Vae Victis

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Unter großem Lärm und Geschrei wurden fünf Handelsschiffe aus Antiochia entladen. Sie brachten viel gesuchte edle Stoffe und stark begehrte Sklaven aus dem östlichen Reich.

Antiochia wurde zur Vasallin Roms, nachdem ihr Herrscher, Antiochos der Große, von Domitius bei Magnesia vernichtend geschlagen worden war. Seither musste sein Land Entschädigungen in Form von Sklaven und Handelsgütern an Rom entrichten.

Lucius ließ erleichtert den Blick über diesen lärmenden menschlichen Ameisenhaufen gleiten, während er sein Herz vor Freude laut klopfen hörte. Er genoss es bis in die allertiefste Faser seines Körpers, wieder auf festem Boden zu sein.

Obwohl das Wetter mit tief hängenden Wolken und einem zermürbend beständigen Regen aufs Gemüt drückte, machte dieser kalte Novembertag dem jungen Tribun nichts aus. Im Gegenteil: Er atmete tief die stinkende Luft des Hafens ein, denn es war ihm durchaus bewusst, dass er dem Tod nur knapp entronnen war.

Ohne bestimmte Absicht schlenderte er zum nahe gelegenen Sklavenmarkt. Marktschreier und fahrende Händler, die Schwefelfäden oder alte Schuhe verkauften, drängten sich um ihn herum und versuchten nach Kräften, sich im Getümmel des Hafens gegenseitig zu übertönen. Dazu gesellten sich die Inhaber von Garküchen, die ihre heißen Speisen selbst oder mit Hilfe von Laufjungen feilboten.

Sie trugen mit ihrem Gebrüll erheblich zum bereits vorhandenen gewaltigen Geräuschwirrwarr bei. Überall versuchten sich Gaukler und Artisten in der Kunst, die Aufmerksamkeit der Leute auf sich zu lenken. Affenbändiger und Schlangenbeschwörer fehlten hier genauso wenig wie Degenschlucker und Wundermittelverkäufer.

Eine Auktion war gerade im Gange, die Sklaven von den eben eingelaufenen Schiffen waren dabei, den Besitzer zu wechseln. Der Auktionator, ein fetter, glatzköpfiger Mann mit kaputten Zähnen und schwer bestimmbarem Alter, pries in den höchsten Tönen sechs junge dunkelhäutige Frauen zum Verkauf an. Die armen Geschöpfe waren so geschwächt und erschöpft von der langen Seereise und der schlechten Ernährung, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnten. Eine von ihnen fiel Lucius sofort auf.

Sie war im Vergleich zu den anderen groß gewachsen und hielt sich trotz der offensichtlichen Schwäche kerzengerade. Ihre dunkle Haut schimmerte matt unter den Regentropfen, die sie wie feiner Tau bedeckten, und ihr Blick schwebte gleichgültig und abwesend über die Menge hinweg. Ihre ganze Haltung strahlte Überlegenheit und Würde aus. Lucius starrte sie wie gebannt an.

Inzwischen hatte der Händler die fünf anderen Sklavinnen verkauft. Jetzt war die außergewöhnliche Schöne an der Reihe.

Lucius verfolgte die Szene und nahm von dem, was sonst auf dem Markt um ihn herum geschah, nichts mehr wahr.

Die Gebote überschlugen sich, Arme schnellten in die Höhe, Stimmen aus rauen Kehlen versuchten sich gegenseitig zu übertönen. Lucius wohnte dem ganzen Geschehen gelähmt und machtlos bei. Er hätte nur zu gerne mitgeboten, mitgeschrien, aber eine unsichtbare Gewalt hielt ihn zurück. Hilflos schaute er der Versteigerung zu, ohne auch nur einen einzigen Laut über die Lippen bringen zu können.

Mittlerweile waren nur noch zwei Bieter übrig. Ein untersetzter, überquellend dicker Mann, dem ständig das Wasser in Strömen herunterlief, so dass es unmöglich war, die Schweißperlen von den Regentropfen zu unterscheiden, und ein gepflegt aussehender, stattlicher Römer von mittlerem Alter.

Lucius kam das Gesicht des Letzteren bekannt vor, aber er konnte den Mann nirgends einordnen.

„Dreißig Denare zum Ersten, zum Zweiten …“

Der elegante Mann hob gelangweilt den Arm.

„Fünfunddreißig zum Ersten, zum Zweiten …“ Der enttäuschte Mitbieter wandte verbissen den Blick ab „… und zum Dritten an den ehrenwerten Antoninus Pulcher.“

Lucius senkte enttäuscht den Kopf, als hätte er selbst mitgeboten und verloren.

