Anna Karenina | Krieg und Frieden

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21

»Ich wollte dich eben holen. Deine große Wäsche hat ja heute lange gedauert«, sagte Petrizki. »Na, alles erledigt?«

»Jawohl«, erwiderte Wronski; er lächelte nur mit den Augen und drehte die Enden seines Schnurrbartes mit solcher Vorsicht, als ob die schöne Ordnung, die er in seinen Angelegenheiten hergestellt habe, durch jede allzu heftige, schnelle Bewegung wieder zerstört werden könne.

»Nach dieser Arbeit bist du immer in einer Verfassung, wie wenn du aus dem Dampfbade kämest«, sagte Petrizki. »Ich komme von Grizka (dies war der Spitzname des Regimentskommandeurs); du wirst da erwartet.«

Wronski sah seinen Kameraden an, ohne zu antworten; er hatte ganz andere Gedanken.

»Ist denn da Musik bei ihm?« fragte er, indem er nach den wohlbekannten Tönen der Baßtrompeten horchte, die zu ihnen herüberklangen; es wurde gerade ein Walzer gespielt. »Was ist da für ein Fest?«

»Serpuchowskoi ist hergekommen.«

»Ah!« machte Wronski. »Das hatte ich ja gar nicht gewußt.«

Seine lächelnden Augen leuchteten noch heller auf.

Nachdem er einmal innerlich als Tatsache festgestellt hatte, daß seine Liebe ihn vollständig glücklich mache und er ihr seinen Ehrgeiz zum Opfer gebracht habe (wenigstens hatte er diese Rolle für sich geschaffen), so konnte er keinen Neid gegen Serpuchowskoi empfinden und sich auch nicht darüber ärgern, daß dieser bei dem Besuche, den er dem Regimente machte, nicht zuallererst zu ihm gekommen war. Serpuchowskoi war sein guter Freund, und er freute sich aufrichtig darauf, ihn wiederzusehen.

»Oh, das freut mich aber wirklich.«

Der Regimentskommandeur Demin bewohnte ein großes, herrschaftliches Haus. Die ganze Gesellschaft befand sich auf der geräumigen Terrasse. Auf dem Hofe waren das erste, was Wronski auffiel, die Regimentssänger, die in Kitteln bei einem Schnapsfäßchen standen, und die gesunde, fröhliche Gestalt des Regimentskommandeurs, der von Offizieren umgeben war. Er war gerade auf die erste Stufe der Terrasse vorgetreten, gab mit einer so lauten Stimme, daß er die von der Musik gespielte Offenbachsche Quadrille übertönte, einen Befehl und winkte einigen etwas zur Seite stehenden Soldaten mit der Hand. Dieser kleine Trupp Soldaten, darunter ein Wachtmeister und einige Unteroffiziere, ging zusammen mit Wronski zu der Terrasse hin. Der Regimentskommandeur ging zum Tische zurück, trat dann mit einem Sektglase in der Hand wieder an die Freitreppe hinaus und brachte einen Trinkspruch aus: »Auf die Gesundheit unseres früheren Kameraden, des tapferen Generals Fürsten Serpuchowskoi! Hurra!«

Nach dem Regimentskommandeur trat mit dem Glase in der Hand auch Serpuchowskoi lächelnd vor.

»Du wirst ja immer jünger, Bondarenko«, wendete er sich an den gerade vor ihm stehenden strammen, rotbackigen Wachtmeister, der über seine Zeit hinaus beim Regimente weiterdiente.

Wronski hatte seinen Freund drei Jahre lang nicht gesehen. Dieser war in seiner äußeren Erscheinung männlicher geworden, schon durch den Backenbart, den er sich hatte stehenlassen; aber er war noch ebenso schlank und überraschte noch ganz wie früher nicht sowohl durch Schönheit wie durch die Zartheit und Vornehmheit seiner Gesichtszüge und seines Körperbaues. Die einzige Veränderung, die Wronski an ihm bemerkte, war jenes stille, beständige Leuchten, das auf den Gesichtern solcher Leute heimisch zu sein pflegt, die im Leben Erfolg haben und überzeugt sind, daß alle diesen Erfolg als wohlverdient anerkennen. Wronski kannte dieses Leuchten, und es fiel ihm sofort bei Serpuchowskoi auf.

