Anna Karenina | Krieg und Frieden

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31

Als Ljewin die Treppe zur Hälfte hinuntergelaufen war, hörte er in der Vorhalle ein ihm wohlbekanntes Husten; aber er hörte es wegen des Geräusches seiner eigenen Schritte nur undeutlich und hoffte, sich geirrt zu haben; dann erblickte er die ganze lange, knochige, ihm so wohlbekannte Gestalt des Ankömmlings, und nun schien die Annahme, daß er sich doch vielleicht täusche, eigentlich nicht mehr möglich; aber immer noch hoffte er, daß er sich irre und daß dieser lange Mann, der da seinen Pelz auszog und so heftig hustete, nicht sein Bruder Nikolai sei.

Konstantin Ljewin liebte seinen Bruder; aber mit ihm zusammen zu sein, war ihm immer eine Qual gewesen. Und nun gar jetzt, wo Konstantin infolge jenes Gedankens, der zuerst ihm selbst in den Sinn gekommen und dann von Agafja Michailowna ausgesprochen war, sich in einem unklaren, verwirrten Seelenzustande befand, gerade jetzt erschien ihm das bevorstehende Wiedersehen mit seinem Bruder besonders peinlich. Statt mit einem lustigen, gesunden, fremden Gaste, der ihm, wie er gehofft hatte, bei seiner seelischen Benommenheit einige Zerstreuung gebracht hätte, mußte er nun mit seinem Bruder zusammen sein, der ihn durch und durch kannte, die geheimsten Gedanken aus ihm herauslocken und ihn zwingen würde, sich vollständig auszusprechen. Und das mochte Konstantin Ljewin nicht.

Aber sofort schalt er auch sich selbst wegen dieser häßlichen Empfindung aus und lief in die Vorhalle hinunter. Und sobald er seinen Bruder aus der Nähe gesehen hatte, war auch dieses Gefühl persönlicher Enttäuschung sofort verschwunden und ein tiefes Mitleid an seine Stelle getreten. Wie schrecklich Nikolai auch schon früher infolge seiner Abmagerung und Krankheit ausgesehen hatte, jetzt war er noch magerer und kraftloser geworden. Er war nur noch ein mit Haut überzogenes Gerippe.

Er stand in der Vorhalle, riß sich unter heftigen, zuckenden Bewegungen des langen, hageren Halses einen Schal ab und lächelte in einer seltsam kläglichen Art. Als Konstantin dieses stille, ergebungsvolle Lächeln sah, da fühlte er, daß ihm ein Krampf die Kehle zusammenpreßte.

»Siehst du wohl, da bin ich zu dir gekommen«, sagte Nikolai mit hohler Stimme, ohne die Augen auch nur eine Sekunde von dem Gesicht seines Bruders wegzuwenden. »Ich hatte es schon längst tun wollen, war aber immer kränklich. Aber jetzt habe ich mich recht erholt«, sagte er und wischte sich mit den großen, mageren Händen die Nässe aus dem Barte.

»Ja, ja!« antwortete Konstantin, und sein Entsetzen steigerte sich noch, als er seinen Bruder küßte und dabei mit den Lippen die Trockenheit seines Körpers fühlte und diese großen, seltsam glänzenden Augen ganz nahe vor sich sah.

Einige Wochen vorher hatte Konstantin Ljewin seinem Bruder geschrieben, daß jener kleine Teil des ererbten Landes, den die Brüder bisher noch ungeteilt zusammen besessen hatten, nunmehr verkauft sei und daß der Bruder jetzt als seinen Anteil gegen zweitausend Rubel zu erhalten habe.

Nikolai sagte, er sei jetzt gekommen, um dieses Geld in Empfang zu nehmen, hauptsächlich aber in der Absicht, einmal eine Zeitlang auf dem Familiensitze zu wohnen und den heimischen Erdboden zu berühren, um daraus wie jene Riesen Kraft für die ihm bevorstehende Tätigkeit zu gewinnen. Trotz seiner gekrümmten Haltung, mit der es noch schlimmer geworden war, trotz der bei seinem hohen Wuchse besonders auffälligen Hagerkeit waren seine Bewegungen, wie auch schon früher, schnell und hastig. Konstantin führte ihn in sein Arbeitszimmer.

