Anna Karenina | Krieg und Frieden

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32

Der erste, der Anna zu Hause entgegenkam, war ihr kleiner Sohn. Er sprang schon auf der Treppe auf sie zu, trotz allen Zurufen seiner Gouvernante, und schrie ganz wild vor Entzücken: »Mama, Mama!« Und sofort hängte er sich ihr an den Hals.

»Ich hab Ihnen doch gleich gesagt, es ist Mama!« rief er der Gouvernante zu. »Das hab ich gewußt!«

Aber auch der Sohn rief, gerade wie der Mann, bei Anna ein Gefühl hervor, das einige Ähnlichkeit mit dem der Enttäuschung hatte. Sie hatte ihn sich in der Erinnerung schöner ausgemalt, als er in Wirklichkeit war. Sie mußte erst wieder zur Wirklichkeit herabsteigen, um sich an ihm, so wie er war, zu freuen. Aber auch so, wie er wirklich war, machte er einen reizenden Eindruck mit seinen blonden Locken, den blauen Augen und den kräftigen, wohlgestalteten Beinchen in den straff sitzenden Strümpfen. Die Empfindung seiner Nähe und seine Liebkosungen riefen bei Anna beinahe ein physisches Lustgefühl hervor, und zugleich empfand sie eine Art von seelischer Beruhigung, als sie seinem treuherzigen, vertrauensvollen, liebevollen Blicke begegnete und seine unschuldigen Fragen hörte. Sie holte die Geschenke hervor, die Dollys Kinder ihr für ihn mitgegeben hatten, und er zählte ihm, was für ein liebes Mädchen die Moskauer Tanja sei, und daß diese Tanja schon lesen könne und sogar die anderen Kinder darin unterrichte.

»Da bin ich also wohl schlechter als sie?« fragte der kleine Sergei.

»Für mich bist du der Beste auf der ganzen Welt.«

»Das weiß ich«, antwortete Sergei lächelnd.

Anna war noch nicht damit fertig, ihren Kaffee zu trinken, als ihr die Gräfin Lydia Iwanowna gemeldet wurde. Die Gräfin war eine beleibte Dame von hohem Wuchs, mit ungesunder gelber Gesichtsfarbe und schönen, sinnenden, schwarzen Augen. Anna war ihr sehr zugetan; aber es war, als sähe sie sie heute zum ersten Mal mit all ihren Fehlern.

»Nun, wie steht's, liebe Freundin? Haben Sie ihnen den Ölzweig gebracht?« fragte die Gräfin Lydia Iwanowna, sobald sie ins Zimmer trat.

»Ja, es ist alles erledigt; aber es war auch alles nicht so arg, wie wir gedacht hatten«, antwortete Anna. »Überhaupt neigt meine belle-sœur sehr zu übereilten Schritten.«

Aber die Gräfin Lydia Iwanowna, die sich für alles interessierte, was sie nichts anging, hatte die Gewohnheit, niemals zuzuhören, wenn ihr über das, was sie doch anscheinend so interessierte, Auskunft gegeben wurde; sie unterbrach Anna:

»Ja, es gibt viel Kummer und viel Bosheit in der Welt; heute bin ich ganz durcheinander.«

»Was ist denn geschehen?« fragte Anna und bemühte sich, ein Lächeln zu unterdrücken.

»Ich werde es allmählich müde, immer vergeblich für die Wahrheit eine Lanze zu brechen, und bin manchmal völlig erschöpft. Die Angelegenheit mit den Schwestern« (es war dies ein philanthropisches, religiös-patriotisches Unternehmen) »nähme einen vorzüglichen Gang; aber mit diesen Herren ist ja schlechterdings nichts anzufangen«, klagte die Gräfin mit spöttischer Ergebung in das Schicksal. »Sie haben den Grundgedanken erfaßt, ihn dann aber verunstaltet, und nun urteilen sie darüber in einer ganz kleinlichen, unverständigen Weise. Zwei oder drei, darunter Ihr Herr Gemahl, haben die ganze hohe Bedeutung dieser Angelegenheit richtig erfaßt, die anderen aber sind der weiteren Entwicklung nur hinderlich. Gestern schrieb mir Prawdin ...«

Prawdin war ein bekannter, im Ausland lebender Panslawist, und die Gräfin Lydia Iwanowna berichtete nun ausführlich über den Inhalt seines Briefes.

