Anna Karenina | Krieg und Frieden

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Die Leiden des Kranken wurden immer schlimmer, namentlich auch wegen der durchgelegenen Stellen, die nicht mehr geheilt werden konnten; er ärgerte sich immer mehr über alle, die um ihn waren, machte ihnen alles mögliche zum Vorwurf und schalt sie besonders deswegen, weil sie ihm nicht den Arzt aus Moskau kommen ließen. Kitty bemühte sich auf jede Weise, ihm zu helfen und ihn zu beruhigen; aber es war alles vergeblich, und Konstantin sah, daß sie selbst körperlich und seelisch erschöpft war, obwohl sie es nicht zugeben wollte. Das erste feierliche Gefühl der Nähe des Todes, das in aller Herzen durch Nikolais Abschied vom Leben in jener Nacht hervorgerufen war, wo er den Bruder hatte rufen lassen, dieses Gefühl war zerstört. Alle wußten, daß er mit Notwendigkeit und in Bälde sterben werde, daß er bereits halb eine Leiche sei; alle hatten nur den einen Wunsch, daß er recht bald sterben möge. Aber alle verheimlichten diese Erkenntnis und diesen Wunsch, reichten ihm aus dem Fläschchen seine Arznei, ließen andere Arzneien und andere Ärzte holen und suchten den Kranken zu täuschen und jeder sich selbst und einer den andern. All das war Lüge, häßliche, beleidigende, frevelhafte Lüge. Und diese Lüge empfand Konstantin Ljewin von allen am schmerzlichsten, sowohl infolge seiner Charakterbeschaffenheit, wie auch weil er den Sterbenden am meisten liebte.

Konstantin, den schon lange der Gedanke beschäftigte, die Brüder wenigstens vor dem Tode noch miteinander zu versöhnen, hatte an den Bruder Sergei Iwanowitsch geschrieben, und als er seine Antwort erhalten hatte, las er dem Kranken den Brief vor. Sergei Iwanowitsch schrieb, es sei ihm nicht möglich, selbst zu kommen, bat aber in rührenden Ausdrücken den Bruder um Verzeihung.

Der Kranke äußerte nichts dazu.

»Was soll ich ihm zurückschreiben?« fragte Konstantin. »Ich hoffe, du bist nicht mehr zornig auf ihn?«

»Nein, gar nicht!« antwortete Nikolai ärgerlich auf diese Frage. »Schreib ihm, er soll mir den Arzt herschicken.«

Es vergingen noch drei qualvolle Tage; der Kranke verblieb immer im gleichen Zustand. Den Wunsch, daß er bald sterben möge, teilten jetzt alle, die ihn sahen oder von seinem Zustand wußten: die Dienerschaft des Hotels, und der Wirt, und sämtliche Gäste, und der Arzt, und Marja Nikolajewna, und Konstantin Ljewin, und Kitty. Einzig und allein der Kranke sprach keinen derartigen Wunsch aus, sondern war im Gegenteil darüber aufgebracht, daß man nicht den Moskauer Arzt kommen lasse, und fuhr fort, seine Arzneien zu nehmen und vom Leben zu sprechen. Nur in den seltenen Augenblicken, wo das Opium ihn auf kurze Zeit seine ununterbrochenen Leiden vergessen ließ, sprach er mitunter im Halbschlummer den Gedanken aus, der im Grunde stärker als bei allen anderen in seiner Seele rege war: »Ach, wenn es doch erst zu Ende wäre!« oder: »Wann wird das zu Ende sein?«

Die stetig sich steigernden Schmerzen taten ihr Werk und bereiteten ihn zum Tode vor. Es gab schon keine Körperlage mehr, in der er nicht gelitten hätte, keinen Augenblick, wo er sich seiner Schmerzen nicht bewußt gewesen wäre, an seinem ganzen Leibe keinen Fleck, keinen Teil, der ihm nicht weh getan, ihn nicht gepeinigt hätte. Sogar die Erinnerungen, die seelischen Empfindungen, die Gedanken, die in diesem Körper noch vorhanden waren, riefen bei dem Kranken jetzt schon denselben Widerwillen hervor wie der Körper selbst. Der Anblick anderer Menschen, ihre Reden, seine eigenen Erinnerungen, alles dies bereitete ihm lediglich Schmerz und Pein. Seine Umgebung fühlte das, und unwillkürlich vermied es jeder, im Zimmer des Kranken sich frei zu bewegen, ein Gespräch zu führen oder einen Wunsch auszusprechen. Sein gesamter Rest von Lebenstätigkeit beschränkte sich ausschließlich auf das Empfinden seines Leidens und auf den Wunsch, davon erlöst zu werden.

