Die Kreutzersonate

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III

Nun, so will ich Ihnen also erzählen . . Es ist Ihnen doch recht?«

Ich versicherte nochmals, daß es mir sehr recht sei. Er schwieg eine Weile, fuhr sich mit den Händen über das Gesicht und begann:

»Wenn ich schon davon erzähle, so muß ich alles von Anfang an erzählen: ich muß erzählen, wie und weshalb ich heiratete und wes Geistes Kind ich vor meiner Heirat gewesen bin.

»Ich lebte vor meiner Heirat so, wie alle – d. h. alle, die zu unserem Gesellschaftskreise gehören – zu leben pflegen. Ich bin Gutsbesitzer, Kandidat der Universität und war Adelsmarschall. Ich lebte bis zu meiner Heirat wie alle leben, d. h. ich gab mich Ausschweifungen hin und war überzeugt, daß ich ein ganz normales Leben führe. Ich hielt mich für einen lieben Jungen und einen durchaus moralischen Menschen. Ich war kein Verführer, hatte keine unnatürlichen Neigungen und machte den Sinnengenuß nicht zum Hauptziel meines Lebens, wie das so viele meiner Altersgenossen taten, sondern gab mich der Ausschweifung mit Maß, auf anständige Art, um der Gesundheit willen hin. Ich ging solchen Frauen aus dem Wege, die mich durch die Geburt eines Kindes oder durch allzu große Anhänglichkeit an meine Person hätten fesseln können.

»Übrigens, vielleicht waren Kinder da, und vielleicht war auch gelegentlich eine größere Anhänglichkeit vorhanden, doch ist stellte mich so, als ob nichts davon da wäre. Und das hielt ich nicht nur für moralisch, sondern ich bildete mir gar etwas darauf ein . ..«

Er hielt inne und gab seinen Laut von sich, wie er immer zu tun pflegte, wenn ihm offenbar ein neuer Gedanke durch den Kopf ging.

»Darin liegt ja gerade die Hauptgemeinheit«, schrie er auf. »Die Ausschweifung beruht nicht auf irgend etwas Physischem – physische Unanständigkeit ist bei weitem noch keine Ausschweifung; die Ausschweifung besteht gerade darin, daß der Mann sich von jeglicher moralischen Beziehung zu der Frau, mit der er in physischen Verkehr tritt, für frei hält. Und eben diese Selbstbefreiung rechnete ich mir sogar zum Verdienst an. Ich erinnere mich, welche Qual es mir bereitete, als ich einstmals einer Frau, die sich mir wahrscheinlich aus Liebe hingegeben hatte, kein Geld hatte geben können und wie ich mich erst beruhigte, als ich ihr eine gewisse Summe übersandt und damit zu verstehen gegeben hatte, daß ich mich nunmehr ihr gegenüber in keiner Weise für moralisch gebunden erachte ... Nicken Sie nicht mit dem Kopfe, als wenn Sie mir beistimmten!« schrie er mich plötzlich an. »Ich kenne diese Mätzchen. Wir alle, und auch Sie, wenn Sie nicht eine seltene Ausnahme bilden, haben bestenfalls dieselben Ansichten, die auch ich damals hatte. Nun, gleichviel, nehmen Sie es mir nicht übel,« fuhr er fort, »aber die Sache ist eben die, daß das alles so entsetzlich, entsetzlich, entsetzlich ist!«

»Was ist so entsetzlich?« fragte ich.

»Dieser Abgrund der Verirrung, worin wir hinsichtlich der Frauen und der Beziehungen zu ihnen dahinleben. Nein, ich vermag davon nicht ruhig zu sprechen – nicht darum, weil mir diese ,Episode', wie jener Herr sich ausdrückte, zugestoßen ist, sondern weil mir seit der bewußten Episode die Augen aufgegangen sind und ich alles in einem völlig neuen Lichte sehe. Alles umgekehrt, alles umgekehrt!«

Er zündete sich eine Zigarette an, stützte die Ellbogen auf die Knie und begann aufs neue.

In der Dunkelheit konnte ich sein Gesicht nicht sehen, sondern hörte nur durch das Rütteln des Wagens seine eindringliche, wohlklingende Stimme.

IV

Ja, nur dank den Leiden, die ich erduldete, nur durch sie habe ich die Wurzel alles Übels erkannt, und begriffen, wie alles sein sollte, und darum die ganze Entsetzlichkeit des Bestehenden durchschaut.