Dann erzählte sie noch von den Unannehmlichkeiten und Ränken, die sie bei ihren auf die Vereinigung der verschiedenen Kirchen gerichteten Bestrebungen erlebte, und empfahl sich darauf eiligst, da sie an diesem Tage noch einer Vereinssitzung beiwohnen und auch im slawischen Komitee tätig sein mußte.

›All das ist ja doch früher ganz ebenso gewesen; warum ist es mir nur früher nicht aufgefallen?‹ fragte sich Anna. ›Oder war sie gerade heute ungewöhnlich gereizt? Es ist doch auch wirklich komisch: ihr Ziel ist die Tugend, und sie ist eine Christin; aber trotzdem ist sie stets ergrimmt, und immer hat sie Feinde, und zwar immer wegen des Christentums und der Tugend.‹

Als die Gräfin fort war, kam eine andere Freundin, die Frau des Subdirektors, und erzählte allerlei Stadtneuigkeiten. Um drei Uhr ging auch diese, versprach jedoch, zum Mittagessen wiederzukommen. Alexei Alexandrowitsch war im Ministerium. Bis zum Mittagessen war Anna allein und verwandte diese Zeit darauf, beim Mittagessen ihres Sohnes zugegen zu sein (er aß für sich allein, nicht mit den Erwachsenen), ihre Sachen in Ordnung zu bringen und die Briefe und Karten, die sich auf ihrem Tische angehäuft hatten, zu lesen und teilweise zu beantworten.

Das Gefühl unbegründeter Scham, das sie unterwegs empfunden hatte, und jene ganze Aufregung waren vollständig verschwunden. Inmitten ihrer gewohnten Lebensverhältnisse fühlte sie sich wieder fest und tadellos.

Erstaunt erinnerte sie sich ihres gestrigen Zustandes. ›Was ist denn vorgefallen? Nichts. Wronski redete Dummheiten, die leicht abzuschneiden waren, und ich habe geantwortet, wie es in Ordnung war. Darüber mit meinem Manne zu reden, ist unnötig und unmöglich. Darüber zu reden, das hieße der Sache eine Wichtigkeit beilegen, die ihr gar nicht zukommt.‹ Sie erinnerte sich, wie sie ihrem Manne früher einmal mitgeteilt hatte, daß ihr von einem seiner Untergebenen, einem jungen Manne, beinahe so etwas wie eine Liebeserklärung gemacht worden war, und wie Alexei Alexandrowitsch ihr darauf geantwortet hatte, dem sei schließlich jede Dame, die in diesen gesellschaftlichen Kreisen lebe, ausgesetzt; aber er habe das größte Vertrauen zu ihrem Taktgefühle und werde sich nie einfallen lassen, sie und sich selbst durch Eifersucht herabzuwürdigen. ›Also wozu soll ich mit ihm darüber reden? Und es ist ja auch, Gott sei Dank, nichts, was ich ihm zu sagen hätte‹, sprach sie bei sich selbst.

