Anna Karenina | Krieg und Frieden

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16

In allen Zimmern des Landhauses gingen Hausknechte, Gärtner und Diener umher und trugen Sachen hinaus. Die Schränke und die Kommoden waren geöffnet; zweimal war zum Kaufmann geschickt worden, um Stricke zum Packen zu holen; der Fußboden lag voll Zeitungspapier. Zwei Koffer, mehrere Säcke und zusammengebundene Reisedecken waren schon ins Vorzimmer getragen. Eine Kutsche und zwei Droschken hielten vor der Haustür. Anna, die über der Arbeit des Packens ihre innere Unruhe vergessen hatte, stand in ihrem Zimmer am Tische und packte ihre Reisetasche, als Annuschka sie auf das Geräusch eines herankommenden Wagens aufmerksam machte. Anna warf einen Blick aus dem Fenster und sah an der Haustür Alexei Alexandrowitschs Kurier, der dort die Klingel zog.

»Geh und sieh zu, was es gibt«, sagte sie; mit ruhiger Ergebung in alles, was da kommen konnte, setzte sie sich auf einen Sessel und legte die Hände über den Knien zusammen. Ein Diener brachte einen dicken Brief, dessen Anschrift Alexei Alexandrowitschs Handschrift aufwies.

»Der Kurier soll auf Antwort warten«, sagte er.

»Gut«, erwiderte sie und riß, sobald er hinausgegangen war, den Brief mit zitternden Fingern auf. Ein Päckchen Banknoten, die, ohne zusammengefaltet zu sein, mit einem Papierstreifen umklebt waren, fiel aus ihm heraus. Sie entfaltete den Brief und begann, vom Ende anfangend, ihn zu lesen. »Alle für Ihren Umzug erforderlichen Anordnungen werden getroffen werden«, las sie. »Ich bitte Sie, zu beachten, daß ich auf die Erfüllung dieser meiner Bitte besonderen Wert lege.« Sie überflog mit den Augen den vorhergehenden Abschnitt, las alles und las dann den ganzen Brief noch einmal von vorn. Als sie an das Ende gelangt war, fühlte sie, daß sie fror und daß ein so furchtbares Unglück über sie hereingebrochen war, wie sie es nicht erwartet hatte.

Sie hatte am Morgen bereut, es ihrem Manne gesagt zu haben, und nur den einen Wunsch gehabt, diese Worte möchten für so gut wie ungesagt angesehen werden. Und nun betrachtete dieser Brief die Worte als ungesagt und gewährte ihr das, was sie gewünscht hatte. Aber jetzt erschien ihr dieser Brief furchtbarer als alles, was sie sich nur hatte vorstellen können.

›Er hat recht, er hat recht!‹ sagte sie. ›Selbstverständlich, er hat immer recht, er ist ein Christ, er ist großmütig! Ja, ein niedrig denkender, garstiger Mensch ist er! Und das durchschaut niemand außer mir, und niemand außer mir wird es je durchschauen, und ich kann es niemandem klarmachen. Alle sagen sie: »So ein religiöser, moralischer, ehrenhafter, kluger Mann!« aber sie sehen nicht, was ich gesehen habe. Sie wissen nicht, daß er acht Jahre lang mein Leben erstickt hat, alles erstickt hat, was in meinem Innern lebendig war, daß ihm kein einziges Mal auch nur der Gedanke gekommen ist, daß ich eine lebendige Frau bin, die der Liebe bedarf. Sie wissen nicht, wie er mich auf Schritt und Tritt gekränkt hat und dabei doch der selbstzufriedene Mann geblieben ist, der er war. Habe ich mich nicht bemüht, mit aller Kraft bemüht, meinem Leben einen würdigen Inhalt zu geben? Habe ich nicht versucht, ihn zu lieben und, als ich meinen Mann nicht mehr lieben konnte, meinen Sohn zu lieben? Aber dann kam schließlich der Zeitpunkt, wo ich einsah, daß ich mich nicht mehr selbst betrügen konnte und daß ich ein lebendes Wesen bin und nichts dafür kann, wenn Gott mich so geschaffen hat, daß es mir ein Bedürfnis ist zu lieben und zu leben. Und was tut dieser Mensch jetzt? Wenn er mich tötete, wenn er ihn tötete – ich würde alles ertragen, alles verzeihen; aber nein, er ...