Der Bruder kleidete sich mit besonderer Sorgfalt um, was früher nicht seine Art gewesen war, kämmte sein dünnes, schlichtes Haar und ging dann lächelnd hinauf.

Er befand sich in der freundlichsten, heitersten Stimmung, wie Konstantin ihn in ihrer Kinderzeit oft gesehen zu haben sich erinnerte. Selbst von Sergei Iwanowitsch sprach er ohne Bitterkeit. Als er Agafja Michailowna sah, scherzte er mit ihr und erkundigte sich nach den alten Dienern. Die Nachricht von Parfen Denisütschs Tode erweckte bei ihm eine unangenehme Empfindung; eine Art von Schrecken malte sich auf seinem Gesichte; aber er nahm sich sofort wieder zusammen.

»Er war ja auch schon alt«, sagte er und begann dann von etwas anderem zu sprechen. »Ja, ich möchte also etwa zwei Monate bei dir bleiben und dann nach Moskau fahren. Weißt du, Mjachkow hat mir eine Stelle versprochen; ich will in den Staatsdienst treten. Jetzt werde ich mir mein Leben ganz anders einrichten«, fuhr er fort. »Weißt du, diesem Frauenzimmer habe ich den Laufpaß gegeben.«

»Wem? Marja Nikolajewna? Wie ist das zugegangen? Warum denn?«

»Ach, sie war ein gräßliches Frauenzimmer! Sie hat mir eine Menge Unannehmlichkeiten gemacht.« Aber er erzählte nicht, von welcher Art diese Unannehmlichkeiten gewesen seien. Er konnte doch auch nicht sagen, daß er Marja Nikolajewna deshalb weggejagt hatte, weil sie ihm den Tee nicht so stark gekocht hatte, wie er ihn hatte haben wollen, und hauptsächlich deshalb, weil sie ihn wie einen Kranken gepflegt hatte. »Und dann will ich jetzt überhaupt mein Leben vollständig umgestalten. Ich habe ja natürlich Dummheiten gemacht, wie alle Menschen; aber mein Vermögen, das ist das letzte, worum es mir leid tut. Die Hauptsache ist doch immer, daß man gesund ist; nun, und meine Gesundheit hat sich, Gott sei Dank, gebessert.«

Konstantin Ljewin hörte zu und überlegte, was er nun seinerseits sagen könnte, vermochte aber keine passende Erwiderung zu finden. Wahrscheinlich fühlte Nikolai ihm das nach; er begann den Bruder nach dem Gange seiner Wirtschaftsangelegenheiten zu fragen, und Konstantin freute sich, von sich selbst sprechen zu können, weil er da reden konnte, ohne sich zu verstellen. Er erzählte dem Bruder von seinen Plänen und Unternehmungen.

Der Bruder hörte zu, interessierte sich aber augenscheinlich nicht dafür.

Diese beiden Menschen waren miteinander so eng verwandt und standen sich so nahe, daß die geringste Bewegung, der bloße Ton der Stimme für sie mehr besagte als alles, was man mit Worten sagen kann. Jetzt hatten sie beide nur einen Gedanken, der alles übrige erstickte: den an Nikolais Krankheit und nahen Tod. Aber weder der eine noch der andere wagte davon zu sprechen, und daher trug alles, was sie nur reden konnten, den Charakter der Unwahrhaftigkeit an sich, weil es nicht das zum Ausdruck brachte, was sie ausschließlich beschäftigte. Noch nie hatte sich Konstantin so sehr darüber gefreut, daß der Abend vorbei war und man schlafen gehen mußte, wie heute. Noch nie, keinem Fremden gegenüber und bei keinem bloßen Höflichkeitsbesuche, war er so verstellt und unaufrichtig gewesen, wie an diesem Tage. Und von dem Bewußtsein dieser Verstellung und dem Schamgefühl darüber wurde sein Benehmen noch unnatürlicher. Er hätte weinen mögen über seinen geliebten Bruder, der dem Tode entgegenging, und er mußte ihm zuhören, wie dieser seine künftige Lebensweise auseinandersetzte, und selbst darüber mitreden.

