Anna Karenina | Krieg und Frieden

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27

»Wenn es mir nur nicht leid täte, alles, was ich mir eingerichtet habe, aufzugeben – es steckt eine gehörige Menge Arbeit darin –, so würde ich die ganze Geschichte hinwerfen, alles verkaufen und ins Ausland reisen, wie unser Nikolai Iwanowitsch hier ... um ›Die schöne Helena‹ zu hören«, sagte der Gutsbesitzer mit einem angenehmen Lächeln, das seinem klugen, alten Gesichte einen hellen Schein verlieh.

»Aber Sie geben es doch nicht auf«, erwiderte Nikolai Iwanowitsch Swijaschski, »folglich muß doch ein Vorteil dabei sein.«

»Der einzige Vorteil besteht darin, daß ich in einem altererbten Hause wohne, das ich mir weder gekauft noch gemietet habe. Und dann hofft man doch immer noch, daß das Volk endlich einmal zur Vernunft kommt. Aber so, wie es jetzt ist – es ist kaum zu glauben, diese Trunksucht, diese Liederlichkeit! ... Alle sind sie infolge der Wirtschaftsteilungen auf den Hund gekommen; da ist kein Pferd, keine Kuh zu finden. So ein Bauer krepiert beinah vor Hunger; aber nun nehmen Sie den Menschen einmal als Arbeiter an: zuerst verdirbt er Ihnen alles mögliche, und dann verklagt er Sie noch beim Friedensrichter.«

»Sie können ihn ja Ihrerseits auch beim Friedensrichter verklagen«, bemerkte Swijaschski.

»Ich soll ihn verklagen? Um keinen Preis! Das gibt ein Gerede, so daß man von der Klage keine Freude hat! Sehen Sie nur den Fall neulich in der Fabrik: die Leute haben das Handgeld genommen und sind einfach davongegangen. Und was hat der Friedensrichter getan? Freigesprochen hat er sie. Alles wird nur noch durch das Gemeindegericht und den Dorfschulzen in Ordnung gehalten. Der läßt so einen Kerl einfach nach altem Brauch durchpeitschen. Wenn das nicht noch wäre, dann könnte man nur gleich einpacken und sich davonmachen!«

Es war offenbar, daß der Gutsbesitzer Swijaschski reizen wollte; aber dieser ärgerte sich nicht, sondern belustigte sich vielmehr nur über diese Reden.

»Na, aber wir führen doch unsere Wirtschaft ohne derartige Maßregeln«, versetzte er lächelnd. »Ich meine mich und Ljewin und unsern Nachbar hier.«

Er wies auf den andern Gutsbesitzer.

»Ja, bei Michail Petrowitsch geht es ja noch so einigermaßen; aber fragen Sie ihn nur, wie. Ist das etwa eine rationelle Wirtschaft?« sagte der Gutsbesitzer; er prunkte augenscheinlich mit dem Worte »rationell«.

»Meine Wirtschaft ist sehr einfach«, versetzte Michail Petrowitsch. »Dafür danke ich meinem Gotte. Meine Wirtschaft zielt nur darauf hin, daß das Geld für die Steuern im Herbst bereit daliegt. Aber die Bauern, die kein Geld für die Steuern haben, kommen dann und bitten: ›Väterchen, liebes Väterchen, hilf uns aus der Not!‹ Na, die Leute sind ja sämtlich meine Nachbarn; da tun sie einem denn leid, und da gibt man ihnen das Geld für das erste Jahresdrittel, sagt ihnen aber dabei: ›Vergeßt nicht, Kinder, daß ich euch geholfen habe; nun müßt ihr mir aber auch helfen, wenn's nötig ist, beim Hafersäen oder beim Heuen oder bei der Getreideernte.‹ Na, und da setzt man gleich fest, wieviel Mann aus jeder Familie zur Arbeit kommen sollen. Gewissenlose Menschen gibt es dann allerdings auch unter diesen, das ist richtig.«

Ljewin, dem diese patriarchalischen Gebräuche längst bekannt waren, wechselte einen Blick mit Swijaschski und unterbrach Michail Petrowitsch, indem er sich wieder an den Gutsbesitzer mit dem grauen Schnurrbart wandte.