33

Alexei Alexandrowitsch kehrte um vier Uhr aus dem Ministerium nach Hause zurück, hatte aber, wie das häufig vorkam, keine Zeit mehr, bei seiner Frau einzutreten. Er ging sogleich in sein Arbeitszimmer, empfing die wartenden Bittsteller und unterschrieb einige Schriftstücke, die sein Subdirektor gebracht hatte. Zum Mittagessen (es speisten stets mindestens drei Gäste bei Karenins) kamen: eine alte Cousine des Hausherrn, der Subdirektor mit seiner Frau und ein junger Mann, der in den Staatsdienst eintreten wollte und sich bei Alexei Alexandrowitsch durch eine Empfehlung eingeführt hatte. Anna begab sich in den Salon, um die Gäste zu unterhalten. Pünktlich um fünf Uhr (die Bronzeuhr mit der Statuette Peters des Großen hatte noch nicht den fünften Schlag vollendet) trat Alexei Alexandrowitsch ein, mit weißer Krawatte und im Frack mit zwei Ordenssternen, da er sogleich nach dem Mittagessen wieder wegfahren mußte. Jede Minute seines Lebens war besetzt und für bestimmte Verwendung in Aussicht genommen. Um alle Aufgaben, die ihm ein jeder Tag stellte, zu erledigen, hatte er sich die strengste Pünktlichkeit zur Regel gemacht. ›Ohne Hast und ohne Rast‹, war sein Wahlspruch. Er trat in den Speisesaal, machte allen eine Verbeugung und setzte sich schnell auf seinen Platz, indem er seiner Frau zulächelte.

»Ja, nun hat meine Vereinsamung ein Ende. Du glaubst gar nicht, wie ungemütlich« (dieses Wort betonte er ganz besonders) »es ist, allein speisen zu müssen.«

Während des Essens sprach er mit seiner Frau über Moskauer Angelegenheiten und erkundigte sich dabei auch mit spöttischem Lächeln nach Stepan Arkadjewitsch; aber vorwiegend war das Gespräch allgemein und betraf Petersburger gesellschaftliche und dienstliche Gegenstände. Nach dem Essen blieb er noch eine halbe Stunde bei den Gästen; dann empfahl er sich, drückte seiner Frau wieder lächelnd die Hand und fuhr zur Ratssitzung. Anna fuhr an diesem Tage weder zur Fürstin Betsy Twerskaja, die von ihrer Ankunft gehört und sie zum Abendessen eingeladen hatte, noch ins Theater, wo sie für diesen Abend eine Loge hatte. Der Hauptgrund, weswegen sie nicht ausfuhr, war, daß ein Kleid, auf das sie gerechnet hatte, nicht fertig geworden war. Überhaupt hatte Anna, als sie nach dem Weggang der Gäste sich mit ihrer Toilette beschäftigte, viel Verdruß. Vor ihrer Abreise nach Moskau hatte sie, wie sie denn überhaupt eine Meisterin in der Kunst war, sich ohne übermäßige Kosten elegant zu kleiden, ihrer Modistin drei Kleider zum Umändern gegeben. Die Kleider sollten so umgeändert werden, daß sie nicht wiederzuerkennen wären, und hätten schon vor drei Tagen fertig sein müssen. Nun stellte sich heraus, daß von diesen Kleidern zwei überhaupt noch nicht fertig waren und beim dritten die Änderung nicht so ausgefallen war, wie Anna es gewünscht hatte. Die Modistin war gekommen, um sich zu rechtfertigen, und versicherte, daß es so hübscher sei; aber Anna geriet darüber in so heftige Erregung, daß sie sich nachher bei der Erinnerung daran schämte. Um sich vollständig wieder zu beruhigen, ging sie in das Kinderzimmer und verbrachte den ganzen Abend mit ihrem Söhnchen, legte ihn dann selbst schlafen, bekreuzte ihn und deckte ihn mit dem Oberbett zu. Sie freute sich, daß sie nirgends hingefahren war und diesen Abend so angenehm verlebt hatte. Es war ihr so leicht und ruhig zumute; sie erkannte mit voller Deutlichkeit, daß alles, was ihr auf der Eisenbahn so bedeutungsvoll erschienen war, nichts weiter gewesen war als einer der gewöhnlichen, nichtssagenden Vorfälle des gesellschaftlichen Lebens und daß sie sich über nichts vor irgend jemandem oder vor sich selbst zu schämen habe. Sie setzte sich mit einem englischen Roman an den Kamin und wartete auf ihren Mann. Genau um halb zehn ertönte die Vorsaalklingel, und er trat ins Zimmer.