Wie ist es nur möglich, daß ich nicht gleich erraten habe, was er tun werde? Er tut eben das, was seinem niedrigen Charakter gemäß ist. Er bleibt der recht Handelnde; aber mich, die ich ins Elend geraten bin, stößt er noch schlimmer, noch tiefer ins Verderben hinein ...‹ »Sie werden sich selbst sagen können, was Sie und Ihren Sohn erwartet«, an diese Worte seines Briefes mußte sie denken. ›Das ist eine Drohung, mir den Sohn wegzunehmen, und wahrscheinlich ist das nach ihrem törichten Gesetze möglich. Aber weiß ich denn etwa nicht, warum er das sagt? Er glaubt zwar nicht an meine Liebe zu meinem Sohne, oder er verachtet dieses mein Gefühl, wie er ja auch immer darüber gespottet hat; aber er weiß, daß ich auf meinen Sohn nicht verzichten werde, nicht auf ihn verzichten kann, daß es ohne meinen Sohn für mich kein Leben gibt, selbst nicht mit dem Manne, den ich liebe, daß, wenn ich auf meinen Sohn verzichtete und von ihm selbst wegliefe, ich wie das schändlichste, abscheulichste Weib handeln würde; das weiß er, und er weiß, daß ich nicht imstande bin, das zu tun‹.

Es fiel ihr ein anderer Satz aus dem Briefe ein: »Unser Leben muß auch in Zukunft denselben Gang nehmen, den es bisher genommen hat.« ›Ja‹, sagte sie sich, ›dieses Leben war schon früher eine Qual und war in der letzten Zeit geradezu furchtbar geworden. Wie wird es nun jetzt erst sein? Und er weiß das alles; er weiß, daß ich lieben muß, so wie ich atmen muß, und daß ich das eine sowenig wie das andere bereuen kann; er weiß, daß weiter nichts dabei herauskommt als Lüge und Täuschung; aber er möchte mich immer weiter quälen. Ich kenne ihn; ich weiß, daß, wie für den Fisch das Wasser, so für ihn die Lüge das Element ist, in dem er schwimmt und sich wohlfühlt. Aber nein, ich werde ihm diesen Genuß nicht ermöglichen; ich werde dieses Lügennetz zerreißen, in das er mich verstricken möchte; mag daraus kommen, was da will! Alles ist besser als dieses stete Lügen und Betrügen.

Aber wie kann ich das machen? Mein Gott, mein Gott! Ist jemals eine Frau so unglücklich gewesen wie ich? ...‹

»Nein, ich zerreiße dieses Lügennetz, ich zerreiße es!« rief sie und sprang auf. Ihre Tränen zurückdrängend, ging sie zum Schreibtisch, um einen anderen Brief an ihn zu schreiben. Aber im tiefsten Grunde ihrer Seele fühlte sie schon, daß sie nicht die Kraft haben werde, etwas zu zerreißen, nicht die Kraft haben werde, aus der bisherigen Lage herauszukommen, wie lügnerisch und ehrlos diese auch sein mochte.

Sie setzte sich an den Schreibtisch; aber statt zu schreiben, verschränkte sie die Arme auf dem Tische, legte den Kopf darauf und weinte; sie weinte mit starkem Schluchzen und mit heftigen Bewegungen der ganzen Brust, so wie Kinder weinen. Sie weinte darüber, daß ihre Hoffnung auf eine Klärung und Neuordnung ihrer Lage für alle Zeit zerstört war. Sie wußte im voraus, daß nun alles beim alten bleiben, ja noch weit schlimmer sein werde als bisher. Sie fühlte, daß die Stellung, die sie in der Welt einnahm und die ihr noch an diesem Morgen so nichtig und wertlos erschienen war, doch für sie von Wert war und daß sie es nicht über sich gewinnen werde, sie mit der schmählichen Stellung einer Frau zu vertauschen, die ihren Mann und ihren Sohn verlassen und sich mit ihrem Liebhaber vereinigt hat, und daß sie, mochte sie sich auch noch so sehr anstrengen, doch niemals stärker sein werde, als sie nun eben von Natur war. Niemals würde sie in die Lage kommen, frei und offen lieben zu können; sie würde immer die verbrecherische Gattin bleiben, die, jeden Augenblick in Gefahr, entlarvt zu werden, ihren Mann betrog, um in einer schmählichen Beziehung mit einem fremden, durch nichts gebundenen Mann zu stehen, mit dem sie niemals ein gemeinsames Leben führen konnte. Sie wußte, daß es so kommen werde, und zugleich war es ihr so entsetzlich, daß sie sich gar keine Vorstellung davon zu machen vermochte, wie das Ende sein werde. Und sie weinte, ohne einen Versuch, sich zu beherrschen, so wie bestrafte Kinder weinen.