Als Serpuchowskoi die Treppe herunterstieg, erblickte er Wronski, und ein frohes Lächeln erhellte sein Gesicht. Er nickte ihm durch eine Bewegung des Kopfes nach oben zu und erhob das Glas, indem er Wronski begrüßte und zugleich durch diese Geste andeutete, daß er unbedingt zuerst zu dem Wachtmeister hingehen müsse, der in strammer dienstlicher Haltung dastand und schon seine Lippen für den erwarteten Kuß in Bereitschaft setzte.

»Na, da ist er ja!« rief der Regimentskommandeur. »Und Jaschwin hatte mir schon gesagt, du wärst wieder mal in deiner finsteren Stimmung!«

Serpuchowskoi küßte den forschen Wachtmeister auf die feuchten, frischen Lippen, wischte sich den Mund mit dem Taschentuche ab und trat zu Wronski.

»Na, das ist mir mal eine Freude!« sagte er, drückte ihm die Hand und führte ihn ein wenig zur Seite.

»Sorgt für sein leibliches Wohl!« rief der Regimentskommandeur dem Rittmeister Jaschwin zu, indem er auf Wronski deutete, und ging zu den Soldaten hinunter.

»Warum warst du gestern nicht beim Rennen?« fragte Wronski, während er Serpuchowskoi mit lebhaftem Interesse betrachtete. »Ich hatte gehofft, dich da zu sehen.«

»Ich bin dagewesen, kam aber erst ziemlich spät. Entschuldige«, fügte er hinzu und wandte sich zu seinem Adjutanten: »Bitte, lassen Sie dies in meinem Namen unter die Leute verteilen, soviel wie auf den Mann kommt.«

Er holte eilig aus seiner Brieftasche drei Hundertrubelscheine heraus und wurde ganz rot dabei.

»Wronski! Möchtest du etwas essen oder trinken?« fragte Jaschwin. »Heda! Bring mal für den Grafen etwas zu essen her! Und hier, nimm, trink!«

Das Trinkgelage bei dem Regimentskommandeur zog sich recht lange hin.

Es wurde sehr viel getrunken. Die Offiziere schaukelten, als besondere Ehrenbezeigung, Serpuchowskoi auf den Armen, warfen ihn in die Höhe und fingen ihn wieder auf. Dann wurde dem Regimentskommandeur dieselbe Ehre erwiesen. Dann tanzte der Regimentskommandeur selbst mit Petrizki nach einer von den dabeistehenden Regimentssängern gesungenen Weise. Dann setzte sich der Regimentskommandeur, der schon etwas matt geworden war, auf dem Hofe auf eine Bank und begann dem Rittmeister Jaschwin Rußlands Überlegenheit über Preußen, namentlich in der Kavallerieattacke, auseinanderzusetzen, und die Trinker verhielten sich eine kurze Zeit ruhig. Serpuchowskoi ging ins Haus, ins Ankleidezimmer, um sich die Hände zu waschen, und fand dort Wronski, der sich mit Wasser bespülte. Er hatte die Litewka ausgezogen, hielt seinen haarigen, roten Hals unter den Wasserstrahl der Wascheinrichtung und rieb Hals und Kopf kräftig mit den Händen. Als er mit dieser Waschung fertig war, setzte er sich zu Serpuchowskoi gleich dort im Ankleidezimmer auf ein kleines Sofa, und es entspann sich nun zwischen ihnen ein Gespräch, das sie beide sehr interessierte.

»Ich habe stets genaue Nachrichten über dich durch meine Frau erhalten«, sagte Serpuchowskoi. »Ich freue mich sehr, daß du sie öfters besucht hast.«

»Sie ist mit Warja befreundet, und das sind die beiden einzigen Damen in Petersburg, mit denen es mir Vergnügen macht zu verkehren«, antwortete Wronski lächelnd. Er lächelte, weil er vorausgesehen hatte, welchem Thema sich das Gespräch zuwenden würde, und freute sich, dies richtig beurteilt zu haben.

»Die einzigen?« fragte Serpuchowskoi lächelnd.

»Auch ich habe viel von dir gehört, aber nicht durch deine Frau«, versetzte Wronski und wies durch die ernste Miene, die er auf einmal machte, diese Anspielung zurück. »Ich habe mich sehr über deinen Erfolg gefreut; aber ich habe mich darüber in keiner Weise gewundert; ich hatte sogar noch mehr erwartet.«

Serpuchowskoi lächelte. Es machte ihm offenbar Vergnügen, ein solches Urteil über sich zu hören, und er hielt nicht für nötig, das zu verbergen.