 

»Da bist du ja endlich«, sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen.

Er küßte ihr die Hand und setzte sich zu ihr.

»Im ganzen ist deine Reise, wie ich sehe, gut verlaufen«, begann er.

»O ja, sehr gut«, antwortete sie und begann ihm alles von Anfang an zu erzählen: ihre Fahrt mit der Gräfin Wronskaja, ihre Ankunft in Moskau, den Unfall auf der Eisenbahn. Darauf erzählte sie, wie sie zuerst mit ihrem Bruder und dann mit Dolly Mitleid gehabt habe.

»Ich bin nicht der Ansicht, daß man einen solchen Menschen entschuldigen kann, wiewohl er dein Bruder ist«, bemerkte Alexei Alexandrowitsch in strengem Tone.

Anna lächelte. Sie durchschaute, daß er das namentlich in der Absicht sagte, zu zeigen, daß verwandtschaftliche Rücksichten ihn nicht davon zurückhalten könnten, seine ehrliche Meinung auszusprechen. Sie kannte an ihrem Manne diesen Charakterzug und mochte ihn gern.

»Ich freue mich, daß alles glücklich erledigt ist und du wieder hier bist«, fuhr er fort. »Nun, was sagt man denn dort über die neue Maßregel, die ich im Rat durchgesetzt habe?«

Anna hatte von dieser Maßregel nicht reden hören, und sie schämte sich, daß sie so leicht hatte etwas vergessen können, was ihm so wichtig war.

»Hier hat die Sache im Gegenteil viel Aufsehen er regt«, sagte er mit selbstzufriedenem Lächeln.

Sie merkte, daß Alexei Alexandrowitsch ihr über diese Sache etwas mitteilen wollte, was ihm Vergnügen gemacht hatte, und veranlaßte ihn durch Fragen zum Erzählen. Und mit eben jenem selbstzufriedenen Lächeln berichtete er von den Ehrungen, die ihm infolge der Durchsetzung jener Maßregel dargebracht worden waren.

»Ich habe mich sehr, sehr gefreut. Es ist dies ein Beweis dafür, daß endlich auch bei uns feste, vernünftige Ansichten auf diesem Gebiete zur Herrschaft gelangen.«

Nachdem Alexei Alexandrowitsch sein zweites Glas Tee mit Sahne getrunken und etwas Brot dazu gegessen hatte, stand er auf und schickte sich an, in sein Arbeitszimmer zu gehen.

»Und du bist heute abend gar nicht aus gewesen? Da hast du dich gewiß recht gelangweilt?« fragte er.

»O nein!« antwortete sie. Sie war nach ihm gleichfalls aufgestanden und begleitete ihn durch den Saal zu seinem Zimmer. »Was liest du denn jetzt?« fragte sie.

»Ich lese jetzt Duc de Lilie: Poésie des enfers«, erwiderte er. »Ein sehr merkwürdiges Buch.«