Nach einiger Zeit merkte er, dass ihn jemand am Ärmel zupfte. Er wandte sich um.

Lebhafte grüne Augen begegneten seinem Blick, während sich das dazugehörige Gesicht hinter einem ehemals weißen Schleier verbarg. Die Gestalt war klein und gebückt, vermutlich durch die Last der vielen Jahre.

Lucius’ Blick verhärtete sich und sein Körper spannte sich wie zum Angriff. Er musterte böse die Gestalt vor sich und hob drohend den Arm, um die zerlumpte Erscheinung zu verjagen.

„Verschwinde!“, zischte er.

Die Frau zuckte zusammen, rührte sich aber nicht vom Fleck. Der Schleier rutschte etwas herunter und offenbarte eine alte lange Narbe auf der linken Wange. Die grünen Augen starrten ihn unbeirrt an und eine warme Frauenstimme erklang.

„Schlage mich nicht, edler Herr, denn ich bin deiner Hand nicht würdig. Habe Erbarmen mit einer armen alten Frau.“

Lucius hielt unwillkürlich inne. Diese gebückte, in Lumpen gewickelte Gestalt, dazu die weiche, fast erotische Stimme und die wachen grünen Augen, das alles passte nicht zusammen. Er ließ den Arm sinken.

„Was willst du?“, fragte er und versuchte den harten Ton beizubehalten, was ihm aber nicht gelang.

„Du hast einen sehr guten Geschmack, junger Herr“, erwiderte die Frau anerkennend.

Lucius fühlte sich vollkommen durchschaut.

„Was meinst du?“ fragte er sichtlich verunsichert.

Das grüne Augenpaar ließ nicht von ihm ab.

„Sie heißt Apollonia, edler Herr. Widrige Umstände haben sie in die Hände der Sklavenverkäufer getrieben. Sie ist etwas ganz Besonderes.“

Dann, nach einer kurzen Pause fuhr sie in bestimmtem Ton fort.

„Ich kann dir die Zukunft lesen, junger Herr, es kostet bloß ein Viertel As …Es lohnt sich.“

Als sie merkte, dass der junge Mann weiterhin zögerte, setzte sie hartnäckig nach.

„Wie ich bereits sagte, ist sie nicht irgendeine Sklavin, sondern die Tochter des berühmten Mathematikers und Geografen Apollonios von Alexandria. Sie ist nicht nur so schön wie eine griechische Statue, sondern auch so klug und belesen wie ihr Vater. Dieser dumme Händler hat nur ihre Schönheit verkauft. Hätte er geahnt, wer sie wirklich ist, hätte er mühelos ein Vielfaches vom Preis erzielen können.

Der Mann, in dessen Besitz sie gerade überging, der reiche Kaufmann Antoninus Claudius Pulcher, hat auch keine Ahnung, dass er viel mehr als nur eine schöne Sklavin ersteigert hat.“

Als die Frau die Neugier in Lucius Gesicht bemerkte, lachte sie auf.

„Sie ist vor etwa einem Jahr nachts aus ihrem Haus in Alexandria von maskierten Männern entführt worden. Man munkelt, dies sei auf Befehl des hohen Priesters geschehen, da sie die Priesterkaste häufiger angegriffen und deren schlechten Einfluss auf den Pharao und die Staatsgeschäfte angeprangert hätte. Das konnten die Priester so nicht hinnehmen, erst recht nicht, da die Kritik von einer Frau kam. Sie muss etwas sehr Wichtiges über die Priester gewusst haben, das sie davor geschützt hat, sofort umgebracht zu werden. Offensichtlich wollte man erst herausfinden, was das war, bevor man sich ihrer entledigte. Der Plan ging jedoch schief. Die Entführer und ihr Opfer gerieten in den Außenbezirken von Alexandria in einen Hinterhalt von Wegelagerern und wurden mit Ausnahme von Apollonia bis auf den letzten Mann niedergemacht. Die Räuber merkten sehr bald, was sie für einen guten Fang gemacht hatten. Sie schmuggelten die junge Frau nach Judäa und hatten anschließend keine Mühe, sie beim größten Sklavenhändler in Asien, dem berüchtigten Phaedrus Niger, gegen gutes Geld einzutauschen.“

Lucius nickte nachdenklich. Er hatte diesen Namen bereits öfter gehört, doch noch nie in einem positiven Zusammenhang.