»Ich habe, im Gegenteil, offen gestanden, weniger erwartet. Aber ich freue mich, sehr freue ich mich. Ich bin ehrgeizig; das ist eine Schwäche von mir, deren ich mich schuldig bekenne.«

»Vielleicht würdest du sie nicht bekennen, wenn du keinen Erfolg gehabt hättest«, erwiderte Wronski.

»Das mag wohl sein«, antwortete Serpuchowskoi wieder lächelnd. »Ich will nicht sagen, daß es sich ohne Ehrgeiz überhaupt nicht verlohnte zu leben; aber es wäre dann doch eine langweilige Sache. Natürlich kann ich mich darin vielleicht irren, aber ich möchte doch meinen, daß ich eine gewisse Befähigung für den Wirkungskreis besitze, den ich mir ausgewählt habe, und daß die Macht zu wirken – wieviel auch immer mir davon zufallen mag, wenn mir überhaupt etwas davon zufällt – besser in meinen Händen ruhen wird als in den Händen vieler anderer Leute, die ich kenne«, sagte Serpuchowskoi, strahlend im Bewußtsein seines Erfolges. »Und darum bin ich um so zufriedener, je näher ich einem Platze komme, der mir eine größere Wirksamkeit gestattet.«

»Das ist vielleicht für dich zutreffend, aber nicht für alle. Ich habe früher ebenso gedacht; aber nun lebe ich so ganz einfach dahin und finde, daß es nicht lohnt, lediglich für den Ehrgeiz zu leben«, entgegnete Wronski.

»Du haben wir's, da haben wir's!« antwortete Serpuchowskoi lachend. »Ich habe bereits gehört, was du getan hast, daß du eine Stelle abgelehnt hast ... Selbstverständlich hattest du dabei meinen Beifall. Aber es hat doch alles so seine besondere Art, in der es getan sein will. Und da glaube ich, daß der Schritt, den du getan hast, an sich gut war, daß du ihn aber nicht in zweckmäßiger Weise getan hast.«

»Was getan ist, ist getan, und du weißt, ich verleugne nie etwas, was ich einmal getan habe. Und dann befinde ich mich ja auch durchaus wohl dabei.«

»Durchaus wohl – eine Zeitlang. Aber lebenslänglich wird dir das keine Befriedigung gewähren. Deinem Bruder würde ich das nicht sagen. Der ist ein artiges Kind, so wie unser Wirt hier. Da muß er sein!« fügte er hinzu, auf das Hurrarufen horchend. »Er fühlt sich dabei wohl; aber dich kann das nicht befriedigen.«

»Das sage ich ja auch nicht, daß mich das befriedigt.«

»Ja, und das ist noch nicht alles. Solche Leute wie dich haben wir nötig.«

 

»Wer hat sie nötig?«

»Wer sie nötig hat? Der Staat, Rußland. Rußland hat solche Leute nötig, eine Partei von solchen Leuten; sonst geht bei uns alles in die Brüche.«

»Was meinst du damit? Die Bertenewsche Partei zur Bekämpfung der russischen Kommunisten?«

»Nein«, antwortete Serpuchowskoi und runzelte die Stirn vor Ärger darüber, daß ihm jemand eine solche Dummheit zutraute. »Tout ça est une blague. Das war immer so und wird immer so bleiben. Kommunisten gibt es gar nicht. Aber ränkesüchtige Leute müssen sich immer eine schädliche, gefährliche Partei erfinden, um sie zu bekämpfen. Das ist ein alter Kunstgriff. Nein, wir brauchen eine obrigkeitliche Partei von unabhängigen Männern wie dich und mich.«

»Aber warum sind denn ...«, hier nannte Wronski einige Männer in hohen obrigkeitlichen Stellungen, »warum sind die denn keine unabhängigen Leute?«

»Nur deswegen, weil sie die Unabhängigkeit, die man eigenem Vermögen verdankt, entweder nicht besitzen oder wenigstens nicht von ihrer Geburt an besessen haben, namentlich nicht besessen haben, nicht wie wir in der Nähe der Sonne geboren sind. Sie lassen sich entweder durch Geld oder durch Schmeichelei erkaufen. Und um sich behaupten zu können, müssen sie sich irgendeine Tendenz ersinnen. Und so suchen sie denn irgendeine Ansicht, eine Tendenz durchzuführen, an deren Richtigkeit sie selbst nicht glauben und die nur Unheil stiftet. Und diese ganze Tendenz ist ihnen nur ein Mittel dazu, eine Dienstwohnung und soundso viel Gehalt zu bekommen. Cela n'est pas plus fin que ça, wenn man ihnen in die Karten blickt. Vielleicht bin ich minderwertiger, dümmer als sie, wiewohl ich eigentlich nicht absehen kann, warum ich minderwertiger als sie sein sollte. Aber ich und du, wir haben jedenfalls von vornherein einen wesentlichen Vorzug vor ihnen: daß wir schwerer zu kaufen sind. Und solche Männer sind heutzutage mehr als sonst in Rußland nötig.«