Anna lächelte, wie man eben zu den Schwächen geliebter Menschen lächelt, und begleitete ihn, indem sie ihren Arm unter den seinigen schob, bis an die Tür seines Arbeitszimmers. Sie kannte seine ihm zum Bedürfnis gewordene Gewohnheit, abends zu lesen. Sie wußte, daß er, obwohl seine amtlichen Obliegenheiten fast seine gesamte Zeit in Anspruch nahmen, es dennoch für seine Pflicht hielt, alle bemerkenswerten Erscheinungen auf geistigem Gebiete zu verfolgen. Sie wußte auch, daß nur politische, philosophische und theologische Bücher ihn wirklich interessierten, die Kunst dagegen ihm nach seinem ganzen Wesen völlig fern lag, daß aber Alexei Alexandrowitsch trotzdem oder vielmehr gerade deshalb auch auf diesem Gebiete nichts unbeachtet ließ, was Aufsehen erregte, und es für seine Pflicht hielt, alles zu lesen. Sie wußte, daß er auf dem Gebiete der Politik, Philosophie und Theologie seine Zweifel hatte oder die Wahrheit noch zu ergründen suchte, aber in Fragen der Kunst und der Poesie, ganz besonders aber der Musik, für die ihm jedes Verständnis abging, ganz bestimmte feste Ansichten besaß. Er sprach gern von Shakespeare, von Raffael, von Beethoven und von dem Werte der neueren Richtungen in der Poesie und Musik und hatte über all dies sehr klare, festgelegte Gedankengänge im Kopfe.

»Nun, Gott mit dir!« sagte sie an der Tür des Arbeitszimmers, in dem für ihn bei seinem Lehnstuhl bereits eine Kerze mit einem Lichtschirm und eine Karaffe mit Wasser bereit standen. »Ich will noch nach Moskau schreiben.«

Er drückte ihr die Hand und küßte sie ihr nochmals.

›Und trotz allem ist er ein braver, aufrichtiger, gutherziger und in seinem Wirkungskreise bedeutender Mann‹, sagte Anna zu sich selbst, nachdem sie in ihr Zimmer zurückgekehrt war, als ob sie ihn gegen jemand verteidigte, der ihn angeschuldigt und behauptet hätte, man könne ihn nicht lieben. ›Aber daß ihm die Ohren so sonderbar vom Kopfe abstehen! Oder hat er sich vielleicht das Haar schneiden lassen?‹

Punkt zwölf Uhr – Anna saß noch an ihrem Schreibtische und beendete ihren Brief an Dolly – ließen sich gleichmäßige Schritte in Pantoffeln vernehmen, und Alexei Alexandrowitsch trat zu ihr herein, gewaschen und gekämmt, das Buch unter dem Arm.

»Es ist Zeit, es ist Zeit«, sagte er mit einem besonderen Lächeln und begab sich in das Schlafzimmer.

›Und was für ein Recht hatte er denn, ihn so anzusehen?‹ dachte Anna bei der Erinnerung an den Blick, mit dem Wronski ihren Mann betrachtet hatte.

Sie kleidete sich aus und ging in das Schlafzimmer; aber von jener Lebhaftigkeit, die während ihres Aufenthaltes in Moskau nur so aus ihren Augen gesprüht, aus ihrem Lächeln hervorgeleuchtet hatte, war jetzt auf ihrem Gesichte nichts zu entdecken; vielmehr schien jetzt jenes Feuer in ihrem Inneren entweder erloschen zu sein oder sich irgendwo tief unten versteckt zu haben.

34

Bei seiner Abreise von Petersburg hatte Wronski seine Wohnung in der Morskaja-Straße seinem guten Freunde und lieben Kameraden Petrizki überlassen.

Petrizki war ein junger Leutnant aus nicht besonders vornehmer Familie; er war nicht nur ohne Vermögen, sondern steckte sogar bis über die Ohren in Schulden, abends war er stets betrunken und hatte schon oft wegen allerlei teils lächerlicher, teils unsauberer Geschichten Arrest gehabt. Aber trotzdem war er bei seinen Kameraden sowie bei seinen Vorgesetzten beliebt. Als Wronski um zwölf Uhr, vom Bahnhof kommend, an seiner Wohnung vorfuhr, sah er vor der Haustür eine ihm wohlbekannte Mietskutsche stehen. Als er noch vor der Vorsaaltür war, hörte er auf sein Klingeln ein helles Gelächter von Männern, das Schwatzen einer Frauenstimme und das laute Geschrei Petrizkis: »Wenn es einer von den Halunken ist, so laß ihn nicht herein!« Wronski verbot dem öffnenden Burschen, ihn zu melden, und trat leise in das erste Zimmer. Die Baronin Chilton, Petrizkis Freundin, ein Dämchen mit frischem Gesicht und blondem Haar, saß in einem schimmernden lila Atlaskleide an einem runden Tische, kochte Kaffee und erfüllte wie ein Kanarienvogel das ganze Zimmer mit ihrem Pariser Geplapper. Neben ihr saßen Petrizki im Mantel und der Rittmeister Kamerowski, der wahrscheinlich eben erst vom Dienst gekommen war, in voller Uniform.

