereichen konzentrieren sich auf die Mitochondrien als Zentrum der zellulären Alterung, wobei die Theorie untermauert werden konnte. Wenn die Mitochondrien-Theorie zur Alterung stimmt, dürften die Mitochondrien den Grundstein für die Zellvitalität darstellen.

Im Laufe der Evolution hat sich das Tempo, in dem freie Radikale austreten, jedoch für jede Spezies auf optimalem Niveau eingependelt. Wie Lane erklärt, erzeugt ein Vogel weniger freie Radikale und hat daher trotz schneller Stoffwechselrate eine hohe Lebenserwartung. Im Anschluss wirft er die Frage auf, warum nicht alle Spezies gut versiegelte Mitochondrien haben. Eine Ratte würde sicher davon profitieren, wenn sie von vorneherein weniger freie Radikale erzeugen würde, anstatt jede Menge Ressourcen zur Produktion großer Mengen Antioxidantien zu verbrauchen. Für mich klingt das einleuchtend. Die Antwort besteht jedoch im radikalen Unterschied (Sie bemerken die Anspielung!) zwischen der Mitochondrien-Theorie zur Alterung und der Freie-Radikale-Theorie.

Erinnern Sie sich noch, warum in den Mitochondrien eine separate DNA-Kopie vorliegt? Sie soll die Anforderungen der oxidativen Phosphorylierung ausgleichen, weil ein Ungleichgewicht der verschiedenen Bestandteile der Elektronentransportkette die Atmungskette stören und freie Radikale austreten lassen kann. Indem jedes Mitochondrium die wichtigsten Gene selbst vorhält, kann es seine Atmungsketten (nicht die von anderen Mitochondrien) nach Bedarf selbst kontrollieren.

Bedenken Sie auch, dass das Signal, um mehr Komponenten für die Elektronentransportkette zu erzeugen, unmittelbar über die freien Radikale kommt. Vielleicht braucht die Ratte deshalb so viele freie Radikale. Mit fester versiegelten Mitochondrien wäre das Signal der freien Radikale durch die hohe Antioxidantienmenge abgeschwächt, sodass ein komplexeres Signalsystem erforderlich wäre.

Normalerweise betrachten wir einen Waldbrand (ähnlich wie die freien Radikale) als Problem, doch in Maßen erfüllen Brände eine wichtige Funktion für die Erhaltung des Ökosystems. Ein Feuer zerlegt organisches Material, dessen Zersetzung normalerweise Jahre bis Jahrzehnte brauchen würde, binnen Minuten bis Stunden. Die Zerstörung schafft Raum für neues Wachstum, und bei manchen Pflanzen, zum Beispiel der Banks-Kiefer, schmilzt erst durch Feuer das schützende Harz, das sie vom Aussamen abhält. Gleichzeitig ist die Rolle der Feuerwehr (Antioxidantien) keineswegs überflüssig. Bei übertriebener Wachsamkeit würde ein Wald jedoch nie Gelegenheit bekommen, sich durch Feuer zu regenerieren. Und schließlich gibt es Gegenfeuer (zum Beispiel ein pro-oxidierendes Mittel, das die Oxidation fördert). Bei korrekter Verwendung kann so etwas wertvoll sein (das heißt, der kontrollierte Einsatz von Oxidantien lässt sich therapeutisch nutzen, beispielsweise bei der Krebsbehandlung oder einer hochdosierten intravenösen Verabreichung von Vitamin C). Bei fehlerhaftem Gebrauch kann dadurch allerdings ein weiterer Flächenbrand entstehen.

Wir wissen noch nicht genau, wie die Signale der freien Radikale wirken. Klar ist nur, dass das System einem Thermostat gleicht und ein gewisses Maß an Fluktuation bei den freien Radikalen benötigt. Würde die Menge der freien Radikale, die aus der Elektronentransportkette austreten, nicht schwanken, so bliebe auch die Selbstkorrektur aus (solange die Temperatur in einem Raum stabil bleibt, reagiert der Thermostat nicht).