Sie vernahm die Schritte des herbeikommenden Dieners und zwang sich zu ruhigerer Haltung. Indem sie ihm ihr Gesicht verbarg, stellte sie sich, als ob sie schriebe.

»Der Kurier bittet um Antwort«, meldete der Diener.

»Antwort? Jawohl«, antwortete Anna. »Er soll noch warten. Ich werde klingeln.«

›Was kann ich schreiben?‹ dachte sie. ›Welchen Entschluß kann ich so allein fassen? Was weiß ich? Was will ich? Was möchte ich?‹ Und wieder hatte sie die Empfindung, als ob sich in ihrer Seele etwas verdoppele. Sie erschrak wieder vor diesem Gefühle und griff begierig nach dem ersten sich darbietenden Anlasse, etwas zu tun, in der Absicht, sich von den Gedanken über sich und ihr Schicksal abzulenken. ›Ich muß Alexei sehen (so nannte sie in Gedanken Wronski); er allein kann mir sagen, was ich tun soll. Ich will zu Betsy fahren; vielleicht treffe ich ihn dort‹, sagte sie zu sich, vergaß aber dabei vollständig, daß sie ihm noch tags zuvor gesagt hatte, sie werde nicht zur Fürstin Twerskaja fahren, und er darauf erwidert hatte, daß er dann auch nicht hinkommen werde. Sie trat an den Tisch und schrieb ihrem Manne: »Ich habe Ihren Brief erhalten. A.« Darauf klingelte sie und übergab das Schreiben dem Diener.

»Wir reisen nicht«, sagte sie zu der eintretenden Annuschka.

»Überhaupt nicht?«

»Das kann ich noch nicht bestimmen; vor morgen soll noch nicht wieder ausgepackt werden. Der Wagen soll noch dableiben; ich will zur Fürstin fahren.«

»Welches Kleid soll ich bringen?«

17

Die Spielgesellschaft bei der Krocketpartie, zu der die Fürstin Twerskaja Anna eingeladen hatte, sollte aus zwei Damen und den Verehrern der einen bestehen. Diese beiden Damen waren die wichtigsten Mitglieder eines neuen, adelsstolzen Petersburger Kreises, der in Nachahmung einer Nachahmung les sept merveilles du monde genannt wurde. Der Kreis, dem diese Damen angehörten, war allerdings sehr hoch, stand aber dem, wo Anna zu verkehren pflegte, durchaus feindlich gegenüber. Außerdem war der alte Stremow, der Verehrer von Lisa Merkalowa und einer der einflußreichsten Männer in Petersburg, auf dem Gebiete der amtlichen Tätigkeit ein Gegner Alexei Alexandrowitschs. Aus allen diesen Gründen hatte Anna ursprünglich nicht hinkommen wollen, und auf diese ihre ablehnende Antwort bezogen sich die Andeutungen in dem Schreiben der Fürstin Twerskaja. Jetzt aber beabsichtigte Anna, in der Hoffnung, Wronski dort zu treffen, doch hinzufahren.

 

Anna kam bei der Fürstin Twerskaja früher an als die anderen Gäste.

In dem Augenblicke, als sie ins Haus trat, wollte gerade auch Wronskis Diener hineingehen, der mit seinem nach beiden Seiten auseinandergekämmten Backenbarte wie ein Kammerjunker aussah. Er blieb an der Tür stehen, nahm die Mütze ab und ließ sie vorangehen. Anna erkannte ihn, und erst jetzt fiel ihr ein, daß ja Wronski am vorhergehenden Tage gesagt hatte, er werde nicht hinkommen. Wahrscheinlich enthielt das Schreiben, das er durch den Diener schickte, seine Absage.

Während sie im Vorzimmer ablegte, hörte sie, wie der Diener, der sogar das R wie ein Kammerjunker aussprach, sagte: »Vom Grafen für die Fürstin«, und das Schreiben übergab.

Sie hätte ihn gern gefragt, wo sein Herr sei. Sie wäre gern wieder umgekehrt und hätte ihm einen Brief geschrieben, daß er zu ihr kommen möchte, oder wäre auch selbst zu ihm gefahren. Aber weder das eine noch das andere noch das dritte ließ sich ausführen: denn schon erscholl vorn das Glockenzeichen, das ihre Ankunft ankündigte, und ein Diener der Fürstin Twerskaja stand schon halb zugewandt an der geöffneten Tür und wartete darauf, daß sie in die inneren Gemächer einträte.