„Von da aus wurde sie dann hierher weiterverkauft“, schloss die Alte.

„Woher weißt du das alles?“ brachte Lucius misstrauisch hervor.

„Das ist nicht von Belang“, erwiderte sie.

„Also gut“, stöhnte der Tribun, „mal sehen, was du so alles kannst. Du kriegst dein Viertel As.“

„Folge mir“, sagte die Frau und machte sich mit schnellen Schritten auf den Weg.

Lucius hatte große Mühe ihr zu folgen, da sie mit ungeheurer Flinkheit durch die Menschenmasse glitt. Zielstrebig steuerte sie auf ein altes, halb zerfallenes Gebäude am anderen Ende des Marktplatzes zu und verschwand hinter einer schiefen, nur am oberen Scharnier hängenden Tür.

Lucius zögerte einen Augenblick, folgte ihr dann aber in den dunklen, engen Gang, der in einen kleinen Raum mündete, dessen einzige Möblierung aus einem abgenutzten Tisch und einem altersschwachen Stuhl bestand.

An der Wand brannte eine dünne Fackel.

„Was tue ich bloß hier?“, schoss es ihm durch den Kopf.

„Nimm Platz, junger Herr“, sagte die Frau mit sanfter Stimme. „Ich stehe.“

Lucius tat wie geheißen, holte den Geldbeutel unter der Tunica hervor und warf der Frau eine Münze zu.

„Fang an“, befahl er in barschem Ton.

Sie verbeugte sich tief und verschwand schnell durch die Türöffnung. Im Nu kehrte sie zurück und hielt ein wild flatterndes Huhn in ihrer rechten Hand. Sie entzündete mit der anderen Hand einen Docht in einem kleinen Tongefäß, das auf dem Tisch stand, und ein wohlriechender Rauch stieg empor.

Ehe sich Lucius versah, hatte sie einen langen Dolch unter ihrem Kleid hervorgezogen und gekonnt dem Vogel den Hals mit einem kurzen Ruck durchgeschnitten. Noch zuckte der Tierkörper. Das Blut spritzte aus dem offenen Hals, als sie ihn auf den Tisch legte und den Bauch bis zum Brustkorb hin öffnete. Dann entnahm sie dem noch immer zuckenden Tier mit bemerkenswerter Geschicklichkeit Herz, Leber und Milz und schnitt die Organe nach einem offensichtlich schon oft angewandten Muster auf.

Lucius beobachtete die Szene mit einer Mischung aus Ekel und Neugier, konnte sich aber vom Anblick der vor ihm ausgebreiteten blutigen Eingeweide nicht lösen.

 

Die Frau betrachtete die Stücke mit gespannter Aufmerksamkeit und drehte sie nach allen Seiten. Schließlich räusperte sie sich.

„Die Leber ist schwer und blutgestaut das Herz ausgeleiert und vergrößert. Und die Milz zeigt sich klein und verkümmert.“ Sie machte eine kurze Pause und blickte nachdenklich auf die vor ihr ausgebreiteten Innereien.

„Deine Zukunft ist schwer zu lesen.“

Sie seufzte leise.

„Es ist viel Dunkelheit um dich herum, junger Herr, und die verheißt nichts Gutes. Deine Feinde kennen dich, aber du weißt nicht, wer sie sind. Du bist auf der Suche nach etwas, von dem du noch gar nicht weißt, dass es existiert. Du wirst Sachen sehen, die nur wenige Leute zu Gesicht bekommen, und du wirst in die Tiefen der menschlichen Seele hinabsteigen.

Hüte dich vor Menschen, die mit Zahlen zu tun haben, denn sie sind dir gefährlich. Auf falsche Propheten wirst du stoßen, wahre Freunde wirst du nicht finden. Du wirst tief verändert aus dieser Erfahrung hervorgehen und es wird für dich nichts mehr so sein, wie es bisher war.“

Lucius wollte etwas fragen, merkte aber, dass die Zunge seinem Willen nicht mehr folgen wollte. Der Rauch stieg durch seine Nase ins Gehirn und eine merkwürdige Schwere bemächtigte sich seiner.

Er wollte dagegen ankämpfen und aufstehen, aber seine Knie wurden weich und er sank bewusstlos zu Boden.

Allmählich kam Lucius wieder zu sich. Benommen schüttelte er mehrmals den Kopf und blickte sich unsicher um.

Unsicher blickte er um sich. Er befand sich noch im selben Raum, der bis auf den Tisch, den Stuhl und die Fackel an der Wand leer war.