Es vollzog sich in seinem Innern offenbar jener Umschwung, der ihn dahin bringen mußte, im Tod die Erfüllung seiner Wünsche, sein Glück zu sehen. Früher war jeder besondere, durch das Leiden oder durch irgendeinen Mangel hervorgerufene Wunsch, wie Hunger, Müdigkeit, Durst, durch eine Tätigkeit des Körpers befriedigt worden, die ihm Genuß gewährte; jetzt aber war bei seinem Leiden und allem, was er entbehrte, eine Befriedigung seiner Wünsche unmöglich geworden, und jeder Versuch einer Befriedigung verursachte nur neues Leiden. Und daher fanden sich alle seine Wünsche in dem einen Wunsche zusammen, von allen seinen Leiden und von deren Quelle, dem Körper, befreit zu werden. Aber er fand keine Worte, um diesen Wunsch nach Befriedigung auszudrücken, und daher sprach er von diesem Wunsche gar nicht, sondern forderte aus alter Gewohnheit die Erfüllung solcher Wünsche, die doch nicht mehr zu seiner Befriedigung erfüllt werden konnten. »Legt mich auf die andere Seite«, sagte er und forderte gleich darauf, man solle ihn wieder wie vorher lagern. – »Gebt mir Fleischbrühe!« – »Nehmt die Fleischbrühe weg.« – »Erzählt doch etwas; warum schweigt ihr denn immer?« Und sobald sie zu reden anfingen, schloß er die Augen und bekundete Müdigkeit, Gleichgültigkeit und Widerwillen.

Am zehnten Tage nach der Ankunft in der Stadt wurde Kitty krank. Sie hatte Kopfschmerzen und Erbrechen und mußte den ganzen Vormittag über im Bett bleiben.

Der Arzt äußerte, die Krankheit komme von Übermüdung und Aufregung, und verordnete ihr seelische Ruhe.

Am Nachmittag stand Kitty aber doch auf und ging wie immer mit ihrer Handarbeit zu dem Kranken. Er sah sie bei ihrem Eintritt mit einem strengen Blick an und lächelte geringschätzig, als sie sagte, sie sei krank gewesen. An diesem Tage mußte er sich beständig die Nase schnauben und stöhnte kläglich.

»Wie fühlen Sie sich?« fragte sie ihn.

»Schlechter«, brachte er mühsam heraus. »Ich habe Schmerzen.«

»Wo haben Sie denn Schmerzen?«

»Überall.«

»Heute geht es mit ihm zu Ende; Sie werden sehen«, sagte Marja Nikolajewna, zwar flüsternd, aber doch so laut, daß der Kranke, der, wie Konstantin gemerkt hatte, sehr feinhörig war, es gehört haben mußte. Konstantin bedeutete ihr durch Zischen, sie solle still sein, und sah nach dem Kranken hin. Nikolai hatte es gehört; aber diese Worte hatten auf ihn gar keinen Eindruck gemacht. Sein Blick war immer gleich vorwurfsvoll und gespannt.

»Warum denken Sie das?« fragte Konstantin sie, als sie ihm auf den Flur hinaus gefolgt war.

»Er hat angefangen, sich sauber zu machen«, antwortete Marja Nikolajewna.

»Was heißt das: sich sauber zu machen?«

»Sehen Sie: so!« erwiderte sie, indem sie an den Falten ihres wollenen Kleides herumzupfte. Und in der Tat hatte Konstantin bemerkt, daß der Kranke diesen ganzen Tag über an sich herumgegriffen hatte, wie wenn er etwas abzupfen wollte.

Marja Nikolajewnas Voraussage erwies sich als richtig. Der Kranke war zur Nacht nicht mehr imstande, die Arme zu heben, und sah nur vor sich hin, ohne daß sich jemals der aufmerksam gespannte Ausdruck seines Blickes geändert hätte. Selbst wenn sein Bruder oder Kitty sich über ihn beugten, so daß er sie sehen konnte, behielt er dieselbe Art zu blicken bei. Kitty ließ einen Geistlichen holen, der das Sterbegebet lesen sollte.