»Die Frau Fürstin befindet sich im Garten; es wird bereits gemeldet. Ist es vielleicht gefällig, sich in den Garten zu begeben?« meldete ein zweiter Diener im zweiten Zimmer.

Sie fühlte sich hier ganz ebenso unentschlossen und unklar wie zu Hause; ja dieser Zustand war hier sogar insofern noch schlimmer, als sie nichts unternehmen, nicht mit Wronski zusammenkommen konnte, sondern sich hier in einer fremden, zu ihrer Gemütsverfassung so wenig stimmenden Gesellschaft bewegen mußte; aber sie war in einem Kleide, das, wie sie wußte, ihr gut stand; sie war nicht allein, sondern fand sich mitten in diesem gewohnten prunkenden Getriebe des Müßigganges: und deshalb war ihr leichter zumute als zu Hause. Sie brauchte hier nicht darüber nachzudenken, was sie tun müsse. Alles machte sich ganz von selbst. Als Betsy ihr in einem weißen Kleide entgegenkam, von dessen vornehmem Geschmack sie überrascht war, lächelte ihr Anna zu wie immer. Begleitet wurde die Fürstin Twerskaja von Tuschkewitsch und einer mit ihr verwandten jungen Dame, die zur höchsten Glückseligkeit ihrer in der Provinz lebenden Eltern den Sommer bei der berühmten Fürstin verleben durfte.

Anna mußte wohl irgend etwas Besonderes in ihrem Wesen haben, da Betsy es sogleich bemerkte.

»Ich habe schlecht geschlafen«, antwortete Anna auf Betsys Frage und blickte nach dem Diener, der auf die Herrschaften zukam und, wie sie vermutete, Wronskis Brief brachte.

»Wie freue ich mich, daß Sie gekommen sind«, sagte Betsy. »Ich fühle mich so müde und wollte eben eine Tasse Tee trinken, bevor meine Gäste kommen. Sie könnten ja«, wandte sie sich zu Tuschkewitsch, »inzwischen mit Mascha hingehen und den croquetground probieren, da, wo der Rasen geschoren ist. Und wir beide haben noch Zeit, nach Herzenslust ein bißchen beim Tee zu plaudern, we'll have a cosy chat, nicht wahr?« wandte sie sich lächelnd zu Anna und drückte ihr die Hand, in der diese den Sonnenschirm hielt.

»Um so mehr, da ich nicht lange bei Ihnen bleiben kann; ich muß unbedingt noch zu der alten Wrede; ich habe es ihr schon seit hundert Jahren versprochen«, erwiderte Anna, der das Lügen, wiewohl ihrem eigentlichen Wesen fremd, im gesellschaftlichen Verkehr nicht nur geläufig und natürlich geworden war, sondern sogar einen gewissen Genuß bereitete. Warum sie das sagte, woran sie doch eine Sekunde vorher noch nicht gedacht gehabt hatte, das hätte sie nicht erklären können. Sie hatte dabei nur den Gedanken gehabt: da Wronski nicht hierherkommen werde, so müsse sie sich Freiheit bewahren und den Versuch machen, ihn sonst irgendwie zu treffen. Aber warum sie gerade das alte Hoffräulein Wrede genannt hatte, bei der ein Besuch gleich dringlich oder gleich wenig dringlich war wie bei vielen anderen, dafür hätte sie keine Erklärung zu geben gewußt. Und doch hätte sie, wie sich später herausstellte, und wenn sie auch nach den schlausten Mitteln zu einer Zusammenkunft mit Wronski gesucht hätte, kein besseres ersinnen können.

»Nein, unter keinen Umständen lasse ich Sie fort«, antwortete Betsy und blickte ihr dabei forschend ins Gesicht. »Wirklich, wenn ich Sie nicht so lieb hätte, würde ich es Ihnen übelnehmen, daß Sie fort wollen. Das sieht ja gerade aus, als ob Sie fürchteten, durch die Gesellschaft, die Sie bei mir finden, bloßgestellt zu werden. Bitte, den Tee für uns in den kleinen Salon!« sagte sie zu dem Diener und kniff dabei die Augen zusammen, wie sie das im Verkehr mit der Dienerschaft stets tat.

Sie nahm ihm den Brief ab und las ihn durch.