»Wollen Sie nun gefälligst aufmerken, wie und wann das seinen Anfang nahm, was schließlich zu meiner Episode führte. Es begann zu einer Zeit, da ich noch nicht volle sechzehn Jahre zählte. Ich war damals noch auf dem Gymnasium und mein älterer Bruder stand als Student im ersten Semester. Ich kannte die Frauen noch nicht, doch war ich, wie all die unglücklichen Kinder unserer Gesellschaftskreise, kein unschuldiger Knabe mehr; seit mehr als einem Jahre war ich bereits durch andere Knaben verdorben. Schon machte mir die Frau zu schaffen, nicht eine bestimmte Frau, sondern die Frau als ein süßes Etwas, die Frau schlechthin, jede Frau, die Nacktheit der Frau war es, die mich bereits peinigte. In den Stunden der Einsamkeit vermochte ich nicht, meine Reinheit zu wahren. Ich litt und quälte mich, wie neunundneunzig vom Hundert unserer Knaben sich quälen. Entsetzen ergriff mich, ich duldete, ich betete – und kam immer wieder zu Falle. Ich war bereits verdorben in Gedanken und in Wirklichkeit, den letzten Schritt jedoch hatte ich noch nicht getan. Ich ging allein dem Untergange entgegen, hatte aber noch nicht Hand angelegt an ein anderes menschliches Wesen. Doch ein Kamerad meines Bruders, gleichfalls Student, ein lustiger Bursche, ein sogenannter guter Kerl, d. h. ein richtiger Taugenichts, der uns auch das Trinken und Kartenspielen beigebracht hatte, überredete uns nach einer Kneiperei, ,dahin' zu fahren. Und so fuhren wir denn da hin. Mein Bruder, der gleichfalls noch unschuldig war, kam in jener Nacht zu Falle. Und ich, der sechzehnjährige, unreife Bursche, besudelte mich selbst und half ein Weib besudeln, ohne auch nur im geringsten zu begreifen, was ich tat. Hatte mir doch niemand von den Älteren je gesagt, daß das, was ich tat, etwas Böses sei. Auch heute wird man eine solche Warnung nie zu hören bekommen. In den ›zehn Geboten‹ ist davon allerdings die Rede, gewiß, aber die ›zehn Gebote‹ sind doch schließlich nur dazu da, daß man dem Religionslehrer bei der Prüfung eine Antwort gibt, auch sind diese Gebote lange nicht so wichtig, wie das Gebot über den richtigen Gebrauch des ›ut‹ in Bedingungssätzen.

So hatte ich von allen älteren Leuten, auf deren Meinung ich Wert legte, nie davon gehört, daß es sich dabei um etwas Böses handle. Im Gegenteil hatte ich von diesen Leuten, die ich hochschätzte, immer nur gehört, die Sache sei durchaus gut und löblich. Ich hatte gehört, daß meine Kämpfe und Leiden danach zum Stillstand kommen würden, hatte es gehört und gelesen; von älteren Leuten hatte ich gehört, daß diese Sache der Gesundheit dienlich sei, und die Kameraden meinten, es läge darin etwas Verdienstliches, eine gewisse Schneidigkeit. Man sah also darin nur lauter Gutes. Die Gefahr einer Erkrankung? Auch dafür ist Vorsorge getroffen. Die Polizeibehörde trifft ihre umsichtigen Maßnahmen. Sie überwacht und regelt das Leben der Freudenhäuser und schützt die Ausschweifungen der Gymnasiasten. Besoldete Ärzte tragen Sorge dafür. Somit ist alles aufs beste bestellt. Sie behaupten, die Ausschweifung sei der Gesundheit zuträglich, und sie achten darauf, daß die Ausschweifung ihren wohlgeregelten, geordneten Gang nehme. Ich kenne Mütter, die in dieser Hinsicht sich selbst um die Gesundheit ihrer Söhne bekümmern. Und auch die Wissenschaft schickt ja die jungen Leute in die Freudenhäuser.«

»Die Wissenschaft? Wieso?« fragte ich.