Da es im Hause feucht und nur ein Zimmer geheizt war, so ließ Konstantin für seinen Bruder in seinem eigenen Schlafzimmer ein Bett hinter einem Wandschirm zurechtmachen.

Nikolai legte sich hin; ob er nun schlief oder nicht, jedenfalls wälzte er sich wie ein Kranker umher; er hustete viel, und wenn er beim Husten die Kehle nicht ordentlich frei bekam, so brummte er etwas vor sich hin. Manchmal, wenn ihm das Atmen schwer wurde, sagte er: »Ach, mein Gott!« Manchmal, wenn ihn der Schleim zu ersticken drohte, fluchte er ärgerlich: »Zum Teufel nochmal!« Konstantin konnte lange nicht einschlafen, weil er ihn immer hörte. Seine Gedanken waren von sehr verschiedener Art, hatten aber alle ein und denselben Endpunkt: den Tod.

Der Tod, das unvermeidliche Ende von allem, trat ihm zum erstenmal mit unwiderstehlicher Gewalt vor Augen. Dieser Tod hauste bereits dort, in dem geliebten Bruder, der im Halbschlaf stöhnte und nach seiner Gewohnheit unterschiedslos bald Gott, bald den Teufel anrief, und war auch ihm, Konstantin, gar nicht so fern, wie es ihm früher geschienen hatte. Der Tod steckte auch schon in ihm selbst; das fühlte er. Wenn nicht heute, dann morgen; wenn nicht morgen, dann nach dreißig Jahren: kam das nicht auf dasselbe hinaus? Aber was dieser unvermeidliche Tod eigentlich war, das wußte er nicht, und er hatte auch niemals darüber nachgedacht, ja, er hatte auch gar nicht verstanden, darüber nachzudenken, und es nicht gewagt.

›Ich arbeite, ich will etwas schaffen, und ich habe vergessen, daß alles ein Ende nimmt, daß es einen Tod gibt.‹

Er setzte sich im Dunkeln auf dem Bette aufrecht, beugte sich vor, umfaßte seine Knie und dachte in dieser Haltung so angestrengt nach, daß er dabei den Atem anhielt. Aber je mehr er seine Denkkraft anstrengte, um so deutlicher wurde es ihm, daß es sich unzweifelhaft so verhielt: er hatte tatsächlich im Leben einen kleinen Umstand vergessen und übersehen, den Umstand, daß der Tod komme und alles ein Ende nehme, daß es nicht der Mühe lohne, etwas zu beginnen, und daß es dagegen schlechterdings keine Hilfe gebe. ›Ja, das ist furchtbar; aber es ist so.

Aber noch lebe ich ja. Was muß ich also jetzt tun? Ja, was?‹ fragte er sich verzweifelt. Er zündete ein Licht an, stand leise auf, ging zum Spiegel und betrachtete sein Gesicht und seine Haare. Ja, an den Schläfen waren schon graue Haare zu sehen. Er machte den Mund auf. Die Backzähne begannen bereits schlecht zu werden. Er entblößte seine muskulösen Arme. Ja, Kraft besaß er, viel Kraft. Aber auch Nikolai, der dort mit den kläglichen Resten seiner Lunge atmete, hatte ehemals einen gesunden Körper gehabt. Und auf einmal fiel ihm ein, wie sie als Kinder zusammen schlafen gegangen waren und oft nur darauf gewartet hatten, daß Fjodor Bogdanütsch aus der Tür ging, um sich wechselseitig mit den Kissen zu werfen und zu lachen, unbändig zu lachen, so daß selbst die Furcht vor Fjodor Bogdanütsch diese überströmende, überschäumende Lebensfreude nicht hatte hemmen können. ›Und jetzt diese verkrümmte, hohle Brust ... und ich, der ich nicht weiß, wozu ich da bin, und was aus mir werden wird ...‹

 

»Kcha! Kcha! Zum Teufel, was treibst du denn da? Warum schläfst du nicht?« rief ihm sein Bruder zu.