„Bei Hades, wie bin ich denn hierher gekommen?“, fragte er sich voller Verwirrung, denn er konnte sich kaum mehr erinnern.

Schwerfällig richtete er sich schließlich auf und ging in den grauen, feuchten Herbsttag hinaus. Auf dem weitläufigen Marktplatz hatte sich nichts geändert.

Die lärmende, bunte Menschenmasse war noch immer da, aber vor Lucius‘ Augen drehte sich alles, sein Kopf konnte keinen einzigen klaren Gedanken fassen. Er blieb einen Augenblick stehen und lehnte sich dankbar an eine Mauer, die ihm einen festen Bezugspunkt bot. Er atmete tief ein. Schließlich schaffte er es, sich doch noch von der Wand zu lösen, und stolperte dem Hafen entgegen.

Auf dem Weg zur Mole fiel ihm wieder ein, warum er die weite Reise angetreten hatte. Erschrocken griff er unter die Tunika. Seine Finger suchten fieberhaft nach den Briefen, die er von Glabra erhalten hatte.

Sie waren noch alle da!

Er dankte den Göttern, dass sie ihn beschützt hatten und schritt erleichtert auf den Soldaten zu, der die Pferde bewachte. Der Mann stand stramm und grüßte ihn militärisch steif.

Am Landesteg erwartete ihn ein frisches Pferd, das ihn nach Rom bringen sollte.

„Wer ist meine Begleitung?“ fragte Lucius, noch immer etwas abwesend.

„Ich, Herr, und der Centurio Secundus. Er ist losgegangen dich zu suchen, weil wir uns schon Sorgen machten, dass dir etwas zugestoßen sei.“

„Unsinn!“, erwiderte der junge Tribun mürrisch und versuchte sich nichts anmerken zu lassen, indem er einen strengen Ton anschlug.

„Mit solchen Schlafmützen wie euch komme ich nie nach Rom!“

Bald darauf erschien auch der zweite Soldat und sie brachen ohne weitere Verzögerung auf.

Die Straße von Ostia nach Rom war wie so oft vollkommen überlastet, unzählige Ochsenkarren mühten sich in Schrittgeschwindigkeit voran. Dazwischen schleppten sich tausende von Menschen zu Fuß, manche mit leichtem, viele mit schwerem Gepäck, auf die Hauptstadt der Welt zu. Flüche, Schreie, Verwünschungen mischten sich mit dem Getrappel der Hufe und dem Mahlen der schweren Räder zu einem merkwürdigen Lärmbrei zusammen. Dazwischen versuchten kleine Gruppen und einzelne Reiter, sich schneller durch den menschlichen Fluss durchzuschlängeln.

Lucius hing müde im Sattel. Der hartnäckige Nieselregen drückte ihm aufs Gemüt. Er stellte fest, wie viel anders die Luft auf der Landstraße duftete. Jetzt erst, zwischen den verregneten Feldern und dem feuchten Wind ausgesetzt, merkte er, wie übel es in Ostia gestunken hatte. Hier, in der freien Natur, genoss er die würzige Frische der umgepflügten Äcker, und das gab ihm die Sehnsucht nach dem heimatlichen Tusculum wieder. So ließ er sich bereitwillig vom mächtigen menschlichen Strom vorwärts tragen, während die Zeit trotz des kalten, regnerischen Wetters zur nebensächlichen Größe verkümmerte.

Er hätte nicht sagen können, seit wann sie schon unterwegs waren, denn der gemütliche Trott des Pferdes hatte eine einschläfernde Wirkung auf ihn, als die gesamte Kolonne abrupt stehen blieb.

Das kam ziemlich häufig vor, denn Unfälle waren auf dieser Strecke keine Seltenheit. Lucius winkte einen seiner Begleiter herbei, damit er den Weg freimachen solle, schließlich war das Tempo auch so schon langsam genug.

Laut fluchend ritten die drei durch die Menschenmenge, der eine Soldat vorne, gefolgt von Lucius und dem zweiten Soldaten. Nach etwa zweihundert Schritten kamen sie an die Stelle, an der die Straße versperrt war. Zwei schwere Karren lagen ineinander verkeilt, und es sah so aus, als hätte der eine versucht den anderen zu überholen. Der Weg war unpassierbar und die Führer der beiden Planwagen stritten erbittert miteinander. Als der Tribun die Stelle erreichte, waren die beiden Wagenführer gerade dabei, sich gegenseitig mit Fausthieben zu traktieren. Um sie herum gafften die neugierigen Reisenden. Es wurden Wetten abgeschlossen und die Gegner entsprechend angefeuert.