»Nun, was sind denn die Ärzte anderes als Priester der Wissenschaft! Wer verdirbt denn die jungen Leute durch die Behauptung, daß dies für die Gesundheit notwendig sei – wer denn anders als sie? Und dann kurieren sie mit dem ernstesten Gesichte von der Welt – die Syphilis!«

»Warum soll man denn die Syphilis nicht heilen?«

»Weil, wenn auch nur der hundertste Teil der Anstrengungen, welche auf die Heilung der Syphilis verwandt werden, der Bekämpfung des Lasters gewidmet würde, die Syphilis längst ausgerottet wäre. So aber werden diese Anstrengungen nicht zur Bekämpfung der Ausschweifung, sondern zu ihrer Förderung, zur Sicherung ihrer Gefahrlosigkeit verwendet. Doch nicht das ist der Kernpunkt der Sache. Der Kernpunkt ist vielmehr, daß ich, gleich neun Zehnteln – oder noch mehr – der jungen Leute unserer Kreise, ja überhaupt aller, auch der bäuerlichen Kreise, das Unglück hatte, nicht dem natürlichen Zauber der Reize einer bestimmten Frau zu erliegen. Nein, nicht eine Frau hat mich verführt, sondern ich erlebte diesen sittlichen Fall darum, weil die Angehörigen des mich umgebenden Gesellschaftskreises in meinem sittlichen Fall teils eine normale, gesundheitsfördernde Funktion, teils einen völlig natürlichen, nicht nur verzeihlichen, sondern sogar unschuldigen Zeitvertreib eines jungen Mannes sahen. Ich begriff gar nicht, daß hier von einem sittlichen Fall die Rede sein könne; ich begann mich diesen Dingen einfach hinzugeben, die einerseits als Vergnügen, andrerseits als Bedürfnis gelten und, wie man mir eingeprägt hatte, einem bestimmten Alter eigentümlich seien, begann mich dieser Ausschweifung hinzugeben, wie ich seinerzeit mit dem Trinken und Rauchen begonnen hatte. Und doch lag in diesem ersten sittlichen Fall etwas Besonderes und tief Bewegendes.

Ich erinnere mich, daß mir gleich dort, an Ort und Stelle, bevor ich noch das Zimmer verlassen hatte, ganz traurig zumute wurde, so traurig, daß ich nahe daran war, zu weinen. Zu weinen um meine verlorene Unschuld, um das für immer zerstörte Verhältnis zum Weibe. Ja, das natürliche, einfache Verhältnis zum Weibe war für mich auf immer verloren; ein reines Verhältnis zum Weibe gab es seither für mich nicht mehr und konnte es nicht mehr geben. Ich war das geworden, was man einen Wüstling nennt. Und ein Wüstling zu sein, ist ein ähnlicher physischer Zustand wie der Zustand des Morphinisten, des Trinkers, des Rauchers. Wie der Morphinist, der Trinker, der Raucher kein normaler Mensch mehr ist, so ist der Mann, der mehrere Frauen zu seinem Genusse kennengelernt hat, kein normaler Mensch mehr, sondern ein für immer verdorbener ›Wüstling‹. Wie man den Trinker und den Morphinisten sogleich am Gesichte und am ganzen Gebaren erkennt, so ist auch der Wüstling sogleich als solcher zu erkennen. Der Wüstling mag sich bemühen, enthaltsam zu sein und seinen Hang zu bekämpfen – eine einfache, klare, reine Beziehung zum Weibe, wie die Beziehung des Bruders zur Schwester, wird es für ihn niemals mehr geben. An der Art, wie er aufblickt und ein junges Weib ansieht, ist der Wüstling zu erkennen. So war ich also ein Wüstling geworden und blieb ein solcher, und das eben war es, was mich zugrunde gerichtet hat.«

 

V

Ja, so ist es; dann ging es weiter und weiter, ich hatte alle möglichen Verhältnisse. Mein Gott, wenn ich so an alle Gemeinheiten zurückdenke, die ich in dieser Hinsicht begangen habe, dann erfaßt mich ein wahrer Schrecken. Und dabei lachten mich die Kameraden noch aus wegen meiner sogenannten Unschuld. Was bekam man erst zu hören, wenn von der goldenen Jugend, den Offizieren, den Gecken nach Pariser Art die Rede war! Und wie kamen sich alle diese Herren, darunter auch ich, diese dreißigjährigen Lebemänner, die wohl Hunderte aller möglichen abscheulichen Verbrechen gegen die Frauen auf dem Gewissen hatten, wie kamen sie sich vor, wenn sie sauber gewaschen, glatt rasiert und parfümiert, in schimmernder Wäsche, in Frack oder Uniform in den Empfangssalon oder den Ballsaal traten – ein wahres Sinnbild der Reinheit, zum Entzücken!