Während der Geistliche das Gebet las, gab der Sterbende keinerlei Lebenszeichen von sich; seine Augen waren geschlossen. Konstantin, Kitty und Marja Nikolajewna standen neben dem Bett. Der Geistliche hatte das Gebet noch nicht bis zu Ende gelesen, als der Sterbende sich ausstreckte, seufzte und die Augen öffnete. Als der Geistliche das Gebet beendet hatte, legte er ihm das Kreuz an die kalte Stirn und wickelte es dann langsam in sein Schultertuch ein; nachdem er noch etwa zwei Minuten schweigend dagestanden hatte, berührte er die erkaltete blutleere große Hand.

»Er ist verschieden«, sagte der Geistliche und wollte zurücktreten; aber plötzlich bewegte sich der zusammengeklebte Schnurrbart des Daliegenden, und in der Stille wurden die aus tiefer Brust scharf und bestimmt herauskommenden Worte deutlich vernehmbar:

»Noch nicht ganz ... aber bald.«

Eine Minute später hellte sich sein Gesicht auf, unter seinem Schnurrbart zeigte sich ein Lächeln, und die Leichenfrauen, die sich schon versammelt hatten, gingen geschäftig daran, den Toten zurechtzumachen.

Der Anblick des Bruders und die Nähe des Todes hatten in Konstantin Ljewins Seele jenes Gefühl des Grausens vor der Rätselhaftigkeit des Todes und zugleich vor seiner Nähe und Unvermeidlichkeit wieder von neuem wachgerufen, das an dem Herbstabend, wo sein Bruder zu ihm auf Besuch gekommen war, sich seiner bemächtigt hatte. Dieses Gefühl war jetzt in ihm noch stärker als vorher; er fühlte sich jetzt noch weniger fähig als früher, das eigentliche Wesen des Todes zu verstehen, und seine Unvermeidlichkeit erschien ihm noch furchtbarer. Aber jetzt brachte ihn dieses Gefühl, dank der Gegenwart seiner Frau, nicht zur Verzweiflung; denn trotz der Gegenwart des Todes fühlte er die Notwendigkeit, zu leben und zu lieben. Er fühlte, daß die Liebe ihn vor der Verzweiflung rettete und daß diese Liebe infolge der drohenden Verzweiflung noch stärker und reiner wurde.

Kaum hatte sich vor seinen Augen das ungelöst gebliebene Geheimnis des Todes vollzogen, als ein anderes, ebenso rätselhaftes Geheimnis vor ihm erstand, das zur Liebe und zum Leben aufforderte.

Der Arzt stellte die Richtigkeit der Vermutung fest, die er im stillen über Kitty gehabt hatte: ihr Unwohlsein rührte von Schwangerschaft her.

21

Von dem Augenblick an, wo Alexei Alexandrowitsch aus den Unterredungen mit Betsy und mit Stepan Arkadjewitsch ersehen hatte, daß man weiter nichts von ihm verlange, als daß er seine Frau in Ruhe lassen und sie nicht mit seiner Gegenwart belästigen möge und daß seine Frau dies selbst wünsche, seitdem fühlte er sich so rat- und fassungslos, daß er zu keinem eigenen Entschluß fähig war und selbst nicht wußte, was er nun eigentlich wollte. So überließ er sich denn ganz der Leitung der Personen, die sich seiner Angelegenheit mit so großem Vergnügen annahmen, und gab zu allem seine Zustimmung. Erst als Anna bereits sein Haus verlassen hatte und die Engländerin ihn fragen ließ, ob sie mit ihm zusammen oder allein speisen solle, kam er zum ersten Male zu einem klaren Verständnis seiner Lage und geriet über sie in Entsetzen.

 

Was in dieser Lage am schwersten auf ihm lastete, das war, daß er schlechterdings nicht imstande war, seine Vergangenheit mit dem jetzigen Zustand zu vereinigen, zwischen beiden einen inneren Zusammenhang zu finden. Was ihn so in Verwirrung setzte, war nicht etwa jener Abschnitt der Vergangenheit, wo er mit seiner Frau ein glückliches Leben geführt hatte. Den Übergang von diesem Abschnitt der Vergangenheit zur Erkenntnis, daß ihm seine Frau untreu war, hatte er bereits wie ein Märtyrer verwunden; dieser zweite Zustand war schwer zu ertragen gewesen, aber es hatte darin für ihn nichts Unverständliches gelegen. Wäre seine Frau damals, nach dem Eingeständnis ihrer Untreue, von ihm gegangen, so würde ihn das geschmerzt haben, und er würde unglücklich darüber gewesen sein; aber er hätte sich nicht in einer solchen Lage wie jetzt befunden, in einer Lage, die er geradezu nicht verstand und aus der er für sich keinen Ausweg sah. Es war ihm jetzt ganz und gar unmöglich, die kürzlich von ihm so selbstlos gewährte Verzeihung, seine Rührung, seine Liebe zu der kranken Gattin und zu dem fremden Kinde in einen inneren Zusammenhang mit seiner jetzigen Lage zu bringen, das heißt damit, daß er jetzt gleichsam zum Lohne für alle seine Güte vereinsamt, beschimpft und verspottet dastand, von niemand gesucht und von allen verachtet.