»Ich habe weiter nichts Besonderes; ich weiß nicht, ich kann nicht schlafen.«

»Aber ich habe gut geschlafen; ich schwitze jetzt gar nicht mehr. Überzeuge dich selbst; fühle nur mal mein Hemd! Nicht wahr, es ist gar nicht feucht?«

Konstantin befühlte das Hemd, ging dann wieder hinter den Wandschirm zurück und löschte das Licht aus; aber er konnte lange nicht einschlafen. Nun war er erst vor kurzem mit sich einigermaßen über die Frage ins klare gekommen, wie er leben müsse, und schon trat ihm eine neue, unlösbare Frage entgegen: der Tod.

›Er ist schon im Dahinsterben; im Frühjahr wird es mit ihm zu Ende sein; wie soll ich ihm helfen? Was kann ich zu ihm sagen? Was weiß ich über den Tod? Ich hatte ja sogar vergessen, daß es einen Tod gibt.‹

32

Konstantin Ljewin hatte schon längst die Beobachtung gemacht, daß, wenn Leute einem den Verkehr mit ihnen durch übermäßige Nachgiebigkeit und Unterwürfigkeit unbehaglich gestalten, sie ihn einem sehr bald unerträglich machen durch übermäßige Ansprüche und Händelsucht. Er ahnte, daß es auch mit seinem Bruder so kommen werde. Und in der Tat dauerte die Sanftmut seines Bruders Nikolai nicht lange. Gleich am nächsten Morgen zeigte er sich reizbar und suchte geflissentlich Streit mit Konstantin, indem er dessen wundeste Punkte berührte.

Konstantin fühlte sich schuldig, ohne doch an der Sache etwas bessern zu können. Er wußte: wenn sie sich beide nicht verstellen, sondern ihre wahre Herzensempfindung aussprechen wollten, das heißt nur das, was sie wirklich dachten und fühlten, dann würden sie nur einer dem andern in die Augen sehen, und er, Konstantin, würde nur sagen: ›Du wirst sterben, du wirst sterben!‹ und Nikolai würde nur antworten: ›Ich weiß, daß ich sterben werde; aber ich fürchte mich davor, ich fürchte mich, ich fürchte mich.‹ Und weiter würden sie nichts sagen, wenn sie eben nur ihre Herzensempfindung aussprechen wollten. Aber in dieser Weise konnten sie natürlich nicht nebeneinander leben, und daher versuchte Konstantin zu tun, was er sein ganzes Leben lang zu tun versucht und nicht fertiggebracht hatte, was aber nach seiner Beobachtung viele Leute so ausgezeichnet verstanden und was im Leben geradezu eine Notwendigkeit ist: er gab sich Mühe, etwas anderes zu sagen, als was er dachte, und hatte dabei fortwährend die Empfindung, daß er den Eindruck der Unaufrichtigkeit mache, daß sein Bruder ihn durchschaue und darüber in gereizte Stimmung komme.

Am dritten Tage forderte Nikolai seinen Bruder auf, ihm nochmals seinen Plan vorzutragen, und verurteilte diesen Plan nicht nur als ganz verfehlt, sondern warf ihn auch absichtlich in einen Topf mit dem Kommunismus.