»Also wie denken Sie nun darüber?« fragte er. »Wie muß man jetzt seine Wirtschaft führen?«

»So wie Michail Petrowitsch! Man kann ja auch die Bauern die Arbeit für die Hälfte des Ertrages verrichten lassen oder auch ihnen das Land in Pacht geben; gewiß, das geht auch; nur wird gerade dadurch der allgemeine Wohlstand des Staates vernichtet. Während mein Land früher bei Bearbeitung durch Leibeigene und bei guter Bewirtschaftung das Neunfache brachte, bringt es jetzt bei Bearbeitung auf Halbpart nur das Dreifache. Die Gleichberechtigung der Bauern hat Rußland zugrunde gerichtet!«

Swijaschski blickte Ljewin mit lächelnden Augen an und machte ihm sogar ein ganz leises, spöttisches Zeichen; aber Ljewin fand die Worte des Gutsbesitzers gar nicht lächerlich; er hatte für sie ein besseres Verständnis als für Swijaschskis Standpunkt. Vieles von dem, was der Gutsbesitzer noch weiter sagte, um zu beweisen, daß die Gleichberechtigung der Bauern Rußlands Verderb sei, war ihm neu und erschien ihm durchaus richtig und unwiderlegbar. Der Gutsbesitzer sprach offenbar, was so selten vorkommt, Gedanken aus, die in seinem eigenen Kopfe entstanden waren, und zu diesen Gedanken war er nicht etwa durch den Wunsch geleitet worden, den müßigen Geist mit irgend etwas zu beschäftigen, sondern sie waren aus den Erfahrungen des Lebens erwachsen, das er in seiner ländlichen Einsamkeit verbracht und nach allen Richtungen durchdacht hatte.

»Sehen Sie«, sagte er, sichtlich bestrebt, zu zeigen, daß er eine gute Bildung besitze, »die Sache ist die, daß jeder Fortschritt nur von der autoritativen Macht bewerkstelligt wird. Nehmen Sie die Reformen Peters, Katharinas, Alexanders! Nehmen Sie die Geschichte Europas! Und ganz besonders gilt das für die Fortschritte auf dem Gebiete der Landwirtschaft. Zum Beispiel die Kartoffeln – auch die sind bei uns nur mit Gewalt eingeführt worden. Auch mit dem Hakenpflug hat man ja nicht immer gepflügt; auch der ist erst eingeführt worden, vielleicht zur Zeit der Teilfürsten, aber sicherlich nur mit Gewalt. Jetzt zu unserer Zeit haben wir Gutsbesitzer, als noch die Leibeigenschaft bestand, unsere Wirtschaft mit den modernen Vervollkommnungen geführt; die Trockenböden und die Worfelmaschinen und das Düngerfahren und alle landwirtschaftlichen Geräte, alles haben wir kraft unserer höheren Stellung eingeführt, und die Bauern haben sich anfangs widersetzt, nachher aber es uns nachgemacht. Jetzt nun ist uns bei der Aufhebung der Leibeigenschaft diese Macht genommen worden, und so muß nun auch unser Wirtschaftsbetrieb überall, wo er eine hohe Stufe erreicht hatte, wieder zu dem ursprünglichen Zustande schlimmster Unkultur hinabsinken. So fasse ich das auf.«

»Aber weshalb denn nur?« entgegnete Swijaschski. »Wenn Ihr Wirtschaftsbetrieb rationell ist, so können Sie ihn auch unter Anwendung des Mietsystems durchführen.«

»Dazu fehlt mir die Macht. Gestatten Sie die Frage: Mit was für Leuten soll ich meine Wirtschaft führen?«

›Da haben wir's!‹ dachte Ljewin. ›Die Arbeitskraft, das ist der Angelpunkt der Landwirtschaft‹.

»Mit Arbeitern.«

»Die Arbeiter wollen nicht gut arbeiten und nicht mit guten Geräten. Unsere Arbeiter verstehen nur eins: sich viehisch zu betrinken und alles, was man ihnen in die Hände gibt, zugrunde zu richten. Die Pferde richten sie zugrunde, indem sie sie in erhitztem Zustande tränken; das gute Pferdegeschirr zerreißen sie; die frisch beschienten Räder vertauschen sie gegen andere und vertrinken den Ertrag; in die Dreschmaschine lassen sie einen Deichselnagel hineinfallen, um sie entzweizumachen. Alles, was nicht nach ihrem Geschmacke ist, ist ihnen ein Greuel. Infolgedessen ist die ganze Landwirtschaft gesunken. Weite Felder liegen unbebaut und überziehen sich mit Wermut; oder sie sind an die Bauern verpachtet, und wo früher eine Million Tschetwert erzeugt wurde, erzeugen diese jetzt nur einige Hunderttausend. Der allgemeine Wohlstand ist gesunken. Ja, wenn man dasselbe getan hätte, aber mit mehr Überlegung ...«

Und er begann seinen eigenen Plan einer Bauernbefreiung zu entwickeln, bei dessen Befolgung nach seiner Ansicht diese Übelstände vermieden worden wären.