Wronski hörte aufmerksam zu; aber was ihn interessierte, war nicht sowohl der Inhalt dieser Worte als vielmehr die Stellung, die Serpuchowskoi den bestehenden Zuständen gegenüber einnahm: daß er bereits an einen Kampf mit den Inhabern der Regierungsgewalt dachte und auf diesem hochwichtigen Gebiete schon seine Sympathien und Antipathien hatte, während für ihn selbst in seiner dienstlichen Tätigkeit nur die Interessen seiner Schwadron vorhanden waren. Wronski war sich auch darüber klar, welche persönliche Macht Serpuchowskoi besaß durch seine zweifellose Befähigung, die Sachen zu durchdenken und zu erfassen, durch seinen Verstand und durch eine rednerische Begabung, wie sie in dem Kreise, in dem er lebte, nur selten vorkommt. Und wie sehr Wronski sich auch dieses Gefühles schämte, er beneidete ihn.

»Es fehlt mir aber doch dazu ein Haupterfordernis«, antwortete er. »Es fehlt mir das Streben nach Macht. Dieses Streben habe ich früher einmal gehabt; aber es ist vergangen.«

»Verzeih, aber das ist nicht wahr«, erwiderte Serpuchowskoi lächelnd.

»Doch, es ist wahr, es ist wahr! Um aufrichtig zu sein, will ich hinzusetzen: jetzt«, fügte Wronski hinzu.

»Ja, jetzt ist es wahr; das ist eine andere Sache; aber dieses Jetzt wird bei dir nicht lebenslänglich dauern.«

»Kann sein«, antwortete Wronski.

»Du sagst ›kann sein‹«, fuhr Serpuchowskoi fort, als wenn er Wronskis Gedanken erraten hätte, »ich aber sage dir: bestimmt. Und ebendeswegen hatte ich gern mit dir sprechen wollen. Du hast so gehandelt, wie du handeln mußtest. Dafür habe ich durchaus Verständnis; aber du darfst nicht eigensinnig sein. Ich bitte dich nur um carte blanche. Ich werde dich nicht begünstigen ... Wiewohl – warum sollte ich dich eigentlich nicht auch begünstigen? Wie oft hast du mich begünstigt! Ich hoffe, unsere Freundschaft ist über solche Bedenklichkeiten erhaben. Ja«, sagte er und lächelte ihm ordentlich zärtlich, wie eine Frau, zu. »Gib mir carte blanche und tritt aus dem Regimente aus; dann werde ich dich schon unvermerkt in das richtige Geleise bringen.«

»Aber so begreife doch nur, daß ich gar kein Verlangen danach habe«, antwortete Wronski. »Mein einziger Wunsch ist, daß alles bleiben möge, wie es bisher gewesen ist.«

Serpuchowskoi stand auf und stellte sich gerade vor ihn hin.

»Du sagst, alles möge bleiben wie bisher. Ich verstehe, was für ein Sinn dahinter steckt. Aber höre: wir sind gleichaltrig; vielleicht hast du der Zahl nach mehr Frauen kennengelernt als ich.« Durch sein Lächeln und seine Handbewegungen gab Serpuchowskoi zu verstehen, Wronski habe nichts zu befürchten; er werde den wunden Punkt nur ganz zart und vorsichtig berühren. »Aber ich bin verheiratet, und glaube mir (ich habe das auch irgendwo gedruckt gelesen), wenn man nur seine eigene Frau, die man liebt, kennengelernt hat, so kennt man dadurch die Frauen in ihrer Gesamtheit besser, als wenn man ihrer Tausende kennengelernt hätte.«

»Wir kommen sofort!« rief Wronski einem Offizier zu, der in das Zimmer hineinblickte und sie zum Regimentskommandeur rief.

Wronski wollte jetzt gern zu Ende hören, um zu erfahren, was Serpuchowskoi ihm eigentlich zu sagen beabsichtige.