»Du hast lediglich einen fremden Gedanken aufgegriffen; aber du hast ihn verhunzt und willst ihn auf einem Gebiete anwenden, wo er gar nicht hinpaßt.«

»Aber ich sage dir ja, daß mein Unternehmen mit dem Sozialismus nichts gemein hat. Die Sozialisten leugnen die Berechtigung des Eigentums, des Kapitals, der Erbfolge; ich aber verwerfe diesen wichtigsten Ansporn menschlicher Tätigkeit nicht (es war ihm selbst widerwärtig, daß er solche Ausdrücke gebrauchte; aber seit er sich so eifrig der Arbeit an seiner Abhandlung widmete, hatte er unwillkürlich angefangen, immer häufiger nichtrussische Worte zu verwenden), ich will nur die Arbeit regeln.«

»Das ist es eben; du hast einen fremden Gedanken aufgegriffen, ihm alles das genommen, was seine eigentliche Kraft ausmacht, und möchtest einem nun einreden, das sei etwas Neues«, versetzte Nikolai und zerrte ärgerlich an seiner Krawatte.

»Aber mein Gedanke hat ja gar nichts gemein ...«

»Beim Kommunismus«, fuhr Nikolai mit ironischem Lächeln fort, und seine Augen blitzten dabei recht boshaft, »beim Kommunismus kann man wenigstens an dem Reize der Klarheit und Zweifellosigkeit seine Freude haben, ich möchte sagen, so ähnlich wie bei der Mathematik. Mag sein, daß das Ganze ein Hirngespinst ist. Aber nehmen wir einmal an, es wäre möglich, mit der ganzen Vergangenheit reinen Tisch zu machen, das Eigentum, die Familie aufzuheben: dann würde sich auch die Arbeit regeln lassen. Aber bei dir ist ja gar nichts ...«

»Warum rührst du meinen Gedanken mit dem Kommunismus zusammen? Ich bin nie Kommunist gewesen.«

»Aber ich bin einer gewesen und finde, daß der Kommunismus zwar verfrüht, aber doch etwas Verständiges ist und eine Zukunft hat; er befindet sich in derselben Lage wie das Christentum in den ersten Jahrhunderten.«

»Ich meine ja auch nur, man muß die Arbeitskraft vom naturwissenschaftlichen Gesichtspunkte aus betrachten, das heißt sie studieren, ihre Eigenschaften bestimmen und ...«

»Ach was, das ist ganz zwecklos. Diese Kraft findet ganz von selbst, nach dem Maße ihrer Entwickelung, eine bestimmte Form, in der sie sich betätigt. Überall hat es Sklaven gegeben, dann später métayers; auch bei uns gibt es die Halbpartarbeit, es gibt die Pacht, es gibt die Tagelöhnerarbeit; wonach suchst du eigentlich noch weiter?«

Bei diesen Worten seines Bruders geriet Konstantin plötzlich in Hitze, weil er in tiefster Seele fürchtete, daß jener recht habe und daß er, Konstantin, wirklich nur so eine Art Mittelding zwischen Kommunismus und festbestimmten Formen schaffen wolle – und daß das kaum möglich sei.

»Ich suche nach Mitteln, die Arbeit sowohl für mich als auch für den Arbeiter gewinnbringend zu machen. Es liegt mir daran, eine Organisation zu schaffen ...«, antwortete er in starker Erregung.

»Es liegt dir gar nicht daran, eine Organisation zu schaffen. Du willst einfach, wie du das dein ganzes Leben lang getan hast, dich als Original hinstellen und zeigen, daß du die Bauern nicht in kunstloser Weise, sondern nach einem bestimmten Systeme ausbeuten kannst.«

»Nun, wenn du das glaubst, dann gib dich nicht weiter mit mir ab!« antwortete Konstantin; er fühlte, wie sein linker Backenmuskel unhemmbar zuckte.