Das interessierte Ljewin nicht; aber als der Redende mit seinen Auseinandersetzungen fertig war, kehrte Ljewin zu der ersten Behauptung zurück, die jener aufgestellt hatte. Um Swijaschski dazu zu veranlassen, seine wirkliche Meinung auszusprechen, wandte sich Ljewin an diesen und sagte:

»Daß die Bedeutung der Landwirtschaft sinkt und daß es bei unserem Verhältnisse zu den Arbeitern unmöglich ist, mit Vorteil eine rationelle Wirtschaft zu führen, das ist vollkommen richtig.«

»Das kann ich nicht finden«, versetzte Swijaschski, und zwar jetzt ganz ernsthaft. »Ich sehe nur, daß wir nicht verstehen, Landwirtschaft zu treiben, und bin im Gegensatze zu dem, was vorhin behauptet wurde, der Ansicht, daß der Wirtschaftsbetrieb, wie er zur Zeit der Leibeigenschaft üblich war, nicht etwa auf einer sehr hohen, sondern auf einer sehr niedrigen Stufe stand. Wir haben keine Maschinen und keine ordentlichen Arbeitstiere und keine richtige Verwaltung, und wir verstehen auch nicht zu rechnen. Wenn sie einen Landwirt fragen, so weiß er nicht, was für ihn vorteilhaft und was unvorteilhaft ist.«

»Wir könnten ja die italienische Buchführung lernen«, sagte der Gutsbesitzer ironisch. »Aber man mag da rechnen, soviel man will, wenn die Leute einem alles verderben, kommt doch kein Gewinn heraus.«

»Warum sollten sie denn alles verderben? Ein elendes Ding von Dreschmaschine oder eine russische Stampfe, die machen sie entzwei; aber meine Dampfdreschmaschine, die werden sie nicht entzweimachen. So eine jämmerliche Mähre – wie pflegen sich doch die Leute auszudrücken? Echt Knutehner Schlag, weil sie ohne einen Schlag mit der Knute sich nicht rührt – die werden sie Ihnen verderben. Aber wenn Sie Percherons einführen oder sonst eine kräftige Sorte von Arbeitspferden, die werden sie Ihnen nicht verderben. Und so steht es mit allem. Wir müssen die Landwirtschaft heben.«

»Wenn man nur wüßte, wo man das Geld dazu hernehmen soll, Nikolai Iwanowitsch! Sie sind gut dran; aber ich habe einen Sohn auf der Universität zu unterhalten und die kleineren Knaben auf dem Gymnasium; da kann ich mir keine Percherons kaufen.«

 

»Dafür sind die Banken da.«

»Damit das letzte, was man hat, unter den Hammer kommt? Nein, dafür danke ich.«

»Ich bin nicht Ihrer Ansicht, daß es nötig und möglich wäre, die Landwirtschaft noch mehr zu heben«, sagte Ljewin. »Ich habe das mit Eifer betrieben und besitze auch die nötigen Geldmittel; aber trotzdem habe ich nichts ausrichten können. Die Banken – ja, ich weiß nicht, wem die von Nutzen sind. Ich für meine Person habe, sooft ich für irgendeinen Zweck in der Wirtschaft Geld aufwendete, immer nur Schaden gehabt: beim Vieh Schaden, bei den Maschinen Schaden.«

»Ja, ja, das ist richtig!« bekräftigte der Gutsbesitzer mit dem grauen Schnurrbart und lachte dabei ordentlich vor Vergnügen.

»Und ich bin nicht der einzige, der diese Erfahrung macht«, fuhr Ljewin fort. »Ich berufe mich auf alle Landwirte, die eine rationelle Wirtschaft führen; alle, mit seltenen Ausnahmen, wirtschaften sie mit Schaden. Nun, sagen Sie selbst, ist denn Ihre Wirtschaft gewinnbringend?« fragte Ljewin und bemerkte sofort in Swijaschskis Blick jenen plötzlichen Ausdruck von Angst, den er immer wahrnahm, wenn er in Swijaschskis Geist weiter als bis in die Empfangszimmer eindringen wollte.

Übrigens war diese Frage Ljewins nicht ganz frei von Hinterlist. Die Hausfrau hatte ihm soeben erst beim Tee erzählt, sie hätten sich in diesem Sommer aus Moskau einen der Buchführung kundigen Deutschen kommen lassen, der ihnen gegen eine Gebühr von fünfhundert Rubeln ihre ganze Wirtschaft berechnet und gefunden habe, daß sie einen Verlust von etwas über dreitausend Rubeln bringe. Ganz genau hatte sie diese Zahl nicht im Kopfe; aber der Deutsche hatte es, wie sie sagte, bis auf eine Viertelkopeke ausgerechnet.