Wenn das Signal der freien Radikale fehlschlägt oder ein nicht korrigierbares Problem anzeigt, leiten diese Moleküle das Apoptoseprogramm ein. Solange dies nur in einem oder wenigen Mitochondrien auftritt, ist das Signal nicht stark genug für den programmierten Zelltod. Erst wenn eine große Anzahl an Mitochondrien gleichzeitig zusammenbricht, wird die entscheidende Schwelle überschritten, und die Zelle weiß, dass ihre Zeit gekommen ist. Sowohl die Freie-Radikale-Theorie als auch frühe Versionen der Mitochondrien-Theorie der Alterung gingen davon aus, dass freie Radikale immer schädlich sind. Aktuelle Versionen der Mitochondrien-Theorie hingegen beziehen ein, dass freie Radikale auch wichtige Signale liefern.

Was jedoch nicht davon ablenken sollte, dass das Austreten von freien Radikalen mit Alterung und Lebenserwartung korreliert. Bekanntlich sammeln sich in der Steuerzentrale der mtDNA mit zunehmendem Alter immer mehr Mutationen an. Dieses Phänomen ist wichtig, weil Mutationen im Kontrollzentrum einer Zelle sich häufig auf alle anderen Zellen in diesem Gewebe ausbreiten können. Eine Mutation in dieser Region kann die Bindung der Transkriptions- oder Replikationsfaktoren beeinflussen, hat aber keinen Einfluss auf die Gensequenz. Je nach den Auswirkungen dieser Mutation wird sie dazu neigen, sich häufiger oder weniger häufig selbst zu kopieren. Die Mutation könnte dazu führen, dass ein Mitochondrium zögerlicher auf ein Teilungssignal reagiert. Bei einem solchen Signal würde ein „normales“ Mitochondrium sich teilen und replizieren. Ein defektes Mitochondrium hingegen reagiert vielleicht unzureichend oder gar nicht. Im Verhältnis zu normalen Mitochondrien würde die Anzahl der fehlerhaften Mitochondrien kontinuierlich abnehmen und wäre angesichts der regulären Erneuerung aller Zellbestandteile bald vollständig verschwunden. Würden die Mitochondrien aufgrund der Mutation auf dasselbe Signal allerdings schneller reagieren, so würde ihre DNA sich ausbreiten und irgendwann die „normalen“ Mitochondrien in der Zelle ersetzen. Wichtig ist dabei die Erkenntnis, dass derartige Mutationen eher dann auf alle Zellen im gleichen Gewebe übergreifen, wenn sie die Mitochondrienfunktion nicht sonderlich beeinträchtigen (wenn beispielsweise die Komponenten der Elektronentransportkette noch normal sind). Andernfalls würden solche Zellen einfach absterben.

Mitochondrienmutationen im Codierungsbereich hingegen können innerhalb von bestimmten Zellen verstärkt werden, erfassen aber selten mehr als ein Prozent der Zellen in einem Gewebe. Das liegt daran, dass solche Mutationen mit hoher Wahrscheinlichkeit die Atmungskette beeinträchtigen, für die sie wichtige Untereinheiten codieren. Das Ergebnis wären mehr ausgetretene freie Radikale. Im Gegensatz zum normalen Ablauf könnte das Signal, mehr neue Komplexe zu erzeugen, das Defizit allerdings nicht beheben, weil alle neuen Proteine ebenfalls fehlerhaft wären. Das wäre eine Katastrophe – oder? Im Rahmen der modernen Version der Mitochondrien-Theorie zur Alterung trifft dies nicht zu. Hier würden defekte Mitochondrien dem Nukleus (Zellkern) signalisieren, dass sie nicht mehr richtig funktionieren. So kann die Zelle sich anpassen.

Dieses Signal von den Mitochondrien an den Nukleus wird als retrograde Reaktion bezeichnet, weil sie der normalen Befehlskette (vom Zellkern an den Rest der Zelle) entgegenläuft. Letztlich geht es darum, das Stoffwechselproblem zu beheben. Beim retrograden Signal schaltet die Zelle auf anaerobe Energieproduktion um, die ohne Mitochondrien und Sauerstoff abläuft. Zugleich stimuliert dieser Schalter die Entstehung weiterer Mitochondrien, die mitochondriale Biogenese, welche die Zelle zugleich vor weiterem metabolischem Stress bewahrt. Langfristig ist dies die einzige Option, mit der eine Zelle ein bioenergetisches Defizit tatsächlich korrigieren kann.