»Du hast nie Überzeugungen gehabt und hast auch jetzt keine; du willst nur deiner Eitelkeit frönen.«

»Ausgezeichnet! Dann gib dich nicht weiter mit mir ab!«

»Ich will mich auch nicht weiter mit dir abgeben! Dumm von mir, daß ich es so lange getan habe! Hol dich der Teufel! Es tut mir nur leid, daß ich überhaupt hergekommen bin!«

Konstantin gab sich nachher die größte Mühe, seinen Bruder wieder zu beruhigen; aber Nikolai wollte nichts hören; er sagte, es wäre schon das beste, wenn er wieder wegführe, und Konstantin sah, daß seinem Bruder das Leben schon geradezu eine unerträgliche Pein war.

Nikolai hatte bereits alles zur Abreise zurechtgemacht, als Konstantin noch einmal zu ihm trat und ihn in gezwungen klingendem Ton um Verzeihung bat, wenn er ihn irgendwie gekränkt habe.

»Sieh mal, wie großmütig.« erwiderte Nikolai lächelnd. »Wenn du gern recht haben möchtest, so kann ich dir ja dieses Vergnügen machen. Also du hast recht; aber abreisen tue ich trotzdem!«

Erst unmittelbar vor der Abreise küßte Nikolai seinen Bruder, sah ihn auf einmal mit seltsam ernstem Blicke an und sagte: »Trotz alledem, Konstantin, gedenke meiner nicht im bösen!« Seine Stimme zitterte.

Das waren die einzigen Worte, die er in wirklich herzlichem Tone gesprochen hatte. Konstantin fühlte, daß er sich bei diesen Worten hinzudenken sollte: ›Du siehst und weißt, daß es mit mir schlecht steht; wir sehen uns vielleicht nicht wieder.‹ Konstantin verstand dies, und die Tränen stürzten ihm aus den Augen. Er küßte seinen Bruder noch einmal; aber er konnte nicht reden und wußte auch nicht, was er ihm hätte sagen sollen.

Drei Tage nach der Abreise seines Bruders fuhr auch Konstantin Ljewin weg, ins Ausland. Auf der Eisenbahn traf er mit Kittys Vetter Schtscherbazki zusammen, und dieser war über Ljewins düsteres Wesen sehr erstaunt.

»Was hast du denn?« fragte ihn Schtscherbazki.

»Nichts; nichts Besonderes. Es gibt so wenig Vergnügliches auf der Welt.«

»Aber wieso? Komm doch mit mir nach Paris, statt nach deinem Mülhausen zu fahren. Du sollst mal sehen, wie vergnüglich es da ist.«

»Nein, damit habe ich schon abgeschlossen. Für mich ist es Zeit zu sterben.«

»Na, so ein toller Gedanke!« rief Schtscherbazki lachend. »Ich will gerade erst anfangen, so recht zu leben.«

»Ja, so habe ich vor kurzem auch noch gedacht; aber jetzt weiß ich, daß ich bald sterben werde.«

Was Ljewin da sagte, war in der letzten Zeit seine aufrichtige Überzeugung geworden. Er sah in allem nur den Tod oder das Herannahen des Todes. Aber das Unternehmen, das er in die Wege geleitet hatte, interessierte und beschäftigte ihn nur um so mehr. Er mußte doch das Leben ausnutzen, ehe der Tod kam. Dunkelheit verhüllte ihm die ganze Zukunft; aber gerade infolge dieser Dunkelheit hatte er die Vorstellung, daß der einzige leitende Faden in dieser Dunkelheit sein Unternehmen sei, und mit letzter Kraft griff er nach diesem Faden und hielt ihn fest.

Vierter Teil
1

Karenins, Mann und Frau, fuhren fort, unter demselben Dache zu leben und trafen täglich miteinander zusammen; aber sie waren sich vollständig fremd geworden. Alexei Alexandrowitsch hatte es sich zur Regel gemacht, seine Frau täglich zu sehen, damit die Dienerschaft keinen Anlaß habe, sich irgendwelche Gedanken zu machen; aber er vermied es, das Mittagessen zu Hause einzunehmen. Wronski zeigte sich niemals in Alexei Alexandrowitschs Hause; aber Anna traf mit ihm außerhalb des Hauses zusammen, und ihr Mann wußte das.