An den beiden ersten Tagen nach der Abreise seiner Frau empfing Alexei Alexandrowitsch wie gewöhnlich die Bittsteller und seinen Subdirektor, fuhr ins Komitee und ging zum Mittagessen in das Speisezimmer. Ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen, zu welchem Zweck er das eigentlich tue, spannte er während dieser zwei Tage alle seine Geisteskräfte an, um eine ruhige, sogar gleichmütige Miene zur Schau zu tragen. Bei der Beantwortung der Fragen nach dem, was mit Anna Arkadjewnas Sachen und Zimmern geschehen solle, zwang er sich mit der größten Anstrengung, eine Miene zu machen, als ob für ihn das Vorgefallene nichts Unvorhergesehenes sei und nichts enthalte, was aus dem Rahmen des Gewöhnlichen heraustrete; und er erreichte seinen Zweck: niemand konnte an ihm eine Spur von seiner Verzweiflung gewahren. Aber als am zweiten Tage nach Annas Abreise Kornei ihm die Rechnung eines Modegeschäfts überreichte, die Anna zu bezahlen vergessen hatte, und ihm meldete, ein Angestellter des Geschäfts sei selbst da, ließ Alexei Alexandrowitsch ihn hereinrufen.

»Verzeihen Euer Exzellenz, daß ich Sie zu belästigen wage. Aber wenn Sie befehlen, daß wir uns an Ihre Exzellenz wenden, so haben Sie vielleicht die Gnade, uns deren Adresse mitzuteilen.«

Alexei Alexandrowitsch versank, wie es dem Angestellten vorkam, in Nachdenken; dann wandte er sich plötzlich um, setzte sich an den Tisch und stützte den Kopf in die Hände. In dieser Haltung blieb er lange sitzen, versuchte einige Male zu sprechen, hielt aber jedesmal wieder inne.

Kornei, der die Empfindungen seines Herrn verstand, ersuchte den Angestellten, ein andermal wiederzukommen. Sobald Alexei Alexandrowitsch wieder allein geblieben war, sagte er sich, daß er nicht imstande sei, die Rolle des festen, ruhigen Mannes länger durchzuführen. Er ließ den Wagen, der schon auf ihn wartete, wieder ausspannen, ordnete an, es solle niemand vorgelassen werden, und kam zum Mittagessen nicht aus seinem Zimmer.

Er fühlte, daß er diese von allen Seiten ihm entgegentretende Geringschätzung und Abneigung nicht ertragen könne, die er auch auf dem Gesicht dieses Angestellten so deutlich ausgeprägt sah und auf dem Gesicht Korneis und auf den Gesichtern aller ohne Ausnahme, mit denen er in diesen zwei Tagen zusammengekommen war. Er fühlte, daß er den Haß der Menschen nicht von sich abwenden konnte, weil dieser Haß nicht etwa davon herrührte, daß er ein schlechter Mensch gewesen wäre (dann hätte er sich ja bemühen können, besser zu werden), sondern davon, daß er durch ein schmähliches, garstiges Ereignis ein unglücklicher Mensch geworden war. Er wußte, daß sie deswegen, gerade deswegen, weil sein Herz auf das schmerzlichste zerrissen war, gegen ihn erbarmungslos sein würden. Er fühlte, daß die Menschen ihn vernichten würden, so wie Hunde einen andern, von Wunden zerfleischten, vor Schmerz heulenden Hund erwürgen. Er wußte, daß er sich vor den Menschen nur dadurch retten konnte, daß er seine Wunden vor ihnen verbarg, und er hatte das in diesen zwei Tagen unwillkürlich zu tun versucht; aber jetzt fühlte er sich nicht mehr imstande, diesen Kampf fortzusetzen.

Seine Verzweiflung wurde noch durch das Bewußtsein gesteigert, daß er mit seinem Gram vollständig allein dastand. Er hatte in Petersburg keinen Menschen, demgegenüber er von allen seinen Empfindungen hätte sprechen können, keinen Menschen, der in ihm nicht den hohen Beamten und ein Mitglied der vornehmen Gesellschaft, sondern einfach einen leidenden Menschen gesehen und Mitleid mit ihm gehabt hätte. Und auch sonst kannte er nirgends einen solchen Menschen.