Der Gutsbesitzer lächelte, als Ljewin sich nach dem Ertrag von Swijaschskis Wirtschaft erkundigte; er mochte wohl wissen, wie es mit dem erzielten Gewinn bei seinem Nachbar, dem Adelsmarschall, stand.

»Es mag sein, daß sie nicht gewinnbringend ist«, antwortete Swijaschski. »Aber das beweist nur, daß ich entweder ein schlechter Landwirt bin, oder daß ich Kapital aufwende, um die Rente zu erhöhen.«

»Ach, die Rente!« rief Ljewin ganz entsetzt. »Vielleicht gibt es in Europa eine Rente, wo der Boden durch die hineingesteckte Arbeit besser geworden ist; aber bei uns wird der ganze Boden durch die hineingesteckte Arbeit nur schlechter, das heißt man mergelt ihn aus; also ist von Rente nicht die Rede.«

»Wie sollte es denn keine Rente geben? Das ist ein unumstößliches Gesetz.«

»Dann stehen wir eben außerhalb dieses Gesetzes. Durch den Hinweis auf die Rente kann bei uns nichts erklärt werden; das verwirrt im Gegenteil die Sache nur noch mehr. Nein, sagen Sie selbst, wie kann die Lehre von der Rente ...«

»Möchten Sie nicht etwas saure Milch? Mascha, laß uns doch saure Milch bringen oder auch Himbeeren«, wandte er sich an seine Frau. »Die Himbeeren halten sich in diesem Jahre merkwürdig lange.«

Damit stand Swijaschski in der vergnügtesten Stimmung auf und trat von Ljewin weg; er war offenbar der Meinung, daß das Gespräch an diesem Punkte beendet sei, während es nach Ljewins Ansicht gerade hier erst anfing.

Da ihn sein bisheriger Gesprächsgenosse verlassen hatte, so setzte Ljewin die Unterhaltung mit dem Gutsbesitzer fort und bemühte sich, ihm zu beweisen, daß die ganze Schwierigkeit daher komme, daß wir vor den Eigenheiten und Gewohnheiten des Arbeiters unsere Augen verschließen. Aber der Gutsbesitzer war wie alle selbständigen, einsamen Denker schwerfällig im Auffassen fremder Gedanken und zu sehr in seine eigenen verliebt. Er blieb eigensinnig dabei, der russische Bauer sei ein Vieh und habe diesen viehischen Zustand gerne, und um ihn aus diesem viehischen Zustande herauszubringen, seien Machtmittel erforderlich; aber die seien nicht vorhanden. Was nötig sei, sei der Stock; aber wir seien so liberal geworden, daß wir statt der seit tausend Jahren bestehenden Prügelstrafe auf einmal Anwälte und Gefängnishaft eingeführt hätten, wobei man die nichtsnutzigen, stinkenden Bauern mit guter Suppe füttere und ausrechne, wieviel Kubikfuß Luft sie brauchten.

»Warum meinen Sie«, sagte Ljewin in dem Bestreben, auf das Thema zurückzukommen, »daß es unmöglich ist, ein solches Verhältnis zu den Arbeitskräften ausfindig zu machen, daß dabei die Arbeit nutzbringend wird?«

»Das wird sich mit dem russischen Landvolke nie erreichen lassen. Wir haben keine Machtmittel«, antwortete der Gutsbesitzer.

»Wie könnten wir denn überhaupt noch neue Verhältnisse ausfindig machen?« fragte Swijaschski, der einen Teller saure Milch gegessen, sich eine Zigarette angezündet hatte und nun wieder zu den Disputierenden trat. »Alle nur denkbaren Verhältnisse zu den Arbeitskräften sind wissenschaftlich bestimmt und studiert worden«, sagte er. »Jenes Überbleibsel der Barbarei, die urzeitliche Gemeinde mit gegenseitiger Bürgschaft, zerfällt von selbst; die Leibeigenschaft ist aufgehoben; so bleibt nur die freie Arbeit übrig, und deren Formen sind genau festgelegt und fix und fertig, und die müssen wir annehmen. Knecht, Tagelöhner, Pächter – über diese Möglichkeiten werden Sie nicht hinauskommen.«

»Aber Europa ist mit diesen Formen unzufrieden.«

»Das ist richtig, und man sucht dort nach neuen. Und man wird auch wahrscheinlich welche finden.«

»Davon rede ich ja auch nur!« versetzte Ljewin. »Warum sollen wir nicht auch unsrerseits danach suchen?«

»Weil das ganz dasselbe wäre, wie wenn wir Systeme für den Eisenbahnbau neu erfinden wollten. Die sind schon erfunden und fix und fertig.«

»Aber wenn sie nun für uns nicht passen, wenn sie töricht sind?« wandte Ljewin ein.