Diese Lage war für alle drei qualvoll, und keiner von ihnen wäre imstande gewesen, auch nur einen Tag lang in ihr auszuhalten, wenn nicht ein jeder darauf gerechnet hätte, daß diese Lage sich ändern werde, und sich gesagt hätte, daß es nur eine zeitweilige, leidvolle Prüfung sei, die vorübergehen werde. Alexei Alexandrowitsch wartete darauf, daß diese Leidenschaft vergehen werde, wie ja alles in der Welt vergehe, und daß dann bei allen Leuten diese Geschichte in Vergessenheit kommen und sein Name unbefleckt bleiben werde. Anna, durch die diese Lage herbeigeführt war und für die sie noch qualvoller war als für die beiden andern, ertrug sie, weil sie nicht nur hoffte, sondern fest davon überzeugt war, daß sich alles bald entwirren und klären werde. Sie wußte zwar ganz und gar nicht, wodurch diese Entwirrung und Klärung herbeigeführt werden sollte; aber sie war fest überzeugt, daß irgendein derartiges Ereignis in allernächster Zeit eintreten werde. Wronski, der sich ihren Anschauungen unwillkürlich anschloß, wartete gleichfalls auf irgendein von seinen eigenen Entschließungen unabhängiges Geschehnis, durch das alle Schwierigkeiten behoben werden sollten.

Um die Mitte des Winters verlebte Wronski eine Woche in recht langweiliger Weise. Er war zu einem ausländischen Prinzen kommandiert worden, der sich besuchsweise in Petersburg aufhielt, und mußte diesem die Sehenswürdigkeiten der Residenz zeigen. Wronski war in seiner äußeren Erscheinung zu würdevollem Auftreten sehr geeignet; außerdem verstand er die Kunst, sich in würdiger Weise achtungsvoll zu benehmen, und war am den Verkehr mit solchen hohen Herren gewöhnt; daher eben hatte man ihn dem Prinzen beigegeben. Aber er empfand diese Obliegenheit als eine sehr unbequeme Last. Der Prinz wollte nichts weglassen, wonach man ihn zu Hause fragen könnte, ob er es auch in Rußland gesehen habe; und zweitens hegte er auch persönlich den Wunsch, die russischen Vergnügungen nach Möglichkeit durchzukosten. Wronskis Aufgabe war es, ihm in der einen wie in der andern Hinsicht als Führer zu dienen. Vormittags fuhren sie umher, um die Sehenswürdigkeiten in Augenschein zu nehmen; abends beteiligten sie sich an den echt russischen Vergnügungen. Der Prinz erfreute sich einer sehr guten Gesundheit, wie sie sogar bei Prinzen selten ist; durch Turnen und gute Körperpflege hatte er sich derart gekräftigt, daß er trotz des Übermaßes, mit dem er sich den Vergnügungen hingab, so frisch war wie eine große, grüne, glänzende holländische Gurke. Der Prinz war schon viel gereist und fand, daß einer der wichtigsten Gewinne aus der jetzigen Vervollkommnung der Verkehrsmittel darin bestehe, daß einem die Vergnügungen der verschiedenen Völker zugänglich geworden seien. Er war in Spanien gewesen, hatte dort Serenaden gebracht und war mit einer Spanierin, die Mandoline spielte, in nähere Beziehungen getreten. In der Schweiz hatte er eine Gemse geschossen. In England hatte er im roten Frack sein Pferd über Zäune setzen lassen und aus Anlaß einer Wette zweihundert Fasanen geschossen. In der Türkei war er in einem Harem gewesen, in Indien auf einem Elefanten geritten, und jetzt in Rußland wollte er alle echt russischen Vergnügungen genießen.