Alexei Alexandrowitsch war als Waise aufgewachsen. Sie waren zwei Brüder. Des Vaters erinnerten sich beide nicht; die Mutter starb, als Alexei Alexandrowitsch zehn Jahre alt war. Vermögen war nur wenig vorhanden. Der Onkel Karenin, ein hoher Beamter und ehedem ein Günstling des verstorbenen Kaisers, sorgte für die Erziehung der beiden Knaben.

Nachdem Alexei Alexandrowitsch das Gymnasium und die Universität mit Auszeichnungen besucht hatte, durchmaß er mit Beihilfe seines Onkels die ersten Strecken der Beamtenlaufbahn in glänzender Weise und kannte seitdem kein anderes Streben als den dienstlichen Ehrgeiz. Weder auf dem Gymnasium noch auf der Universität noch später während seiner Amtszeit knüpfte Alexei Alexandrowitsch mit irgend jemandem freundschaftliche Beziehungen an. Sein Bruder stand ihm seelisch noch am nächsten; aber dieser gehörte zum Stab des Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten und lebte dauernd im Auslande, wo er bald nach Alexei Alexandrowitschs Verheiratung starb.

Zur Zeit, als Alexei Alexandrowitsch das Amt eines Gouverneurs inne hatte, brachte Annas Tante, eine reiche, in der Gouvernementsstadt wohnhafte Dame, ihn, der damals zwar kein junger Mann mehr, aber für einen Gouverneur doch recht jung war, mit ihrer Nichte zusammen und versetzte ihn in eine solche Lage, daß er entweder dem jungen Mädchen einen Antrag machen oder die Stadt verlassen mußte. Alexei Alexandrowitsch schwankte lange. Es sprachen damals ebenso viele Gründe für diesen Schritt wie dagegen, und es lag eigentlich gar kein entscheidender Grund vor, der ihn hätte veranlassen können, von seinem Grundsatz: »Im Zweifelsfalle Zurückhaltung!« abzugehen; aber Annas Tante ließ ihm durch einen Bekannten eindringlich vorstellen, daß er das junge Mädchen bereits bloßgestellt habe und daß er nach dem Gebot der Ehre verpflichtet sei, ihr seine Hand anzubieten. So machte er ihr denn einen Antrag und widmete seiner Braut und künftigen Frau die gesamte Menge von Gefühl, deren er fähig war.

Die Zuneigung zu Anna ließ jedes in seiner Seele noch übrige Verlangen nach einem herzlichen Verhältnisse zu anderen Menschen ersterben. Und jetzt stand ihm von allen seinen Bekannten kein einziger wirklich nahe. Er hatte viele sogenannte Verbindungen, aber keine freundschaftlichen Beziehungen. Alexei Alexandrowitsch kannte viele Leute, die er zu sich zum Mittagessen einladen, die er um ihre Mitwirkung bei einer ihn interessierenden Angelegenheit, um ihre Fürsprache für irgendeinen Bewerber bitten, mit denen er über die Handlungen anderer Personen und der höchsten Regierungsbehörden ohne Hemmung reden konnte; aber die Beziehungen zu diesen Leuten beschränkten sich auf ein durch Brauch und Gewohnheit fest begrenztes Gebiet, das zu überschreiten unmöglich war. Er hatte ja einen Universitätskameraden, dem er nachher etwas nähergetreten war und mit dem er allenfalls über seinen persönlichen Kummer hätte reden können; aber dieser Kamerad war Kurator in einem weit entfernten Bezirk der Unterrichtsverwaltung. Von seinen Petersburger Bekannten standen ihm verhältnismäßig noch am nächsten sein Subdirektor und sein Hausarzt.

Michail Wasiljewitsch Sljudin, sein Subdirektor, war ein schlichter, verständiger, guter, braver Mann, und Alexei Alexandrowitsch hatte die Empfindung, daß er ihm persönlich zugetan sei. Aber ihr fünfjähriges amtliches Verhältnis hatte zwischen ihnen eine Schranke für Herzensergüsse errichtet.

Alexei Alexandrowitsch blickte, nachdem er mit dem Unterschreiben der Papiere fertig war, seinen Untergebenen lange schweigend an und setzte mehrmals zum Reden an, konnte aber kein Wort hervorbringen. Er hatte sich schon den Satz zurechtgelegt: ›Haben Sie von meinem Kummer gehört?‹ Aber schließlich sagte er doch nur wie gewöhnlich: »Also bereiten Sie mir dies vor«, und entließ ihn damit.