»Hurra, Wronski!« schrie Petrizki und sprang auf, indem er den Stuhl mit Gepolter zurückstieß. »Der Hausherr in eigener Person! Baronin, geben Sie ihm eine Tasse Kaffee aus der neuen Maschine! Das ist einmal unvermutet! Ich hoffe, du bist mit der Verschönerung deines Zimmers zufrieden«, fuhr er, auf die Baronin deutend, fort. »Die Herrschaften kennen sich doch?«

»Aber gewiß doch!« erwiderte Wronski, vergnügt lächelnd, und drückte der Baronin das kleine Händchen. »Natürlich! Wir sind alte Freunde.«

»Sie kommen von der Reise nach Hause?« sagte die Baronin. »Da will ich mich davonmachen. Ich gehe augenblicklich, wenn ich störe.«

»Wo Sie sich befinden, Baronin, da sind Sie auch zu Hause«, versetzte Wronski. »Guten Tag, Kamerowski«, fügte er hinzu und gab ihm kühl die Hand.

»Sehen Sie wohl, so hübsche Sachen zu sagen, das verstehen Sie niemals«, wandte sich die Baronin an Petrizki.

»Nanu! Wieso denn nicht? Nach einem guten Diner rede ich ebenso gut.«

»Ja, nach einem Diner ist das kein Verdienst! Nun, dann will ich Ihnen Kaffee eingießen; Sie können ja inzwischen gehen und sich waschen und Toilette machen«, sagte die Baronin, setzte sich wieder hin und drehte achtsam den Hahn an der neuen Kaffeemaschine. »Pierre, reichen Sie einmal den Kaffee her!« wandte sie sich an Petrizki, den sie wegen seines Familiennamens Petrizki zu ihrer Bequemlichkeit Pierre nannte, ohne aus ihren Beziehungen zu ihm ein Hehl zu machen. »Ich will noch zuschütten.«

»Sie werden ihn verderben!«

»Unbesorgt! Nun, und wie steht's mit Ihrer Frau?« fragte die Baronin plötzlich, indem sie Wronskis Gespräch mit seinem Kameraden unterbrach. »Wir haben Sie hier verheiratet. Haben Sie Ihre Frau mit nach Petersburg gebracht?«

»Nein, Baronin. Ich bin als Hagestolz und Vagabund geboren und werde auch so sterben!«

»Das ist recht, das ist recht! Geben Sie mir Ihre Hand!«

Und ohne Wronski loszulassen, begann sie, ihm unter unaufhörlichen Scherzen und Späßen ihre neuesten Lebenspläne zu entwickeln und ihn um Rat zu fragen.

»Er will immer noch nicht in die Scheidung willigen! Also was soll ich nun machen?« (Dieser Er war ihr Mann.) »Ich will jetzt einen Prozeß anstrengen. Was raten Sie mir? Kamerowski, passen Sie doch auf den Kaffee auf! Er kocht ja über! Sie sehen doch, daß ich mit ernsten Dingen beschäftigt bin! Ich möchte einen Prozeß anfangen, weil ich mein Vermögen für mich allein haben will. Können Sie eine solche Dummheit begreifen: mit der Begründung, ich sei ihm untreu geworden«, fuhr sie in verächtlichem Tone fort, »will er von meinem Vermögen Vorteil ziehen!«