 

Wronski, der bei ihm gewissermaßen das Amt eines Oberzeremonienmeisters versah, hatte die größte Mühe, all die russischen Vergnügungen, die dem Prinzen von verschiedenen Personen empfohlen waren, auf dem Programm unterzubringen. Da waren Spazierfahrten mit Trabern und russische Pfannkuchen und Bärenjagden und Fahrten mit dem Dreigespann und Zigeunerkonzerte und Trinkgelage, bei denen nach russischem Brauche die Gläser zerschlagen wurden. Und der Prinz machte sich mit bewundernswerter Leichtigkeit das russische Wesen zu eigen, zerschlug ganze Präsentierbretter voll Gläser, nahm eine Zigeunerin auf den Schoß und machte immer ein Gesicht, als ob er fragen wollte: ›Was nun noch weiter? Oder ist das alles, worin das russische Wesen besteht?‹

In Wahrheit gefielen von allen russischen Vergnügungen dem Prinzen am meisten die französischen Schauspielerinnen, eine Ballettänzerin und der weißgesiegelte Champagner. Wronski war gewohnt, mit Prinzen zu verkehren; aber (ob nun daher, daß er selbst sich in letzter Zeit verändert hatte, oder weil er mit diesem Prinzen in allzu nahe Berührung kam) diese Woche wurde ihm furchtbar schwer. Er hatte diese ganze Woche über ununterbrochen ein ähnliches Gefühl, wie wenn jemand einem gefährlichen Irrsinnigen beigesellt ist, den Irrsinnigen fürchtet und zugleich wegen des steten Verkehrs mit ihm um seinen eigenen Verstand besorgt ist. Wronski war sich beständig der Notwendigkeit bewußt, den Ton streng offizieller Ehrerbietigkeit auch nicht für eine Sekunde sinken zu lassen, um nicht selbst beleidigt zu werden. Denn mit einer Art von Verachtung behandelte der Prinz gerade diejenigen Personen, die zu Wronskis Verwunderung sich gar nicht genug darin tun konnten, ihm den Genuß russischer Vergnügungen zu verschaffen. Des Prinzen Urteil über die russischen Frauen, die er zu studieren wünschte, trieb seinem Begleiter Wronski mehrmals die Röte der Entrüstung ins Gesicht. Aber der Hauptgrund, weshalb ihn der Verkehr mit dem Prinzen so verdroß, war der, daß er unwillkürlich in dem Prinzen sein eigenes Ebenbild sah. Und was er in diesem Spiegel erblickte, das war für sein Selbstgefühl nicht besonders schmeichelhaft. Der Prinz war ein sehr törichter, sehr selbstbewußter, sehr gesunder und sehr reinlicher Mensch und weiter nichts. Er war ein Gentleman, das war richtig, und Wronski konnte es nicht leugnen. Er benahm sich gemessen und ohne Kriecherei gegen Höhergestellte, unbefangen und natürlich im Verkehr mit seinen Standesgenossen und behandelte Leute, die unter ihm standen, mit geringschätzigem Wohlwollen. Wronski selbst war von derselben Art und hielt das für eine sehr wertvolle Eigenschaft; aber im Verkehr mit dem Prinzen war er der Tieferstehende, und dieses halb geringschätzige, halb wohlwollende Benehmen ihm gegenüber versetzte ihn in Empörung.

›Ein dummes Stück Vieh! Bin ich wirklich auch so ein Kerl?‹ dachte er.

Wie dem auch sein mochte, als sich Wronski am siebenten Tage, vor der Abreise des Prinzen nach Moskau, von ihm verabschiedet und eine Dankesbezeigung empfangen hatte, war er glücklich, aus dieser unbehaglichen Lage und von diesem unerfreulichen Spiegel freizukommen. Der Abschied fand morgens auf dem Bahnhofe statt, wohin sie soeben von einer Bärenjagd zurückgekehrt waren, bei der man ihnen die ganze Nacht hindurch eine Vorstellung auf dem Gebiete der russischen Unerschrockenheit gegeben hatte.