Bedenken Sie doch einmal, wie es eigentlich sein müßte, und wie es in Wirklichkeit ist! Es müßte so sein: wenn in einer Gesellschaft ein solcher Herr sich meiner Schwester oder Tochter nähert, so müßte ich, der ich sein Leben kenne, zu ihm hintreten, ihn auf die Seite nehmen und ihm leise ins Ohr flüstern: ›Mein Lieber, ich weiß, was für ein Leben du geführt hast, wie und mit wem du deine Nächte verbringst. Du gehörst nicht hierher. Hier sind reine, unschuldige Mädchen. Entferne dich!‹ So müßte es sein; in Wirklichkeit aber ist es so, daß, wenn ein solcher Herr auf der Bildfläche erscheint und mit meiner Schwester oder Tochter tanzt und sie an sich preßt, wir förmlich jubeln, wofern er nur reich ist und gute Verbindungen hat. Wer weiß, vielleicht macht er nach dieser oder jener berühmten Kurtisane auch meine Tochter glücklich! Und wenn selbst Spuren einer Erkrankung an ihm verblieben sind – was tut es? Heutzutage bringt die Medizin so etwas ganz leicht weg. Ja, ich kenne sogar ein paar Mädchen aus den höheren Kreisen, die von ihren Eltern bereitwilligst an Männer verheiratet wurden, denen eine gewisse Krankheit tief im Leibe saß. Oh, oh ... welche Gemeinheit! Doch es kommt die Zeit, da auch diese Gemeinheit und Lüge entlarvt werden wird!«

Er ließ mehrmals seinen sonderbaren Laut hören und machte sich an seinen Tee. Der Tee war sehr stark – es war kein Wasser da, um ihn zu verdünnen. Ich spürte es, wie sehr mich die zwei Gläser erregten, die ich getrunken hatte. Auch auf ihn mußte der Tee wohl eingewirkt haben, denn er wurde immer erregter. Seine Stimme nahm immer mehr einen markanten, singenden Ausdruck an. Jeden Augenblick wechselte er seine Haltung, nahm seine Mütze ab, setzte sie wieder auf und sein Gesicht veränderte sich ganz seltsam in dem Halbdunkel, worin wir saßen.

»So also lebte ich bis zu meinem dreißigsten Jahre,« fuhr er fort, »und nicht einen Augenblick gab ich die Absicht auf, zu heiraten und ein ganz ideales, reines Familienleben zu begründen, und in dieser Absicht sah ich mich eifrig unter den jungen Mädchen um, die für mich in Betracht kommen konnten. Ich besudelte mich selbst mit dem Schmutz der Ausschweifung und schaute gleichzeitig nach jungen Mädchen aus, die im Punkte der Keuschheit meiner würdig wären! Viele schied ich eben darum aus dem Wettbewerb aus, weil sie mir nicht rein genug erschienen; endlich aber fand ich eine, die ich für würdig erachtete, meine Gattin zu werden. Es war eine der beiden Töchter eines Gutsbesitzers aus dem Gouvernement Pensa, der einstmals sehr reich gewesen war, jedoch sein Vermögen verloren hatte.

Eines Abends, nachdem wir zusammen eine Kahnfahrt gemacht hatten und beim Mondschein heimgekehrt waren, saß ich neben ihr und war ganz entzückt von ihrem schlanken, in eine knappe englische Robe gepreßten Figürchen und ihren Locken; plötzlich kam ich zu dem Entschluß: sie und keine andere ist es! Es schien mir an jenem Abend, daß sie alles, alles verstehe, was ich fühlte und dachte. In Wirklichkeit lag nichts weiter vor, als daß die englische Robe und die Locken ihr ausnahmsweise gut zu Gesichte standen, und daß ich nach dem in ihrer traulichen Nähe verbrachten Tag den Wunsch nach noch intimerer Traulichkeit hegte.