»Und siehst du, meine Ansicht ist die. Die Frauen sind der hauptsächlichste Stein des Anstoßes für das Wirken des Mannes. Es ist schwer, ein Weib zu lieben und sich dabei irgendwelcher ernsten Tätigkeit zu widmen. Um wirken und dabei zugleich behaglich und ungestört lieben zu können, dazu gibt es nur ein Mittel: die Ehe. Wenn ich dir nur deutlich ausdrücken könnte, was ich meine«, sagte Serpuchowskoi, der gern Bilder und Vergleiche anwendete, »warte mal, warte mal! Wie man ein fardeau zu tragen und dabei doch etwas mit den Händen zu tun nur dann imstande ist, wenn das fardeau auf dem Rücken festgebunden ist, so ist das auch mit der Ehe. Und das habe ich an mir selbst empfunden, als ich mich verheiratet hatte. Auf einmal waren mir die Hände frei geworden. Aber wenn man ohne Ehe dieses fardeau mit sich umherschleppt, dann hat man beide Hände so voll, daß man nichts anderes tun kann. Sieh nur Masankow und Krupow an. Sie haben sich um der Weiber willen ihre ganze Laufbahn verdorben.«

»Aber was waren das auch für Weiber!« rief Wronski, da er an die Französin und an die Schauspielerin dachte, mit denen die beiden genannten Männer Verhältnisse hatten.

»Die Sache ist um so schlimmer, je fester die Stellung einer Frau in der Gesellschaft ist; um so schlimmer. Das ist dann so, wie wenn man das fardeau nicht einfach mit den Händen zu tragen hat, sondern es einem andern wegreißen muß.«

»Du hast nie geliebt«, sagte Wronski leise. Er blickte gerade vor sich hin und dachte an Anna.

»Kann sein. Aber denke an das, was ich dir gesagt habe. Und noch eins: die Frauen haben sämtlich eine materiellere Anschauungsweise als die Männer. Wir machen uns aus der Liebe ein gewaltiges Ideal; aber sie sind immer terre à terre.«

»Gleich, gleich!« rief er einem eintretenden Diener zu. Aber der Diener war nicht gekommen, um sie nochmals zu rufen, wie Serpuchowskoi gedacht hatte. Er brachte einen Brief für Wronski.

»Ein Diener der Fürstin Twerskaja hat dies für Sie gebracht.« Wronski öffnete den Brief und wurde dunkelrot.

»Ich habe Kopfschmerzen bekommen und möchte nach Hause gehen«, sagte er zu Serpuchowskoi.

»Na, also dann auf Wiedersehn! Gibst du mir carte blanche?«

»Wir können später noch darüber reden; ich besuche dich in Petersburg.«

22

Es war schon zwischen fünf und sechs Uhr; um daher rechtzeitig hinzukommen und dabei doch nicht mit seinen eigenen Pferden zu fahren, die allen Leuten bekannt waren, setzte sich Wronski in Jaschwins Mietskutsche und befahl dem Kutscher, so schnell wie irgend möglich zu fahren. Die alte viersitzige Mietskutsche war sehr geräumig; er setzte sich in eine Ecke, legte die Beine auf den Vordersitz und überließ sich seinen Gedanken.

Ein dunkles Bewußtsein, daß er seine Geldangelegenheit ins klare gebracht hatte, eine dunkle Erinnerung an das freundschaftliche Benehmen und die schmeichelhaften Äußerungen Serpuchowskois, der ihn als einen Mann betrachtete, den der Staat notwendig brauche, und vor allem die Spannung auf das bevorstehende Stelldichein: alles floß bei ihm zu dem allgemeinen Gefühle der Lebensfreude zusammen. Dieses Gefühl war so stark, daß er unwillkürlich lächelte. Er nahm die Beine von dem Sitze herunter, legte das eine auf das Knie des andern, befühlte die straffe Wade des Beines, das er sich gestern bei dem Sturze verletzt hatte, lehnte sich dann zurück und seufzte mehrmals mit ganzer Brust.