Lucius hatte keine Lust, sich von derartigen Hindernissen aufhalten zu lassen. Er schickte den ersten Soldaten vor, um die Kämpfenden auseinanderzutreiben, und folgte unmittelbar.

Der Soldat trieb sein Pferd zielstrebig auf die Gegner zu, um sie zu erschrecken und sie zu trennen. Doch die beiden Kämpfenden gingen von selbst auseinander, jeder auf eine Seite des Reiters. Blitzschnell zog ihn der eine am Arm vom Pferd herunter, während der andere sein Bein aus dem Steigbügel hebelte. Der überraschte Mann hatte nicht einmal mehr Zeit zu schreien und lag bereits am Boden. Einer der Angreifer zog einen langen Dolch hervor und rammte ihn mit einem wuchtigen Stoß in die Brust des hilflosen Soldaten. Der andere stieß einen kurzen, scharfen Pfiff hervor, die Planen der beiden Wagen flogen nach oben und mehrere bewaffnete Gestalten stürmten auf die verbliebenen beiden Reiter los. Der junge Kriegstribun hatte kaum Zeit zu verstehen, was da vorging, aber sein Instinkt, gehärtet durch die Kampferfahrung, übernahm das Kommando.

„Zurück!“, fauchte er.

Die Zuschauer standen da wie versteinert. Schon zogen zwei Angreifer an den Zügeln von Lucius’ Pferd und versuchten es festzuhalten. Der aber riss mit aller Gewalt die Zügel hoch, und das Tier streckte wiehernd die Vorderbeine zum Himmel. Die beiden Männer rollten fluchend zu Boden, während ein dritter sich seitlich von rechts heranschlich. Lucius‘ mittlerweile bewaffneter Arm schnellte nach oben und seine Schwertspitze öffnete mit einem gezielten Hieb den ungeschützten Hals des Angreifers. Der Mann blieb stehen, als wäre er gegen eine unsichtbare Mauer gerannt. Das Blut spritzte nach allen Seiten, er ging röchelnd und gurgelnd zu Boden. Lucius’ anderer Begleiter schlug indessen mit dem Schwert wild um sich, während sein Pferd mit schäumendem Maul um die eigene Achse kreiste.

Beim Anblick des Blutes erwachte die Menge aus ihrer Lähmung. Schreiend versuchten die Zuschauer, dem gefährlich gewordenen Spektakel zu entrinnen. In dem entstandenen Gemenge wurden die Angreifer immer weiter von ihren Opfern abgeschnitten.

Lucius gab seinem Pferd die Sporen, und der Centurio folgte unaufgefordert seinem Beispiel. Geschützt durch die Menschenmenge, entkamen sie sehr bald ihren Verfolgern. Sie ritten zügig weiter nach Rom, immer wieder ängstlich nach hinten blickend, aber es tauchte niemand mehr auf. Voller Erleichterung erblickten sie nach zwei Stunden die Brücke über den Tiber, hinter der sich die Hauptstadt der Welt erstreckte.

Kaum hatten sie die Brücke passiert, nahmen die beiden Männer ihre Pferde am Zügel und liefen mit großen Schritten auf das Forum zu.

Das Reiten innerhalb der heiligen Grenzen der Stadt, dem Pomerium, war unter höchster Strafe verboten und nur in wenigen Ausnahmefällen gestattet. Lucius hätte dies beanspruchen können, weil die Dringlichkeit seiner Botschaft das zweifellos erlaubt hätte. Er beschloss jedoch, so wenig wie möglich aufzufallen und zog es vor, seine Reise zu Fuß fortzusetzen.

Es war mittlerweile später Nachmittag geworden und die Innenstadt leerte sich allmählich von den Menschenmassen, die sie trotz Regen und des kalten Wetters belagert hatten. Ein scharfer, eisiger Wind kam auf und ließ die noch verbliebenen Leute den Schutz ihrer Behausungen aufsuchen. Unzählige Pfützen säumten die Straße, so dass man gar keine Möglichkeit hatte, trockenen Fußes weiterzukommen. Lucius zog mit grimmiger Entschlossenheit an den Zügeln seines Pferdes und wünschte sich sehnlichst eine Herberge, denn er war bis auf die Haut durchnässt.