Die Mitochondrienpopulation ist ständig im Fluss. Bei einem eher leichten Energiedefizit teilen sich die Mitochondrien, und die Zellen vermehren die am wenigsten geschädigten Mitochondrien – weil diese noch am besten funktionieren. Defekte Mitochondrien sterben so irgendwann aus. Abgestorbene Mitochondrien werden im Rahmen der Mitochondrienversion der Apoptose (sogenannte Mitophagie) ordnungsgemäß zerlegt und ihre Bestandteile recycelt. So werden die am stärksten geschädigten, dysfunktionalen Mitochondrien unablässig aus der Gesamtmenge entfernt. Auf diese Weise können die meisten Zellen ihr Leben dank kontinuierlicher Korrektureingriffe rein theoretisch schier endlos ausdehnen.

Habe ich gerade den Jungbrunnen enthüllt? Schon möglich. Doch wenn es ganz so einfach wäre, würde ich nach wie vor aussehen wie ein gut trainierter Mittzwanziger (wenn ich dies wollte), und das trifft definitiv nicht zu. Denn wir können die zerstörerischsten Mitochondrienmutationen zwar eliminieren, aber es gibt keine natürliche Methode, um sie auch zu ihrer vormaligen jugendlichen Frische zurückzuführen. Vielleicht werden wir eines Tages in der Lage sein, unbeschädigte, schlummernde Mitochondrien aus Stammzellen zu entnehmen und in jede andere Zelle einzuschleusen. Bis dahin werden aber wohl noch etliche Jahre ins Land gehen. Was hingegen möglich erscheint, ist die Fähigkeit, den Alterungsprozess hinauszuzögern oder sogar Krankheiten vorzubeugen, die mit dem altersbezogenen Verfall der Mitochondrien einhergehen.

Wenn wir älter werden, verlassen sich die Zellen mehr und mehr auf defekte Mitochondrien. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Spirale rasch an Fahrt aufnimmt. Die Zelle und ihre Mitochondrien können ihr Verhalten nämlich anpassen, um die Kontrolle zu behalten und ein neues Gleichgewicht herzustellen. In den meisten Studien zum Nachweis geschädigter Proteine, Lipide und Kohlenhydrate wurden keine ernsthaften Unterschiede zwischen jungen und alten Zellen entdeckt. Stattdessen deutet einiges darauf hin, dass das Spektrum der operativen Gene in Mitleidenschaft gezogen wird, und das beeinflusst die Aktivität der Transkriptionsfaktoren. Inwiefern einige der wichtigsten Transkriptionsfaktoren aktiv werden, hängt von ihrem Redoxstatus ab, also ob sie oxidiert oder reduziert sind. Viele werden von freien Radikalen oxidiert und von speziellen Enzymen wieder reduziert. Dieses empfindliche Gleichgewicht zwischen beiden Redox-Zuständen bestimmt über ihre Aktivität. (Die Redox-Medizin ist ebenfalls ein vielversprechendes neues Forschungsthema.)

 

Redoxsensitive Transkriptionsfaktoren können die Zellen wie ein Radarsystem auf Gefahren hinweisen und zu passenden Gegenmaßnahmen befähigen. Wenn sie oxidieren, werden Veränderungen angestoßen, die jede weitere Oxidation verhindern. Nrf-1 zum Beispiel ist ein nukleärer Transkriptionsfaktor („aus dem Nukleus“), der die Expression von Genen für die mitochondriale Biogenese koordiniert. Wenn immer mehr Zellbestandteile oxidieren, wird Nrf-1 aktiviert, der die Mitochondrien zur Teilung auffordert, um erneut einen ausgewogenen Redox-Status herzustellen. Zugleich induziert Nrf-1 die Expression diverser anderer Gene zum Schutz der Zelle, bis mehr Mitochondrien erzeugt werden.