Und wieder bemerkte er in Swijaschskis Augen jenen Ausdruck von Angst.

»Ja, ja, so ist das: wir werden den Vogel abschießen; wir werden das herausbekommen, wonach Europa noch sucht! Ich kenne das alles; aber entschuldigen Sie, kennen Sie wohl Ihrerseits alles, was in Europa in der Frage der Arbeiterorganisation geschehen ist?«

»Nein, nur mangelhaft.«

»Die Frage beschäftigt jetzt die besten Köpfe in ganz Europa. Zum Beispiel die Schulze-Delitzsch-Richtung ... Und dann diese gewaltige Literatur über die Arbeiterfrage von der allerfortschrittlichsten Lassalleschen Richtung ... Die Mülhäuser Organisation ist ja schon zur wirklichen Tatsache geworden; Sie wissen gewiß davon.«

»Ich habe eine Vorstellung davon, indes nur eine sehr unklare.«

»Ach, das sagen Sie nur so; Sie wissen sicherlich mit allen diesen Dingen nicht weniger Bescheid als ich. Ich bin ja natürlich kein Professor der Sozialwissenschaften; aber die ganze Sache hat mich sehr interessiert, und wirklich, wenn Sie sich dafür interessieren, so werden Sie guttun, sich genauer damit zu beschäftigen.«

»Aber zu welchem Ergebnis ist man denn gelangt?«

»Verzeihung ...«

Die Gutsbesitzer waren aufgestanden, und Swijaschski begleitete seine Gäste hinaus; so hatte er Ljewin wieder nicht zum Ziele kommen lassen, als dieser nach seiner häßlichen Gewohnheit versucht hatte, einen Blick in die Teile seines Geistes zu werfen, die hinter den Empfangszimmern lagen.

28

Ljewin empfand an diesem Abend in der Gesellschaft der Damen eine unerträgliche Langeweile. Es regte ihn wie noch nie zuvor der Gedanke auf, daß der jetzige ihn so wenig befriedigende Zustand seiner Wirtschaft nicht etwas nur ihm persönlich Eigenes, sondern ein Teil des allgemeinen Zustandes sei, in dem sich die Sache in ganz Rußland befinde, und daß die Schaffung eines Verhältnisses zu den Arbeitern, bei dem diese so arbeiteten wie bei jenem Bauern auf der Hälfte des Weges, nicht ein Hirngespinst, sondern eine Aufgabe sei, die unbedingt gelöst werden müsse. Und es schien ihm, daß die Lösung dieser Aufgabe möglich und es seine Pflicht sei, einen Versuch dazu zu machen.

Nachdem Ljewin den Damen gute Nacht gesagt und versprochen hatte, noch den ganzen folgenden Tag dazubleiben, um mit ihnen zusammen auszureiten und in dem staatlichen Walde einen interessanten Erdsturz zu besichtigen, begab er sich vor dem Schlafengehen noch in das Arbeitszimmer des Hausherrn, um sich die Bücher über die Arbeiterfrage, die ihm Swijaschski angeboten hatte, zu holen. Swijaschskis Arbeitszimmer war von gewaltiger Ausdehnung und mit mehreren Bücherschränken sowie mit zwei Tischen ausgestattet, einem massiven Schreibtisch, der mitten im Zimmer stand, und einem runden Tische, auf dem sternförmig um die Lampe herum die neuesten Nummern von allerlei Zeitungen und Zeitschriften in verschiedenen Sprachen ausgebreitet lagen. Neben dem Schreibtische stand ein Ständer mit Schubkasten, an denen goldene Aufschriften den sehr verschiedenartigen Inhalt angaben.

Swijaschski holte die Bücher hervor und setzte sich dann in einen Schaukelstuhl.