›Gut, sehr gut!‹ sagte er zu sich selbst. Auch früher war er sich oft der Gesundheit und Kraft seines Körpers mit lebhafter Freude bewußt gewesen; aber noch niemals hatte er sich selbst, seinen Körper, so geliebt wie gerade jetzt. Es machte ihm Vergnügen, diesen leichten Schmerz in dem kräftigen Beine zu empfinden; es machte ihm Vergnügen, die Bewegungen seiner Brustmuskeln beim Atmen zu fühlen. Derselbe klare, kalte Augusttag, der dazu beitrug, Anna in eine hoffnungslose Stimmung zu versetzen, wirkte auf ihn ermunternd und belebend und erfrischte ihm Gesicht und Hals, die ihm von dem Übergießen mit Wasser brannten. Der Geruch der Brillantine in seinem Schnurrbart war ihm in dieser frischen Luft besonders angenehm. Alles, was er durch das Wagenfenster sah, alles erschien ihm in dieser kalten, reinen Luft, in dieser blassen Abendbeleuchtung ebenso frisch, heiter und kräftig, wie er selbst es war: die Hausdächer, die in den Strahlen der sinkenden Sonne glänzten, und die scharfen Umrisse der Zäune und Gebäude und die Gestalten der ihm ab und zu begegnenden Fußgänger und Geschirre und das von keinem Lufthauche bewegte grüne Laub der Bäume und Gras der Wiesen und die Kartoffelfelder mit den regelmäßig gezogenen Furchen und die schrägen Schatten, welche die Häuser und die Bäume und die Sträucher und sogar die erhöhten Streifen zwischen den Furchen der Kartoffelfelder warfen, alles war so hübsch wie ein nettes Landschaftsgemälde, das soeben fertiggestellt und lackiert ist.

»Fahr tüchtig zu!« rief er, sich aus dem Fenster beugend, dem Kutscher zu und reichte ihm, als er sich umwandte, einen Dreirubelschein, den er schon vorher aus der Tasche geholt hatte. Die Hand des Kutschers tastete nach der bei der Wagenlaterne steckenden Peitsche; ein energischer Hieb klatschte, und der Wagen rollte schnell auf der ebenen Chaussee dahin.

›Nichts brauche ich weiter als dieses Glück, nichts weiter‹, dachte er. Er blickte dabei nach dem knöchernen Klingelgriff in dem Zwischenraum zwischen den beiden Vorderfenstern und vergegenwärtigte sich Anna in der Gestalt, wie er sie das letztemal gesehen hatte. ›Und ich liebe sie je länger, je mehr. Da ist ja auch der Park, wo die Hofdame ihre Dienstwohnung hat. Wo ist denn Anna? Wo denn? Und warum hat sie die Zusammenkunft hier anberaumt, und warum schreibt sie in einem Briefe Betsys?‹ Erst jetzt fiel ihm dies ein; aber er hatte keine Zeit mehr zum Nachdenken. Er hieß den Kutscher halten, noch ehe sie die Allee erreicht hatten, öffnete den Schlag, sprang noch im Fahren aus dem Wagen und ging in die Allee, die nach dem Hause führte. In der Allee war niemand; aber als er nach rechts schaute, erblickte er Anna. Ihr Gesicht war mit einem Schleier bedeckt; aber mit freudigem Blicke umfaßte er die besondere, ihr allein eigene Bewegung beim Gehen, die Neigung der Schultern und die Haltung des Kopfes und hatte in demselben Augenblicke die Empfindung, als ob ihm ein elektrischer Schlag durch den Körper ginge. Von neuem wurde er sich seiner eigenen Kraft und Gesundheit bewußt, von den federnden Bewegungen der Beine bis zu den Bewegungen der Lunge beim Atmen und er hatte ein Gefühl, wie wenn ihm etwas die Lippen kitzelte.

Als sie beieinander waren, drückte sie ihm kräftig die Hand.

»Du bist doch nicht böse, daß ich dich hergebeten habe? Ich mußte dich unbedingt sehen«, sagte sie, und der ernste Zug um ihre Lippen, den er durch den Schleier hindurch sah, veränderte mit einem Schlage seine Seelenstimmung.

»Wie könnte ich böse sein! Aber wie bist du gerade hierher gekommen?«

»Das ist ja unerheblich«, antwortete sie und legte ihre Hand in seinen Arm. »Laß uns gehen; ich muß mit dir sprechen.«

Er merkte, daß etwas vorgefallen sein mußte und daß dieses Zusammensein kein freudiges sein werde. Sobald er bei ihr war, hatte er keinen eigenen Willen; ohne den Grund ihrer Aufregung zu kennen, fühlte er bereits, daß sich dieselbe Aufregung unwillkürlich auch ihm mitteilte.

 

»Was gibt es denn? So sprich doch!« bat er; er drückte mit dem Ellbogen ihren Arm und versuchte, ihr die Gedanken vom Gesichte abzulesen.

Schweigend ging sie noch einige Schritte, um Mut zu sammeln; dann blieb sie plötzlich stehen.