Je oxidierender die innere Umgebung einer Zelle wird, desto mehr verlagern diese redox-sensitiven Transkriptionsfaktoren die Aktivität der nukleären Gene – weg von der „Alltagsbürokratie“ und hin zum „Krisenmanagement“ der Stressabwehr. Dieses Umschwenken erzeugt in der Zelle ein neues Gleichgewicht, bei dem für das Krisenmanagement mehr Ressourcen abgestellt werden als für die eigentlichen Aufgaben. Dieses neue Gleichgewicht kann Jahre bis Jahrzehnte stabil bleiben. Da sich zumeist nur die am wenigsten geschädigten Mutationen replizieren, bestehen normalerweise keine offensichtlichen Hinweise auf Mitochondrienmutationen oder -schäden. Wir sterben also nicht gleich, aber wir registrieren, dass wir schneller müde werden, nach Krankheiten länger brauchen, um wieder gesund zu werden, oder vergesslicher werden.

Die Mitochondrien-Theorie der Alterung erklärt, warum es nicht zu der Katastrophenspirale kommt, die uns gemäß der Freie-Radikale-Theorie oder den anderen ursprünglichen Mitochondrien-Theorien blühen müsste. Freie Radikale sollen auf Gefahren hinweisen, damit die Zelle sich anpassen kann. Die Mitochondrien-Theorie der Alterung erklärt auch, warum die Zelle nur so viele Antioxidantien enthält, wie sie braucht – bei einem Übermaß könnte sie nicht sensibel genug auf Veränderungen des Redox-Status‘ reagieren. Ohne freie Radikale würde das gesamte System versagen, und die Mitochondrien könnten sich weder an veränderte Umweltbedingungen noch an neue Anforderungen anpassen. Das würde sicherlich zu einer hohen Mutationsrate führen und uns allen ein rasches Ende bereiten.

Nachdem sich die Zellen aber viele Jahrzehnte immer wieder an ein neues Gleichgewicht angepasst haben, gehen ihnen leider irgendwann die gesunden, normalen Mitochondrien aus. An diesem Punkt bleibt der Zelle bei dem Signal, die Mitochondrien zu erneuern, keine Wahl. Sie muss die defekten Mitochondrien vermehren. Am Ende übernehmen diese defekten Mitochondrien die Zelle.

Wenn wir nun aber ein Organ oder Gewebe untersuchen, dass nicht mehr richtig funktioniert, finden wir keineswegs eine Fülle an Zellen mit fehlerhaften Mitochondrien, sondern es sind immer nur einige Zellen betroffen. Denn wenn die Zelle schließlich voller unbrauchbarer Mitochondrien steckt, erfolgt das Signal, sich durch Apoptose aus dem Organismus zu entfernen. Einerseits sehen wir deshalb auch in alterndem Gewebe keine größeren Mengen defekter Mitochondrien, andererseits beobachten wir einen langsamen, aber stetigen Rückgang der Gewebedichte und Gewebefunktion (zum Beispiel bei Osteoporose oder Sarkopenie). Und das ist ein entscheidender Beitrag zu Alterung, Krankheit und schließlich zum Tod. Die Sache ist jedoch noch komplizierter (was wiederum Hoffnung weckt!), denn in jüngster Zeit wurde nachgewiesen, dass Mitochondrien die mtDNA besser reparieren können, als man bisher glaubte. Angesichts der fünf bis zehn Kopien mtDNA, die normalerweise in jedem Mitochondrium vorliegen, ist jederzeit für jedes Gen noch eine gute Kopie vorhanden. Diese Kopie dient als Vorlage für die Rekombination (Reparatur) des beschädigten Gens. Was diese Entdeckung für das neueste Urteil zur Mitochondrien-Theorie der Alterung bedeutet, steht allerdings noch nicht fest.

Nach wie vor entspricht die moderne Mitochondrien-Theorie der Alterung nicht nur aktuellen wissenschaftlichen Daten, sondern gewährt auch tief greifende Einblicke in die Pathologie degenerativer Alterskrankheiten, ihre Prävention und möglicherweise gar ihre Heilung.