Der zweite derartige Bekannte war sein Arzt, der gleichfalls eine freundliche Gesinnung gegen ihn hegte; aber zwischen ihnen beiden bestand schon seit langer Zeit ein stillschweigendes Übereinkommen, einander nicht unnötig lange in Anspruch zu nehmen, da sie beide mit Arbeit überhäuft waren und es immer sehr eilig hatten.

An seine Freundinnen und an die allererste unter ihnen, die Gräfin Lydia Iwanowna, dachte Alexei Alexandrowitsch überhaupt gar nicht. Alle Frauen waren ihm, einfach schon als Frauen, entsetzlich und widerwärtig.

22

Alexei Alexandrowitsch hatte die Gräfin Lydia Iwanowna vergessen, aber sie ihn nicht. In diesem schwersten Augenblick seiner einsamen Verzweiflung besuchte sie ihn und trat unangemeldet in sein Arbeitszimmer. Sie traf ihn am Tische sitzend, den Kopf auf beide Hände gestützt.

»J'ai forcé la consigne«, sagte sie, indem sie schnellen Schrittes auf ihn zutrat; die Erregung und die rasche Bewegung benahmen ihr beinahe den Atem. »Ich habe alles gehört, Alexei Alexandrowitsch, mein Freund«, fuhr sie fort, drückte ihm mit ihren beiden Händen die Hand und blickte ihm mit ihren schönen, schwärmerischen Augen ins Gesicht.

Alexei Alexandrowitsch stand mit finsterer Miene auf und rückte ihr, nachdem er seine Hand frei gemacht hatte, einen Stuhl heran.

»Ist es Ihnen nicht gefällig, Gräfin? Ich empfange nicht, weil ich krank bin«, sagte er; seine Lippen bebten.

»Mein Freund«, sagte die Gräfin Iwanowna noch einmal, ohne die Augen von ihm wegzuwenden, und plötzlich zogen sich ihre Brauen auf den inneren Seiten in die Höhe, so daß sie auf der Stirn ein Dreieck bildeten, wodurch ihr unschönes gelbes Gesicht noch häßlicher wurde. Aber Alexei Alexandrowitsch fühlte, daß sie mit ihm Mitleid habe und nahe daran sei, zu weinen. Und da überkam ihn die Rührung; er ergriff ihre weiche Hand und küßte sie wiederholt.

»Mein Freund«, sagte sie; aber die Stimme wollte ihr vor Erregung nicht gehorchen. »Sie dürfen sich nicht Ihrem Kummer so ganz überlassen. Ihr Leid ist groß; aber Sie müssen Trost finden.«

»Ich fühle mich wie niedergeschmettert, wie zermalmt; ich bin gar kein Mensch mehr«, sagte Alexei Alexandrowitsch; er ließ ihre Hand los, sah ihr aber weiter in die tränenerfüllten Augen. »Meine Lage ist deshalb so furchtbar, weil ich nirgends, auch in mir selbst nicht, einen Stützpunkt finde.«

»Sie werden eine Stütze finden; aber suchen Sie sie nicht in mir, wiewohl ich Sie bitte, an meine Freundschaft zu glauben«, erwiderte sie mit einem Seufzer. »Unsere Stütze ist die Liebe, jene Liebe, die Er uns hinterlassen hat. Seine Last ist leicht«, sagte sie mit jenem verzückten Blick, den Alexei Alexandrowitsch an ihr so gut kannte. »Er wird Ihr Halt und Ihre Hilfe sein.«

Es klang aus diesen Worten die Rührung über die eigenen erhabenen Gefühle heraus; auch spürte man darin die neue, verzückte, erst unlängst in Petersburg Mode gewordene mystische Richtung. Aber obwohl Alexei Alexandrowitsch dergleichen sonst als Überschwenglichkeit verwarf, so hörte er diese Worte jetzt doch nicht ungern.

»Ich bin ganz schwach. Ich bin wie vernichtet. Ich hatte nichts Derartiges vorausgesehen und begreife auch jetzt nichts davon.«

»Mein Freund!« wiederholte Lydia Iwanowna.