Wronski hörte mit Vergnügen das lustige Geplapper der hübschen Frau an, sagte ihr Schmeicheleien, gab ihr halb scherzhafte Ratschläge und nahm überhaupt sofort den Ton an, der ihm im Verkehr mit derartigen Damen geläufig war. Nach den Begriffen der Gesellschaft, die in Petersburg seinen Umgangskreis bildete, zerfielen die Menschen in zwei einander völlig entgegengesetzte Gattungen. Erstens eine niedere: das waren geschmacklose, dumme und vor allem lächerliche Leute, die meinten, ein Mann dürfe nur mit der einen Frau leben, mit der er getraut sei, ein junges Mädchen müsse unschuldig sein, eine Frau züchtig, ein Mann gesetzt, enthaltsam und solid, man müsse Kinder aufziehen, sich durch Arbeit sein Brot erwerben, seine Schulden bezahlen und mehr derartige Dummheiten. Dies war die Gattung der altmodischen, komischen Leute. Aber es gab auch noch eine andere Gattung von Menschen: die wirklichen Menschen, zu denen sie selbst alle gehörten; in dieser Gattung mußte man vor allem elegant, großartig, keck und heiter sein, sich, ohne zu erröten, jeder Leidenschaft überlassen und sich über alles übrige lustig machen.

Wronski war nur im ersten Augenblicke, unter der Nachwirkung der von Moskau mitgebrachten Eindrücke aus einer ganz anderen Welt, noch wie betäubt gewesen, hatte sich aber dann, wie wenn jemand mit den Füßen in seine Pantoffeln hineinfährt, sofort wieder in seiner früheren vergnügten, angenehmen Welt zurechtgefunden.

Der Kaffee wollte durchaus nicht richtig kochen; er bespritzte alle, lief über, ergoß sich über den teueren Teppich und über das Kleid der Baronin und brachte dadurch gerade die Wirkung hervor, die hier nötig war: er gab Anlaß zu Lärm und Gelächter.

»Nun leben Sie aber wohl, sonst kommen Sie nie dazu, sich zu waschen, und ich habe es dann auf dem Gewissen, Sie zu dem schlimmsten Verbrechen eines anständigen Menschen, zur Unsauberkeit, veranlaßt zu haben. Also Sie raten mir, ihm das Messer an die Kehle zu setzen?«

»Unbedingt, und zwar so, daß Ihr Händchen recht nahe an seine Lippen kommt. Er wird Ihr Händchen küssen, und alles wird ein erfreuliches Ende nehmen«, antwortete Wronski.

»Also heut abend im Französischen Theater!« Und mit dem Kleide rauschend, verschwand sie.

Auch Kamerowski stand auf, und Wronski reichte ihm, ohne seinen Weggang abzuwarten, die Hand und ging in sein Toilettenzimmer. Während er sich wusch, schilderte ihm Petrizki in kurzen Zügen seine Lage, soweit sie sich nach Wronskis Abreise verändert hatte. Geld habe er keines mehr. Sein Vater habe erklärt, er werde ihm nichts mehr geben und auch seine Schulden nicht bezahlen. Sein Schneider wolle ihn ins Schuldgefängnis setzen lassen, und ein anderer Gläubiger habe ihm gleichfalls auf das bestimmteste damit gedroht. Der Regimentskommandeur habe ihm eröffnet, wenn diese Skandalgeschichten nicht aufhörten, müsse er seinen Abschied nehmen. Die Baronin sei ihm so widerwärtig geworden wie ein bitterer Rettich, namentlich deswegen, weil sie ihm immer Geld geben wolle. Da habe er aber jetzt ein anderes Frauenzimmer entdeckt – er wolle sie ihm zeigen –, eine wahre Pracht, rein zum Entzücken, so in streng orientalischem Stil, »im Genre der Magd Rebekka, weißt du!« Mit Berkoschew habe er auch einen argen Zank gehabt und wolle ihm seine Sekundanten schicken; aber selbstverständlich werde weiter nichts dabei herauskommen. Im allgemeinen aber gehe es ihm ganz vortrefflich, und er sei höchst fidel. Und ohne daß er seinem Kameraden Zeit gelassen hätte, auf die Einzelheiten seiner Lage näher einzugehen, ging Petrizki dazu über, ihm alle interessanten Neuigkeiten zu erzählen. Während Wronski diese ihm so wohlbekannte Sorte von Geschichten in dem ihm so wohlbekannten Getriebe der nun schon drei Jahre von ihm innegehabten Wohnung anhörte, empfand er das angenehme Gefühl der Rückkehr zu seinem gewohnten sorglosen Petersburger Leben.