Die wenigen Fußgänger, denen sie begegneten, warfen dem Tribun und seinem Begleiter lange Blicke zu, bevor sie ihre Kopfbedeckungen stärker ins Gesicht zogen und weitereilten. Es war kein alltäglicher Anblick, den die beiden Männer boten, denn ihre dreckverschmierten und blutbefleckten Gesichter und die mit dem Schlamm der Landstraße besprenkelten Rüstungen waren so auffällig, dass jeder, der an ihnen vorbeiging, zwangsläufig genauer hinschauen musste. Ihre müden und düsteren Mienen schreckten aber jeden ab, der sie nach ihrer Herkunft hätte fragen wollen.

Während er sich erschöpft weiterschleppte, überfielen Lucius unzählige quälende Gedanken.

Wer hatte von seiner Ankunft gewusst? Es musste jemand sein, der sich nicht gescheut hatte, Wegelagerer anzuheuern, um ihn an der Durchführung seiner Aufgabe zu hindern, und zwar um jeden Preis. Ihm fiel das Gespräch mit Scipio Aemilianus in dessen Zelt wieder ein, kurz bevor er nach Rom aufgebrochen war. Die Unterredung hatte am Abend nach der Ankunft Scipios und der Bestrafung der feigen Einheiten stattgefunden. Außer ihnen beiden war noch Glabra anwesend gewesen.

Der Feldherr sprach ihn mit gesenkter Stimme an:

„Lucius, ich habe dich hierher beordert, weil du der Einzige bist, dem ich im Augenblick vertrauen kann.“ Er warf einen flüchtigen Blick an die Wand des Zeltes, wo Gaius Glabra stand. „Außer ihm natürlich“, fügte er hinzu.

Der düstere Mann zeigte keinerlei Regung.

Scipio fuhr unbeirrt fort:

„Du hast heute Nacht sehr tapfer gekämpft. Man hat mir berichtet, dass die Zurückschlagung der Punier hauptsächlich dein Verdienst sei. Ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln. Wenn du nur annähernd so klug und mutig bist wie dein Vater, den ich gut kenne, dann bist du zweifellos der Mann, den wir brauchen.“

Der junge Römer merkte, dass nun etwas Wichtiges kommen würde. Sein Herz hatte schon schneller geschlagen, als er das Lob bekommen hatte, denn er wusste, dass Scipio nur selten jemanden belobigte. Er hatte den Mann nur zweimal in seinem Leben gesehen, einmal in Rom und hier vor den Toren Karthagos, kannte aber unzählige Geschichten, die über ihn erzählt wurden.

Die braunen Augen des Feldherrn funkelten, als er den jungen Tribun ansah. Lucius fühlte sich wie von brennenden Lanzen durchbohrt, hielt aber dem ironisch- forschenden Blick tapfer stand.

„So kommen wir mit der Belagerung nicht voran“, nahm schließlich Scipio das Gespräch wieder auf, und seine kleine Gestalt spannte sich wie ein Bogen bei diesen Worten.

„Die Moral der Truppe ist am Boden, in der zweiten Legion ist vorgestern das Fieber ausgebrochen und wie man mir berichtet hat, sind schon elf Mann daran gestorben. Wir müssen diesen Feldzug schnellstmöglich beenden, denn dafür bin ich hierher gesandt worden.“

Seine sonst leise, angenehme Stimme wurde stählerner und kantiger.

„So wie sich aber die Lage zeigt, kann ich im Augenblick nichts ausrichten. Ich kann keine Wunder vollbringen, denn das können nur die Götter!“

Er seufzte tief, bevor er fortfuhr.

„Ich werde dir einen Brief an den Senator Publius Agrippa geben und ihn darin bitten, das Gewicht seiner Worte in die Waagschale zu werfen, um den Senat zu überzeugen, mir zwei neue, kampferprobte Legionen zu entsenden.“

Nachdenklich hielt er kurz inne, als zweifelte er selbst am Erfolg seiner Bitte.

 

„Am liebsten hätte ich die Flaminia und die Sexta“, sagte er schließlich.

„Der Senat ist geteilter Meinung, was diese Belagerung betrifft.“

Die Stimme war tief und melodisch, und sie kam aus der dunklen Ecke, in der Glabra stand.

„Manche Politiker in Rom möchten gar nicht, dass dieses Unterfangen erfolgreich wird.“ Lucius riss erstaunt den Mund auf, um zu fragen.