»Was sehen Sie sich denn da an?« fragte er Ljewin, der bei dem runden Tische stehengeblieben war und in den Zeitschriften blätterte. »Ach ja, da ist ein sehr interessanter Artikel drin«, sagte er mit Bezug auf die Zeitschrift, die Ljewin gerade in der Hand hatte. »Es stellt sich heraus«, fügte er lebhaft und munter hinzu, »daß der Hauptschuldige bei der Teilung Polens gar nicht Friedrich war. Es stellt sich heraus ...«

Und mit der ihm eigenen Klarheit berichtete er in Kürze über diese neuen, sehr wichtigen und interessanten Enthüllungen. Wiewohl Ljewin jetzt stark mit seinen Gedanken an die Landwirtschaft beschäftigt war, stellte er doch, während er dem Hausherrn zuhörte, die Überlegung an: ›Was hat er eigentlich damit vor? Warum in aller Welt interessiert ihn die Teilung Polens?‹ Als Swijaschski mit seiner Auseinandersetzung zu Ende war, fragte Ljewin unwillkürlich: »Und was soll nun geschehen?« Aber es sollte gar nichts weiter geschehen. Interessant war eben nur, daß sich das »herausgestellt« hatte. Aber warum ihn das interessierte, erklärte Swijaschski nicht und hielt er nicht für nötig zu erklären.

»Ja, aber mich hat dieser verbitterte Gutsbesitzer sehr interessiert«, sagte Ljewin mit einem Seufzer. »Er ist ein kluger Mann, und was er sagte, war zum großen Teil richtig.«

»Ach, gehen Sie doch! Er ist ein eingefleischter, heimlicher Anhänger der Leibeigenschaft, wie sie es alle sind!« erwiderte Swijaschski.

»Und Sie als Adelsmarschall sind ihr Leiter ...«

»Ja, nur daß ich sie als solcher nach der anderen Seite hin zu leiten suche«, versetzte Swijaschski lachend.

»Da ist ein Punkt, der mich sehr beschäftigt«, sagte Ljewin. »Er hat recht: unsere Tätigkeit, das heißt eine rationelle Landwirtschaft, hat keinen Erfolg; es gedeiht nur eine Wucherwirtschaft wie bei jenem stillen, ruhigen Herrn, oder eine vom allereinfachsten Zuschnitt ... Wer ist daran schuld?«

»Natürlich wir selbst. Aber es ist auch nicht richtig, daß eine rationelle Wirtschaft nicht vorwärtskäme. Bei Wasiltschikow geht es ganz gut.«

»Der hat auch eine Fabrik ...«

»Aber ich weiß überhaupt nicht, worüber Sie sich eigentlich wundern. Unser Landvolk steht in materieller und geistiger Hinsicht auf einer so niedrigen Entwicklungsstufe, daß es naturgemäß allem widerstreben muß, was ihm fremd ist. In Europa geht ein rationeller Wirtschaftsbetrieb gut vonstatten, weil das Volk gebildet ist; folglich müssen auch wir unserem Volke Bildung geben; das ist die ganze Sache.«

»Aber wie sollen wir das anfangen?«

»Um dem Volke Bildung zu geben, dazu sind drei Dinge erforderlich: Schulen, Schulen und nochmals Schulen.«

»Aber Sie haben doch selbst gesagt, daß das Volk in materieller Hinsicht auf einer niedrigen Entwicklungsstufe steht; inwiefern können da die Schulen helfen?«

»Wissen Sie, Sie erinnern mich an die Anekdote von den Ratschlägen, die man einem Kranken gab: ›Sie sollten es mit einem Abführmittel versuchen.‹ – ›Ich habe eins genommen; aber es ist davon nur noch schlimmer geworden.‹ – ›Versuchen Sie es doch einmal mit Blutegeln.‹ – ›Das habe ich versucht; es ist noch schlimmer geworden.‹ – ›Nun, dann sollten Sie einfach den lieben Gott bitten, Ihnen zu helfen.‹ – ›Das habe ich auch getan; aber es ist nur noch schlimmer geworden.‹ So machen auch wir beide es jetzt. Ich rede von Nationalökonomie; Sie sagen: ›Es wird nur schlimmer.‹ Ich rede von Sozialismus; Sie sagen: ›Es wird nur schlimmer.‹ Ich rede von Bildung; wieder: ›Es wird nur schlimmer.‹«