 

»Es handelt sich nicht um den Verlust dessen, was dahin ist; nein, darum handelt es sich nicht!« fuhr Alexei Alexandrowitsch fort. »Darüber klage ich nicht. Aber ich kann mir nicht helfen: ich schäme mich vor den Menschen wegen der Lage, in der ich mich befinde. Das ist schlecht von mir; aber ich kann nicht anders, kann nicht anders.«

»Nicht Sie haben jene erhabene Tat der Vergebung vollbracht, die mich und alle entzückt, sondern Er, der in Ihrem Herzen wohnt«, sagte die Gräfin Lydia Iwanowna und richtete schwärmerisch die Augen empor, »und darum dürfen Sie sich Ihrer Tat nicht schämen.«

Alexei Alexandrowitsch machte ein finsteres Gesicht, legte die Hände zusammen und knackte mit den Fingern.

»Man muß alle Einzelheiten kennen, um ein Urteil über meinen Zustand zu haben«, sagte er mit seiner hohen Stimme. »Die Kräfte des Menschen haben ihre Grenzen, Gräfin, und ich bin an der Grenze der meinigen angelangt. Den ganzen Tag über habe ich heute Anordnungen treffen müssen, häusliche Anordnungen, die durch meine neue einsame Situation veranlaßt waren« (er legte einen besonderen Ton auf das Wort »veranlaßt«). »Die Dienerschaft, die Erzieherin, Rechnungen ... Ich wurde sozusagen auf gelinder Glut geröstet und war nicht imstande, es länger zu ertragen. Beim Mittagessen ... ich wäre gestern beinahe während der Mahlzeit vom Tisch weggegangen. Ich konnte es nicht ertragen, wie mein Sohn mich ansah. Er fragte mich nicht, was das alles zu bedeuten habe; aber er wollte fragen, und ich konnte seinen Blick nicht aushalten. Er fürchtete sich, mich anzusehen. Und damit noch nicht genug ...« Alexei Alexandrowitsch wollte von der Rechnung reden, die ihm zugestellt war; aber die Stimme begann ihm zu zittern, und er hielt inne. An diese auf bläuliches Papier geschriebene Rechnung über einen Hut und Bänder konnte er nicht denken, ohne sich selbst auf das tiefste zu bemitleiden.

»Ich verstehe Sie, mein Freund!« erwiderte die Gräfin Lydia Iwanowna. »Ich verstehe alles. Die wahre Hilfe und den wahren Trost werden Sie allerdings bei mir nicht finden; aber doch bin ich nur zu dem Zwecke gekommen, Ihnen zu helfen, wenn ich es vermag. Wenn ich Ihnen doch all diese kleinlichen, erniedrigenden Sorgen abnehmen könnte ... Es ist mir klar, daß hier eine Frau schalten und walten muß. Wollen Sie mich damit beauftragen?«

Alexei Alexandrowitsch drückte ihr schweigend und dankbar die Hand.

»Wir wollen beide gemeinsam für Ihren kleinen Sergei sorgen. Ich habe zwar in praktischen Dingen nicht viel Erfahrung; aber ich werde es übernehmen, ich werde Ihre Haushälterin sein. Danken Sie mir nicht; ich tue das nicht selbst ...«

»Ich muß Ihnen von ganzem Herzen danken.«

»Aber, mein Freund, überlassen Sie sich nicht jenem Gefühl, von dem Sie sprachen: sich dessen zu schämen, was doch die höchste Vollendung des Christen darstellt; denn ›wer sich selbst erniedrigt, der soll erhöhet werden‹. Und danken dürfen Sie mir nicht. Ihm müssen Sie danken und Ihn um Hilfe anflehen. In Ihm allein finden wir Ruhe und Trost und Rettung und Liebe«, sagte sie und begann, die Augen zum Himmel richtend, zu beten, wie Alexei Alexandrowitsch aus ihrem Schweigen schloß.

Alexei Alexandrowitsch hatte ihr zugehört, und die Ausdrücke, die ihm früher wenn auch nicht gerade widerwärtig gewesen, so doch überschwenglich vorgekommen waren, erschienen ihm jetzt so natürlich und tröstlich. Er war kein Freund dieses neumodischen, schwärmerischen Wesens. Er war ein gläubiger Christ, der sich zur Religion vorwiegend vom politischen Standpunkte aus hielt, und die moderne Richtung, die sich mehrere neue Auslegungen gestattete, war ihm namentlich deshalb grundsätzlich zuwider, weil sie dem Streit der Meinungen und einer zersetzenden Kritik Tür und Tor öffnete. Er hatte früher dieser neuen Richtung kühl, ja feindselig gegenübergestanden, sich indessen mit der Gräfin Lydia Iwanowna, die dafür begeistert war, niemals in einen Streit darüber eingelassen, sondern ihre herausfordernden Bemerkungen immer absichtlich mit Stillschweigen übergangen. Jetzt aber hatte er ihre Redewendungen zum erstenmal mit Vergnügen angehört und innerlich ihnen nicht widersprochen.