„Ich erkläre es dir“, fuhr Glabra unverdrossen fort. „Unser Feldherr hat einige Zeit damit verbracht, den Senat zu überzeugen, diesen Feldzug halbwegs friedlich zu beenden. Anfänglich hat man ihm gar kein Gehör geschenkt. Dann hieß es plötzlich, man könne den Frieden mit Karthago unter den Bedingungen von Entschädigungen und Steuerzahlungen seitens der Punier doch noch annehmen. Man sandte Manilius und Censorinus mit dem Heer dahin, aber mit völlig anderen Friedensbedingungen. Nun hieß es, Karthago müsse ganz geschleift und die Bevölkerung zehn Meilen landeinwärts umgesiedelt werden.

Seither wehren sich die Punier mit ihren letzten Kräften und der Macht der Verzweiflung, denn sie wissen, dass dieses Urteil den Tod ihrer Stadt bedeuten würde. Manilius und Censorinus haben es, wie man weiß, nicht geschafft, sie zu bezwingen. Dann wurde plötzlich Scipio Aemilianus beauftragt, diese Belagerung zu Ende zu führen. Ausgerechnet der Mann, der sich für einen milden, menschlichen Frieden einsetzte, wurde für diese unwürdige Aufgabe hierher beordert.“

Glabra machte eine kurze Pause.

„Wir fragen uns warum.“

Dann sprach er weiter.

„Die Stimmung im Senat ist im Augenblick sehr schwer einzuschätzen. Das Übel dieser Entscheidung ist jedoch nicht mehr gutzumachen, und wir“, er zögerte einen Augenblick, „wollen die Sache so schnell wie möglich beenden. Wenn wir den Puniern nicht mehr helfen können, so wollen wir doch erreichen, dass so wenig römisches Blut wie nur möglich fließt.“

„Was kann ich tun?“, rief Lucius mit vor Aufregung zitternder Stimme.

„Du wirst Senator Publius Agrippa diesen Brief überbringen. Der Brief wird mein Siegel tragen, aber sein Inhalt wird von Scipio Aemilianus unterschrieben sein. Das nur für den Fall, dass jemand auf die Botschaft aufmerksam werden sollte. Ein Brief unter meinem Zeichen ist weniger auffällig als unter dem unseres Feldherrn. Ferner wirst du ihm ein zweites Schreiben aushändigen, das diesmal mit Scipios Siegel versehen sein wird. Dieser Brief ist allein für seine Augen bestimmt. Du wirst den Senator bitten, ihn so schnell wie möglich zu lesen und dir gegebenenfalls eine versiegelte Antwort mitzugeben.“

„Wer sollte denn Interesse daran haben, die Forderung unseres Feldherrn zu unterbinden? Wer sollte den Wunsch hegen, dass vor Karthago weiterhin Blut fließt?“, fragte Lucius ungläubig.

„Es gibt Gegner, die vor nichts zurückschrecken, um mich von der politischen Bühne zu verdrängen. Mein Scheitern vor den Toren Karthagos wäre frischer Wind in ihren Segeln.“

Die Stimme Scipios vibrierte als er weitersprach.

„Ich weiß nicht genau, wer diese Gegner sind. Ich weiß nur, dass kurz vor meiner Abreise nach Karthago zweimal der Versuch unternommen wurde, mich zu ermorden. Ich entkam jedes Mal knapp, auch dank der Wachsamkeit meines Freundes Glabra und dem Schutz der Götter. Deshalb haben wir diesmal Nachricht von deiner Ankunft vorausgeschickt. Du wirst im Hafen von Ostia von einer kleinen, möglichst unauffälligen Eskorte erwartet werden. Wir möchten vermeiden, dass dir etwas zustößt. Du musst Senator Agrippa unbedingt erreichen und ihm die Briefe überbringen.“

Der aufkommende Wind ließ die Wände des Zeltes flattern.

Glabra räusperte sich und sprach anstelle von Scipio weiter.

„Da wäre noch eine dritte, letzte Papyrusrolle, die du Agrippa vorzeigen solltest. Unter den toten Puniern von gestern Nacht haben wir einen entdeckt, der gar nicht dabei war, um zu kämpfen“, sagte der hagere Mann, und die Furchen in seiner Stirn wurden noch tiefer als sonst.

Lucius sah ihn mit fragendem Blick an.

„Er war ein Bote. In seiner Rüstung entdeckten wir diesen zusammengefalteten Papyrus, mit einer Nachricht. Leider wissen wir nicht, was darin steht, denn die Botschaft ist verschlüsselt.“ Er griff in den Gürtel seiner Toga und zog ein verschmutztes Schriftstück heraus. Geschickt breitete Glabra das Dokument auf dem Tisch in der Mitte des Raumes aus.