»Ja, inwiefern können denn da die Schulen helfen?«

»Sie erwecken bei dem Volke andere Bedürfnisse.«

»Da haben wir's. Gerade das ist es, was ich nie habe begreifen können!« erwiderte Ljewin hitzig. »Auf welche Weise können die Schulen dem Volke zur Verbesserung seiner materiellen Lage behilflich sein? Sie sagen: die Schulen und die Bildung erwecken beim Volke neue Bedürfnisse. Um so schlimmer; denn das Volk wird nicht imstande sein, diese neuen Bedürfnisse zu befriedigen. Und auf welche Weise die Kenntnis des Addierens und Subtrahierens und des Katechismus dem Volke zur Verbesserung seiner materiellen Lage behilflich sein soll, das habe ich nie begreifen können. Vorgestern abend traf ich eine Bauersfrau mit einem Säugling und fragte sie, wohin sie ginge. Sie antwortete: ›Ich bin bei der Hebamme gewesen; das Jungchen hatte den Schreikrampf bekommen; da habe ich es hingetragen, damit sie es heilen sollte.‹ Ich fragte: ›Wie heilt denn die Hebamme den Schreikrampf?‹ ›Sie setzt das Kindchen zu den Hühnern auf die Sitzstange und sagt etwas dazu.‹«

 

»Na, sehen Sie wohl, da sagen Sie es ja selbst! Damit so eine Frau nicht ihr Kind hinträgt, um es auf der Hühnerstange vom Schreikrampfe heilen zu lassen, dazu sind die Schulen nötig ...« sagte Swijaschski mit vergnügtem Lächeln.

»Aber nein doch!« erwiderte Ljewin ärgerlich. »Diese Heilmethode benutzte ich ja nur zum Vergleiche mit der Heilung des Volkes durch Schulen. Das Volk ist arm und ungebildet; das sehen wir ebenso deutlich, wie die Bauersfrau den Schreikrampf daran erkennt, daß das Kind so schreit. Aber auf welche Weise gegen diesen schlimmen Zustand, die Armut und den Mangel an Bildung, dem Volke die Schulen helfen sollen, das ist ebenso unbegreiflich, wie es unbegreiflich ist, auf welche Weise die Hühner auf der Sitzstange gegen den Schreikrampf helfen sollen. Die Hilfe muß sich gegen die Ursache der Armut des Volkes richten.«

»Na, wenigstens in diesem Punkte stimmen Sie mit Spencer überein, den Sie ja so wenig leiden können; der sagt auch, die Bildung könne eine Folge größeren Wohlstandes und Wohlbehagens – wie er sich ausdrückt: häufigen Waschens – sein, nicht aber eine Folge der Kenntnis des Lesens und Schreibens.«

»Nun, sehen Sie, da bin ich ja sehr froh oder vielmehr sehr mißvergnügt, daß ich mit Spencer übereinstimme; aber zu dieser Erkenntnis bin ich schon längst gekommen. Schulen helfen da nicht; helfen kann da nur eine wirtschaftliche Einrichtung, bei der das Volk reicher wird und mehr freie Zeit bekommt – dann werden die Schulen ganz von selbst entstehen.«

»Und doch ist jetzt in ganz Europa der Schulbesuch Pflicht.«

»Aber wie können denn Sie selbst in diesem Punkt mit Spencer einer Meinung sein?« fragte Ljewin.

Aber in Swijaschskis Augen wurde wieder für einen Augenblick jener Ausdruck von Angst sichtbar, und er antwortete lächelnd:

»Nein, diese Geschichte von dem Schreikrampf ist ausgezeichnet! Und das haben Sie wirklich selbst gehört?«

Ljewin sah, daß es ihm auf diese Weise nicht gelingen werde, den inneren Zusammenhang zwischen dem praktischen Leben dieses Mannes und seiner Gedankenwelt zu finden. Es war diesem offenbar ganz gleichgültig, zu welchen Ergebnissen ihn seine Denktätigkeit führte; woran ihm lag, das war eben nur die Tätigkeit des Denkens selbst. Unangenehm war es ihm allerdings, wenn diese Denktätigkeit ihn in eine Sackgasse führte. Nur das mochte er nicht leiden und suchte sich dann dadurch zu helfen, daß er die Rede auf irgend etwas Angenehmes und Vergnügliches brachte.

Alle Erlebnisse dieses Tages hatten auf Ljewin stark gewirkt, darunter als erstes der Eindruck, den ihm der Bauer auf der Mitte seiner Fahrt gemacht hatte, ein Eindruck, der gleichsam die Basis für alle weiteren Eindrücke des Tages abgab. Dieser liebenswürdige Swijaschski, der sich eine bestimmte Gattung von Gedanken nur so für die Bedürfnisse des gesellschaftlichen Verkehrs hielt und offenbar noch andere, vor Ljewins Spürsinn verborgene Grundanschauungen für sein Handeln besaß und zugleich, wie viele andere Leute, deren Name Legion ist, auf die Anschauungen seiner Mitmenschen durch Gedanken, die ihm selbst fremd waren, leitend einwirkte; dann dieser verbitterte Gutsbesitzer, der durchaus recht hatte in den Schlußfolgerungen, die ihm das Leben aufgezwungen hatte, aber unrecht in seiner Verbitterung gegen eine ganze Volksklasse, und zwar gegen die beste in Rußland; endlich seine eigene Unzufriedenheit mit seiner Tätigkeit und die unklare Hoffnung, daß sich ein Mittel werde finden lassen, um dies alles zu bessern: alles das floß bei ihm zusammen zu einem Gefühle innerer Unruhe und gespannten Wartens auf eine nahe Klärung.