»Da spielt uns Alexei einen Streich«, sagte sie auf französisch. »Er schreibt, er könne nicht kommen«, fügte sie in so natürlichem, harmlosem Tone hinzu, als könnte es ihr überhaupt nie in den Sinn kommen zu glauben, daß Anna, abgesehen vom Krocketspiel, an Wronski irgendwelches Interesse nähme. Anna wußte, daß Betsy vollständig unterrichtet war; aber wenn sie hörte, in welcher Weise Betsy in ihrer Gegenwart über Wronski sprach, so bildete sie sich immer einen Augenblick ein, daß jene nichts wisse.

»Ah!« machte Anna gleichgültig, als ob sie das wenig interessiere, und fuhr dann lächelnd fort: »Wie kann die Gesellschaft, die man bei Ihnen findet, jemanden bloßstellen!«

Dieses Spiel mit Worten, dieses Verbergen eines Geheimnisses hatte, wie für alle Frauen, so auch für Anna einen großen Reiz. Und das Reizvolle lag dabei nicht in irgendwelcher Notwendigkeit, etwas zu verstecken, auch nicht in irgendwelchem Zwecke, der mit dem Verstecken verfolgt worden wäre, sondern in der Handlung des Versteckens selbst.

»Wozu sollte ich katholischer sein als der Papst?« antwortete Betsy. »Stremow und Lisa Merkalowa, die sind ja die crème de la crème in der guten Gesellschaft. Und dann verkehren sie doch auch überall, und ich (sie legte auf dieses ›ich‹ einen besonderen Nachdruck), ich bin niemals streng und unduldsam gewesen. Dazu habe ich einfach keine Zeit. Aber Sie mögen vielleicht nicht gerne mit Stremow zusammentreffen? Lassen wir doch ruhig ihn und Alexei Alexandrowitsch in den Komiteesitzungen ihre Fehde auskämpfen; uns geht das ja nichts an. Aber in Gesellschaft ist er der liebenswürdigste Mensch, den ich überhaupt kenne, und ein leidenschaftlicher Krocketspieler. Sie werden es ja selbst sehen. Und trotz seiner komischen Stellung als bejahrter Anbeter Lisas ist es sehenswert, wie er sich aus dieser komischen Lage herauswickelt! Er ist ein sehr netter Mensch. Sappho Stoltz kennen Sie nicht? Das ist ein neuer, ganz neuer Typ.«

Während Betsy all dies herredete, merkte Anna an ihrem lustigen, klugen Blicke, daß sie ihre Gemütsverfassung zum Teil verstand und irgend etwas im Schilde führte. Sie befanden sich augenblicklich in Betsys kleinem Arbeitszimmer.

»Ich muß aber doch noch an Alexei schreiben«, sagte Betsy, setzte sich an den Tisch, schrieb ein paar Zeilen und steckte das Blatt in einen Umschlag. »Ich habe ihm geschrieben, er möchte zum Mittagessen kommen; es fehle mir heute mittag für eine Dame ein Tischherr. Wollen Sie einmal zusehen, ob ich wohl dringlich genug geschrieben habe, um ihn zu überreden? Verzeihen Sie, daß ich Sie für einen Augenblick verlasse. Bitte, kleben Sie dann den Brief zu und schicken Sie ihn ab«, sagte sie noch von der Tür aus; »ich muß noch einiges anordnen.«

Ohne sich einen Augenblick zu besinnen, setzte sich Anna mit Betsys Briefe an den Tisch und schrieb, ohne ihn zu lesen, darunter: »Ich muß Sie notwendig sprechen. Kommen Sie in den Wredeschen Park. Ich werde um sechs Uhr da sein.« Sie klebte den Brief zu, und Betsy, die gerade zurückkam, gab ihn in ihrer Gegenwart einem Diener zur Beförderung.

Beim Tee, der ihnen auf einem Tischchen in den kühlen kleinen Salon gebracht wurde, entspann sich wirklich zwischen den beiden Damen a cosy chat, wie es die Fürstin Twerskaja für die Zeit bis zur Ankunft der Gäste versprochen hatte. Sie hechelten die Personen, die erwartet wurden, durch, und das Gespräch drehte sich besonders lange um Lisa Merkalowa.

»Sie ist sehr liebenswürdig und ist mir immer sympathisch gewesen«, bemerkte Anna.