 

»Nicht möglich!« rief er und hob den Fuß von dem Trittbrett der Wascheinrichtung weg, durch die er seinen roten, gesunden Hals mit Wasser übergossen hatte. »Nicht möglich!« rief er bei der Nachricht, daß Fräulein Lora sich von Fertinghof losgesagt habe und Milejews Freundin geworden sei. »Und ist Fertinghof immer noch so dumm und mit allem zufrieden? Na, und was macht denn Busulukow?«

»Ach, mit Busulukow hat sich eine Geschichte abgespielt, eine ganz kostbare Geschichte!« rief Petrizki. »Seine Leidenschaft sind bekanntlich Bälle, und er versäumt keinen einzigen Hofball. Na, er geht also auf einen großen Ball mit dem neuen Helm. Hast du die neuen Helme schon gesehen? Sie sind sehr hübsch, leichter als die bisherigen. Er steht also so da, – Nein, du mußt aber auch zuhören!«

»Ich höre ja zu!« antwortete Wronski, der sich gerade mit einem Frottierhandtuch abtrocknete.

»Da geht gerade eine Großfürstin mit irgendwelchem Gesandten an ihm vorbei, und zu seinem Unglück dreht sich das Gespräch der beiden gerade um die neuen Helme. Die Großfürstin will dem Gesandten einen solchen neuen Helm zeigen. Da sieht sie unseren braven Busulukow stehen (Petrizki machte nach, wie dieser mit dem Helme dagestanden hatte); die Großfürstin ersucht ihn, ihr den Helm einmal herzugeben, – er gibt ihn nicht. Großes Erstaunen, was das heißen soll. Die Umstehenden zwinkern ihm zu, machen ihm Zeichen mit dem Kopfe, schneiden ihm finstere Gesichter: er solle doch den Helm hinreichen. Er tut es nicht. Er steht wie erstarrt da. Du kannst dir die Szene vorstellen! Da kommt dieser ... – wie heißt er doch gleich? – und will ihm den Helm wegnehmen. Er läßt ihn nicht los! Der reißt ihn ihm aus der Hand und reicht ihn der Großfürstin. ›Sehen Sie, das ist der neue Helm‹, sagt die Großfürstin. Sie dreht den Helm um, und nun stell dir das mal vor: bums! fällt eine Birne und Konfekt heraus, zwei Pfund Konfekt! – Das hatte er sich da hineingestopft, unser edler Busulukow!«

Wronski wollte sich totlachen. Und noch lange nachher, als sie schon von anderen Dingen sprachen, brach er, wenn er an den Helm dachte, immer von neuem in ein kräftiges Gelächter aus, so daß seine starken, vollzähligen Zähne sichtbar wurden.

Nachdem er alle Neuigkeiten erfahren hatte, legte er mit Hilfe seines Dieners die Uniform an und fuhr weg, um sich zu melden. Nach der Meldung beabsichtigte er zu seinem Bruder und zur Fürstin Betsy Twerskaja zu fahren und sonst noch einige Besuche zu machen, um sich Zugang zu den Kreisen zu verschaffen, in denen er Frau Karenina treffen konnte. Wie stets in Petersburg, fuhr er von Hause mit der Absicht fort, erst spät in der Nacht zurückzukommen.