Als Ljewin in dem ihm angewiesenen Zimmer allein geblieben war und auf der Sprungfedermatratze lag, die bei jeder Bewegung seine Arme und Beine unerwartet in die Höhe schnellen ließ, da konnte er lange nicht einschlafen. Nichts von dem, was er in den Gesprächen mit Swijaschski zu hören bekommen hatte, interessierte ihn, obgleich gar manche seiner Äußerungen klug und verständig gewesen war; dagegen fühlte er sich durch die Ausführungen des Gutsbesitzers zum Nachdenken aufgefordert. Unwillkürlich rief er sich alle Worte dieses Mannes ins Gedächtnis zurück und verbesserte in Gedanken das, was er ihm darauf geantwortet hatte.

›Ja, ich hätte ihm sagen sollen: »Sie behaupten, Ihre Wirtschaft gehe deswegen nicht nach Wunsch, weil der Bauer alle Vervollkommnungen hasse und diese von Staats wegen eingeführt werden müßten. Freilich, wenn eine Wirtschaft ohne diese Vervollkommnungen überhaupt nicht gedeihen könnte, dann würden Sie recht haben; nun geht aber die Wirtschaft nur da ordentlich, wo der Arbeiter in einer seinen Gewohnheiten entsprechenden Weise beschäftigt wird, wie bei dem alten Bauern auf der Hälfte des Weges hierher. Aus Ihrer und unserer allgemeinen Unzufriedenheit mit dem Gange der Wirtschaft muß gefolgert werden, daß wir selbst die Schuld daran tragen, und nicht die Arbeiter. Wir versteifen uns schon lange auf unseren, das heißt den europäischen Standpunkt, ohne nach den Eigenheiten der arbeitenden Klasse zu fragen. Versuchen wir es doch einmal, in dem Arbeiter nicht lediglich eine beziehungslose arbeitende Kraft zu sehen, sondern den russischen Bauer mit allen seinen Eigenheiten, und richten wir danach unsere Wirtschaft ein. Stellen Sie sich vor«, hätte ich zu ihm sagen sollen, »daß die Wirtschaft bei Ihnen so geführt wird wie bei jenem alten Bauern, daß Sie ein Mittel gefunden haben, die Arbeiter an dem Erfolge der Arbeit zu interessieren, und daß Sie in den Vervollkommnungen das Mittelmaß gefunden haben, das den Arbeitern nicht widersteht: dann werden Sie, ohne den Boden zu erschöpfen, gegen früher den doppelten und dreifachen Ertrag erzielen. Teilen Sie diesen Ertrag in zwei gleiche Teile und geben Sie die eine Hälfte an die Arbeiter; dann wird der Ihnen verbleibende Teil immer noch größer sein als bisher, und auch die Arbeiter werden mehr erhalten. Um das also zu erreichen, muß man den Stand der Landwirtschaft etwas herabsetzen und die Arbeiter an dem Erfolge der Wirtschaft beteiligen. Wie das zu machen ist, das muß noch im einzelnen überlegt und geprüft werden; aber daß es möglich ist, daran kann kein Zweifel sein.«‹

Dieser Gedanke brachte Ljewin in starke Erregung. Er schlief die halbe Nacht nicht und durchdachte alle zur Ausführung dieser Idee erforderlichen Einzelheiten. Er hatte eigentlich nicht vorgehabt, schon am folgenden Tage wieder abzureisen, faßte aber jetzt den Entschluß, gleich am frühen Morgen wieder nach Hause zu fahren. Zudem erweckte diese Schwägerin mit dem Ausschnitt im Kleide bei ihm eine Empfindung, die mit der Scham und Reue über eine begangene schlechte Tat große Ähnlichkeit hatte. Der Hauptgrund aber, der seine unverzügliche Abreise nötig machte, war: er mußte den Bauern den neuen Plan vorlegen, ehe noch die Winterbestellung begann, damit diese schon auf Grund der neuen Abmachungen stattfinden könne. Er hatte den Entschluß gefaßt, seinen ganzen bisherigen Wirtschaftsbetrieb umzugestalten.