Lucius trat schnell näher, um seine Neugier zu befriedigen. Er schaute den Zettel angestrengt an, dann blickte er ungläubig zu Glabra hoch.

„Da steht aber nichts drauf“, brachte er schließlich hervor.

Der Schatten eines Lächelns strich über das Gesicht von Scipios Berater.

„Doch, doch“, beteuerte er leise und hielt das Papyrus über eine Öllampe. Langsam wurden durch die Hitze des Lichtes Buchstaben sichtbar. Ihre Reihenfolge ergab jedoch keinen Sinn.


„Jemand hat das sehr schlau geplant, denn der Angriff von gestern Nacht war gar kein Ausbruchsversuch, sondern ein reines Ablenkungsmanöver. Es sollte dem Boten die Möglichkeit verschaffen, im Gemenge an unseren Linien vorbeizukommen.“

Glabra hielt kurz inne und schaute Lucius durchdringend an.

„Es muss eine sehr wichtige Nachricht sein, wenn man über tausend Mann Fußvolk und fast zweihundert Reiter dafür einsetzt, besonders wenn alle Vorräte an Menschen und Material zur Neige gehen …“

Gaius Glabra warf dem Papier einen nachdenklichen Blick zu.

„Ich besitze gute Kenntnisse der Verschlüsselungskunst, aber ich sehe mich außerstande, diese Nachricht zu entziffern. Wenn du nach Rom gehst, nimm eine Abschrift davon mit und zeige sie Agrippa. Wenn, dann kann allein er dir weiterhelfen. Es ist wichtig, dass wir erfahren, was die Botschaft bedeutet!“

Den letzten Satz sprach er mit großem Nachdruck aus. Der junge Tribun nickte stumm.

„Gute Reise und mögen die Götter dich beschützen!“

Lucius und sein Begleiter kamen über den Vicus Iugarius, gingen am Tempel des Saturnus vorbei und erreichten alsbald die Rostra, die wichtigste Bühne, auf der die Redner standen, wenn sie sich ans Volk wandten. Sie war jetzt leer, weil die Nacht ihre Schlacht gegen den Tag schon fast gewonnen hatte. Das Forum sah bereits verlassen aus. Das Gebäude des Comitium, das unmittelbar hinter der Rostra emporragte, warf seinen Schatten bis auf das Heiligtum der Venus Cloacina hinüber. Es war der Ort, an dem der Senat und die Volksversammlung tagten. Dort sollte Lucius am nächsten Tag den Senator Publius Agrippa aufsuchen und ihm die Briefe seines Kommandanten überreichen.

Schließlich erreichten die beiden die Tabernae Novae, die hohen Hallen, die sich vor der mächtigen Basilica Aemilia erstreckten. Es waren die neueren, besseren Läden, die ihre Waren zu horrenden Preisen der reichen Kundschaft feilboten. An dieser Preisgestaltung waren allerdings nicht nur die Kaufleute schuld, sondern auch die Stadtverwaltung, die als Eigentümerin auftrat und den Handelsleuten gerne überhöhte Mieten abverlangte.

Die meisten dieser Geschäfte waren gerade im Begriff zu schließen. Als die beiden Männer an ihnen vorbeieilten, gingen die Türen der Juweliere und der Stoffhändler eine nach der anderen zu.

Die Kesselschmiede, die sonst den ganzen Tag hämmerten, waren still, die Münzwechsler, die für gewöhnlich ständig mit ihrem Geld klimperten, hatten sich mangels Kundschaft verkrochen, und diejenigen die sich in diesem Teil Roms für gewöhnlich aufhielten, schienen ebenfalls wie vom Erdboden verschluckt. Es waren kaum Bettler zu sehen und sogar die unvermeidlichen Gaukler und Wahrsager hatten vor dem Wind und der Kälte den dürftigen Schutz von Arkaden und Hauseingängen gesucht.

An der nächsten Ecke bogen die Reisenden nach rechts in den Vicus Aemilius ein. Von dort liefen sie noch vier Querstraßen weiter, bis sie endlich an einem Eckgebäude stehen blieben. Lucius war froh, noch vor dem Nachteinbruch dieses Gasthaus an der Ecke der Via Contorta erreicht zu haben. Es war nicht ratsam, nachts auf den Straßen zu sein, obwohl es in Rom einen regulären Ordnungsdienst gab. In den dunklen, engen Gassen wusste man nie, wem man begegnen konnte. Glücklicherweise hatte der Wirt noch einige Zimmer frei, von denen sie gleich zwei belegten.