»Ich habe dir gestern nicht gesagt«, begann sie, schnell und mühsam atmend, »daß ich, als ich mit Alexei Alexandrowitsch nach Hause zurückfuhr, ihm alles mitgeteilt habe; ... ich habe ihm gesagt, daß ich nicht länger seine Gattin sein kann und daß ... Ich habe ihm alles gesagt.«

Er hörte ihr zu und neigte sich dabei unwillkürlich mit dem ganzen Oberkörper zu ihr herunter, als wollte er ihr dadurch das Drückende ihrer Lage erleichtern. Aber sobald sie das gesagt hatte, richtete er sich plötzlich auf, und sein Gesicht nahm einen stolzen, festen Ausdruck an.

»Ja, ja, das ist das beste, bei weitem das beste!« rief er. »Ich verstehe, wie schwer dir das werden mußte.« Aber sie hörte nicht auf seine Worte, sie suchte seine Gedanken an dem Ausdruck seines Gesichtes zu erkennen. Sie konnte nicht wissen, daß dieser Ausdruck seines Gesichtes mit dem ersten Gedanken zusammenhing, der ihm bei ihrer Mitteilung gekommen war, mit dem Gedanken, daß jetzt ein Duell unausbleiblich sei. Ihr selbst war der Gedanke an ein Duell überhaupt nie in den Sinn gekommen, und daher faßte sie diesen augenblicklichen Ausdruck strengen Ernstes ganz anders auf.

Schon nachdem sie den Brief ihres Mannes erhalten hatte, war sie im tiefsten Grunde der Seele überzeugt gewesen, daß alles beim alten bleiben werde, daß sie nicht die Kraft haben werde, ihre gesellschaftliche Stellung einfach aufzugeben, auf ihren Sohn zu verzichten und mit ihrem Liebhaber zusammen zu leben. Bei dem Besuche, den sie am Vormittag der Fürstin Twerskaja gemacht hatte, war diese innere Überzeugung bei ihr noch fester geworden. Aber eine Zusammenkunft mit Wronski war ihr trotzdem außerordentlich wichtig erschienen. Sie hatte gehofft, diese Zusammenkunft würde in seiner und ihrer Lage eine Änderung herbeiführen und ihr Rettung bringen. Wenn er bei dieser Mitteilung entschlossen, leidenschaftlich und, ohne einen Augenblick zu schwanken, zu ihr sagte: »Laß alles im Stich und geh mit mir davon!« dann war sie willens, ihren Sohn zu verlassen und ihm zu folgen. Aber nun hatte diese Mitteilung nicht so gewirkt, wie sie es erwartet hatte; vielmehr hatte Anna nur den Eindruck, daß er sich durch irgend etwas verletzt fühle.

»Schwer ist es mir keineswegs geworden. Es machte sich ganz von selbst«, sagte sie in gereiztem Tone, »und hier ...« Sie holte den Brief ihres Mannes aus dem Handschuh hervor.

»Ich verstehe, ich verstehe«, unterbrach er sie und nahm den Brief hin; aber er las ihn nicht, da er vor allem sie zu beruhigen wünschte. »Das war das einzige, das ich wünschte, um das ich dich bat, daß du diese Fesseln zerreißen möchtest, damit ich mein Leben ganz deinem Glücke weihen kann.«

»Warum sagst du mir das?« erwiderte sie. »Kann ich denn daran zweifeln? Wenn ich daran zweifelte ...«

»Wer kommt da?« sagte Wronski plötzlich und wies auf zwei Damen, die ihnen entgegenkamen. »Vielleicht kennen sie uns!« Er bog schnell, sie mit sich ziehend, in einen Seitenweg ein.

»Ach, mir ist alles gleich!« versetzte sie. Ihre Lippen zitterten, und es kam ihm vor, als ob ihn ihre Augen durch den Schleier mit seltsamem Ingrimm anblickten. »Also ich wollte sagen: darum handelt es sich nicht; daran kann ich ja nicht zweifeln. Aber sieh nur, was er mir schreibt. Lies doch!« Sie blieb wieder stehen.