»Ich bin Ihnen sehr, sehr dankbar für das, was Sie mir Gutes tun und sagen«, äußerte er, nachdem sie aufgehört hatte zu beten.

Die Gräfin Lydia Iwanowna drückte ihrem Freunde noch einmal beide Hände.

»Jetzt will ich mich ans Werk machen«, sagte sie nach einer kurzen Pause des Schweigens lächelnd und wischte sich die Tränenspuren vom Gesicht. »Ich gehe zu Sergei. Nur im äußersten Notfall werde ich mich an Sie wenden.« Sie stand auf und ging hinaus.

Die Gräfin Lydia Iwanowna ging in Sergeis Zimmer und sagte dem Knaben, indem sie die Wangen des Erschrockenen mit ihren Tränen benetzte, sein Vater sei ein Heiliger und seine Mutter sei gestorben.

Die Gräfin Lydia Iwanowna erfüllte ihr Versprechen. Sie nahm wirklich alle Sorgen für die Neuordnung und Leitung von Alexei Alexandrowitschs Haushalt auf sich. Aber sie hatte nicht übertrieben, als sie sagte, sie habe in praktischen Dingen nicht viel Erfahrung. Alle ihre Anordnungen mußten abgeändert werden, da sie einfach unausführbar waren, und zwar wurden sie abgeändert von Alexei Alexandrowitschs Kammerdiener Kornei, der, ohne daß sich jemand dessen recht bewußt geworden wäre, jetzt Karenins ganzen Haushalt leitete und ruhig und vorsichtig seinem Herrn während des Ankleidens alles Erforderliche meldete. Aber dennoch war auch Lydia Iwanownas Hilfe im höchsten Grade wirksam: sie hatte dem Traurigen eine Art von seelischer Stütze verliehen, sowohl dadurch, daß sie ihn hatte erkennen lassen, wie sehr er von ihr geliebt und geschätzt wurde, wie auch namentlich insofern, als sie (und es war ihr ein besonderer Trost, dies zu glauben) ihn schon beinah ganz zum Christentum bekehrt hatte, das heißt ihn aus einem nur lässigen, lauen Gläubigen in einen warmen, eifrigen Anhänger jener neuen Auffassung des Christentums verwandelt hatte, die in letzter Zeit in Petersburg soviel Verbreitung gefunden hatte. Alexei Alexandrowitsch fand keine große Mühe dabei, sich von der Richtigkeit dieser Auffassung zu überzeugen. Ihm sowie der Gräfin Lydia Iwanowna und anderen Leuten, die diese Anschauungen teilten, fehlte es vollständig an Tiefe der Einbildungskraft, an jener geistigen Fähigkeit, die durch die Einbildungskraft hervorgerufenen Vorstellungen in dem Maße wirklich werden zu lassen, daß sie mit anderen Vorstellungen und mit der Wirklichkeit in Übereinstimmung gebracht zu werden verlangen. Er sah nichts Unmögliches und Widerspruchsvolles in der Vorstellung, daß der für die Ungläubigen bestehende Tod für ihn selbst nicht da sei und daß, da er nach seinem eigenen richterlichen Ermessen den vollsten Glauben besitze, auch keine Sünde mehr in seiner Seele vorhanden sei und er schon hier auf Erden der völligen Erlösung teilhaftig werde.

Allerdings hatte auch Alexei Alexandrowitsch selbst ein dunkles Gefühl von der Leichtfertigkeit und Fehlerhaftigkeit dieser Vorstellung über seinen Glauben und wußte, daß er damals, wo er noch gar nicht daran gedacht hatte, sein Verzeihen als die Wirkung einer höheren Macht aufzufassen, sondern sich einfach diesem unmittelbaren Gefühle überlassen hatte, daß er damals ein größeres Glück empfunden hatte als jetzt, wo er sich jeden Augenblick sagte, daß Christus in seiner Seele lebe und daß er, wenn er Papiere unterschrieb, lediglich seinen Willen zur Ausführung bringe. Aber es war ihm ein Bedürfnis geworden, so zu denken; es war ihm in dem Maße Bedürfnis geworden, in seiner Erniedrigung auf dieser wenn auch nur eingebildeten Höhe zu stehen, von der aus er, von allen verachtet, die anderen verachten konnte, daß er sich, wie an einen Rettungsanker, an seine vermeintliche Erlösung anklammerte.

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