»Sie verdient auch Ihre Zuneigung. Sie ist von Ihnen geradezu entzückt. Gestern kam sie nach dem Rennen zu mir und war in Verzweiflung, Sie nicht mehr anzutreffen. Sie sagte, Sie seien eine richtige Romanheldin, und wenn sie ein Mann wäre, so würde sie um Ihretwillen tausend Torheiten begehen, Stremow erwiderte ihr, die begehe sie auch so schon.«

»Aber sagen Sie mir nur, bitte, ich habe das nie verstehen können«, hob Anna nach einer kleinen Pause an, und zwar in einem Tone, der deutlich erkennen ließ, daß sie nicht eine müßige Frage tat, sondern daß das, wonach sie fragte, ihr wichtiger war, als es hätte sein sollen, »sagen Sie mir, bitte, von welcher Art ist eigentlich ihr Verhältnis zu dem Fürsten Kaluschski oder Mischka, wie er genannt wird? Ich bin beiden in der Gesellschaft nur wenig begegnet. Wie steht es damit?«

Betsy lächelte mit den Augen und blickte Anna scharf an.

»Das ist so eine neue Mode«, antwortete sie. »Alle unsere Damen haben sich für diese Mode entschieden. Sie lassen sich nicht mehr durch engherzige Rücksichten einschränken. Aber dabei kann man freilich sehr verschieden verfahren.«

»Gewiß. Aber von welcher Art sind denn ihre Beziehungen zu Kaluschski?«

Betsy konnte sich nicht halten und brach plötzlich in ein lustiges Gelächter aus, was bei ihr nur selten vorkam.

»Da pfuschen Sie aber der Fürstin Mjachkaja ins Handwerk. Das ist eine furchtbar kindliche Frage.« Betsy gab sich offenbar Mühe, sich zu beherrschen, vermochte es aber nicht und geriet in ein solches unhemmbares Lachen hinein, wie es gerade Menschen, die nur selten lachen, eigen ist. »Sie müssen einmal die beiden selbst fragen«, sagte sie und lachte dabei so, daß ihr die Tränen kamen.

»Ja, Sie lachen«, sagte Anna, bei der das Lachen unwillkürlich ansteckend wirkte. »Aber ich habe nie daraus klug werden können. Ich verstehe nicht, welche Rolle der Gatte dabei spielt.«

»Der Gatte? Lisa Merkalowas Gatte trägt ihr den Schal und das Tuch nach und ist immer liebenswürdig und dienstfertig gegen sie. Aber was da noch weiter im tieferen Grunde liegt, das begehrt niemand zu wissen. Sie wissen, von manchen Einzelheiten der Kleidung spricht man in guter Gesellschaft nicht, ja, man denkt an dergleichen nicht einmal. So ist es auch mit solchen Beziehungen.«

»Werden Sie auf dem Feste bei Rolandakis sein?« fragte Anna, um das Gespräch auf einen anderen Gegenstand zu bringen.

»Ich glaube nicht«, antwortete Betsy und begann, ohne ihre Freundin anzublicken, vorsichtig den duftenden Tee in die kleinen, durchschimmernden Tassen zu gießen. Nachdem sie Anna eine Tasse hingeschoben hatte, holte sie eine Pajilla hervor, steckte sie in ein silbernes Mundstück und rauchte.

»Ja, sehen Sie wohl, ich befinde mich in einer glücklichen Lage«, begann sie, indem sie die Tasse in die Hand nahm; sie lachte jetzt nicht mehr. »Ich verstehe Sie, und ich verstehe Lisa. Lisa, das ist eine von jenen naiven Naturen, die wie die Kinder nicht wissen, was gut und was böse ist. Wenigstens hat sie es nicht gewußt, als sie noch sehr jung war. Und jetzt weiß sie, daß dieses Nichtwissen ihr gut steht. Jetzt ist sie vielleicht absichtlich unwissend«, sagte Betsy mit feinem Lächeln. »Aber trotzdem steht es ihr gut. Sehen Sie, man kann dieselbe Sache herzzerreißend anschauen und sich aus ihr eine Marter machen, und man kann sie auch ganz einfach und sogar von der heiteren Seite ansehen. Vielleicht neigen Sie dazu, die Dinge allzu erschütternd aufzufassen.«

»Wie sehr würde ich wünschen, andere Menschen so genau zu kennen, wie ich mich selbst kenne«, sagte Anna ernst und nachdenklich. »Bin ich schlechter als andere oder besser? Ich glaube, schlechter.«

»Das richtige Kind! Das richtige Kind!« rief Betsy aus. – »Aber da sind sie ja.«