Wieder, ganz wie im ersten Augenblicke bei der Nachricht, daß sie mit ihrem Manne gebrochen habe, gab sich Wronski beim Lesen des Briefes unwillkürlich jener natürlichen Vorstellung hin, die sein Verhältnis zu dem beleidigten Gatten bei ihm erweckte. Während er jetzt seinen Brief in der Hand hielt, sagte er sich, daß er wahrscheinlich heute oder morgen in seiner Wohnung die Forderung vorfinden werde, und stellte sich das Duell vor, bei dem er mit derselben kalten, stolzen Miene, die sein Gesicht jetzt zeigte, in die Luft schießen und sich dann dem Schusse des beleidigten Gatten darbieten werde. Und gleichzeitig blitzte in seinem Kopfe die Erinnerung an das auf, was Serpuchowskoi ihm soeben gesagt und er selbst am Morgen gedacht hatte: daß es besser sei, sich nicht zu binden; und er war sich bewußt, daß er diesen Gedanken ihr gegenüber nicht aussprechen durfte.

Nachdem er den Brief durchgelesen hatte, hob er die Augen zu ihr in die Höhe; es lag keine Festigkeit in seinem Blicke. Sie merkte sofort, daß er bereits selbst im stillen über diesen Gegenstand früher nachgedacht hatte. Sie wußte, daß, was auch immer er ihr sagen würde, dies nicht alles sein werde, was er dachte. Und sie sah klar, daß sie sich in ihrer letzten Hoffnung getäuscht hatte. Das war nicht das Verhalten, das sie von Wronski erwartet hatte.

»Du siehst, was das für ein Mensch ist«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Er ...«

»Verzeih mir, aber ich freue mich darüber«, unterbrach Wronski sie. »Bitte, bitte, laß mich ausreden!« fügte er hinzu, und sein flehender Blick bat sie, ihm zur Verdeutlichung seiner Worte Zeit zu lassen. »Ich freue mich deshalb, weil dieser Zustand nicht fortdauern kann, unter keinen Umständen fortdauern kann, wie er das annimmt.«

»Warum sollte das unmöglich sein?« erwiderte Anna, ihre Tränen zurückdrängend; sie betrachtete offenbar alles, was er noch weiter sagen werde, für bedeutungslos. Sie fühlte, daß ihr Schicksal entschieden war.

Wronski wollte eigentlich antworten, daß nach dem seines Erachtens unausbleiblichen Duelle dieser Zustand nicht fortdauern könne; aber er sagte etwas anderes.

»Es kann nicht so bleiben. Ich hoffe, du wirst ihn jetzt verlassen. Ich hoffe«, hier wurde er verlegen und errötete, »du wirst mir erlauben, unser weiteres Leben zu erwägen und einzurichten. Morgen ...« begann er. Aber sie ließ ihn nicht ausreden.

»Und mein Sohn?« rief sie. »Du siehst doch, was er schreibt. Ich müßte meinen Sohn verlassen, und das kann und will ich nicht.«

»Aber ich bitte dich um Gottes willen: was ist denn besser, daß du deinen Sohn verläßt oder daß du diesen demütigenden Zustand verlängerst?«

»Demütigend für wen?«

»Für alle und am meisten für dich.«

»Du sagst: demütigend; sage das nicht. Dieses Wort hat für mich keinen Sinn«, sagte sie mit zitternder Stimme. Sie wollte nicht, daß er jetzt eine Unwahrheit sagte. Seine Liebe war das einzige, was ihr jetzt noch blieb, und sie wollte ihn weiterlieben. »Du sollst wissen, daß seit dem Tage, da ich dich liebgewonnen habe, alle Dinge sich für mich in ihrem Werte verändert haben. Mein ein und alles ist deine Liebe. Wenn diese mir gehört, dann fühle ich mich so hoch und fest, daß nichts für mich demütigend sein kann. Ich bin stolz auf meine Lage, weil ... Ich bin stolz darauf, daß ...« Sie sprach es nicht zu Ende aus, worauf sie stolz war. Tränen der Scham und Verzweiflung erstickten ihre Stimme. Sie blieb stehen und brach in Schluchzen aus.

Auch er merkte, daß ihm etwas zur Kehle hinaufstieg, daß ihm etwas in der Nase juckte, und fühlte zum erstenmal in seinem Leben, daß er nahe daran war loszuweinen. Er hätte nicht sagen können, was ihn eigentlich so rührte; sie dauerte ihn, und er sagte sich, daß er ihr nicht helfen könne, und war sich zugleich bewußt, daß er an ihrem Unglück schuld war, daß er etwas Schlechtes getan hatte.

»Ist denn nicht eine Scheidung möglich?« fragte er leise. Sie schüttelte, ohne zu antworten, den Kopf. »Kannst du denn nicht deinen Sohn mit dir nehmen und ihn trotzdem verlassen?«