Merkwürdig, wie leicht die Menschen der Illusion verfallen, daß Schönheit zugleich auch Güte sei! Eine schöne Frau kann ruhig Dummheiten schwatzen – man hört ihr zu und hört nicht die Dummheiten heraus, sondern nur lauter kluge Sachen. Sie redet und tut häßliche Dinge – und man findet alles nett. Redet sie nun gar weder dumme noch häßliche Dinge und ist sie wirklich schön: gleich bildet man sich ein, sie sei ein Wunder an Verstand und Tugend.

Ich war in einem Wonnerausch heimgekehrt, vollkommen überzeugt, daß sie der Gipfel sittlicher Vollkommenheit, daher würdig sei, meine Gattin zu werden, und so trug ich ihr denn am nächsten Tage meine Hand an.

Was für eine Begriffsverwirrung! Unter tausend Männern, die heiraten, gibt es – nicht nur in unseren Kreisen, sondern leider auch in den breiten Volksschichten – kaum einen einzigen, der nicht vorher schon zehn-, ja, wie Don Juan, hundert- und tausendmal verheiratet gewesen wäre.

Es gibt allerdings heutigestags, wie man mir sagt, und wie ich selbst beobachtet habe, sittenreine junge Leute, die da fühlen und wissen, daß dies kein Scherz ist, sondern eine sehr, sehr ernste Sache. Gott segne sie! Zu meiner Zeit gab es nicht einen einzigen auf zehntausend. Und alle wissen das und stellen sich so, als ob sie es nicht wüßten. In allen Romanen sind die Gefühle der Helden, die Teiche und Gebüsche, an denen sie entlang wandeln, bis ins kleinste geschildert; doch wenn die große Liebe solch eines Helden zu irgendeinem Mädchen beschrieben wird, verschweigt man wohlweislich, was mit ihm, diesem interessanten Helden, früher vorgefallen ist; kein Wort verlautet von seinen Besuchen in den Freudenhäusern, von seinen Abenteuern mit Stubenmädchen, Köchinnen und fremden Frauen. Wenn aber solche ›unanständigen‹ Romane dennoch existieren, so gibt man sie gerade denjenigen nicht in die Hand, die sie vor allem lesen sollten, nämlich – den jungen Mädchen.

Den jungen Mädchen wird zunächst einmal vorgeheuchelt, daß die Unsittlichkeit, die die Hälfte des Lebens unserer Städte und selbst unserer Dörfer ausfüllt, überhaupt gar nicht existiere. Dann gewöhnt man sie so sehr an diese Heuchelei, daß sie schließlich, wie die Engländer, allen Ernstes zu glauben beginnen, wir seien alle sehr moralische Menschen und lebten in einer sehr moralischen Welt. Die armen Mädchen glauben das wirklich steif und fest. Auch meine unglückliche Frau glaubte es. Ich erinnere mich, wie ich einmal als Verlobter ihr mein Tagebuch zeigte, aus dem sie wenigstens einiges aus meiner Vergangenheit erfahren konnte, namentlich über mein letztes Verhältnis, über das sie leicht auch von anderer Seite unterrichtet werden konnte, so daß ich es vorzog, sie selbst darüber einiges wissen zu lassen. Ich erinnere mich ihres Entsetzens, ihrer Verzweiflung, ihrer Verwirrung, als sie alles erfahren und begriffen hatte. Ich sah, daß sie damals mit mir brechen wollte. Ach, warum hat sie es nicht getan? ...«

Er ließ wieder seinen Laut hören, schlürfte noch einen Schluck Tee und schwieg eine Weile.

VI

»Doch nein, es ist besser so, wirklich besser!« rief er dann laut aus. »Es ist mir ganz recht geschehen. Aber nicht davon soll die Rede sein. Ich wollte sagen, daß die Betrogenen hier doch eigentlich nur die unglücklichen Mädchen sind.

Die Mütter wissen das recht gut, namentlich jene Mütter, die von ihren Männern erzogen worden sind. Und während sie sich so stellen, als glaubten sie an die Reinheit der Männer, handeln sie in der Praxis ganz anders. Sie wissen, mit welchem Köder sie für sich und ihre Töchter die Männer fangen sollen.

Nur wir Männer allein wissen es nicht – und zwar wissen wir es darum nicht, weil wir es nicht wissen wollen, während die Frauen sehr wohl wissen, daß die sogenannte ideale Liebe nicht von moralischen Vorzügen abhängt, sondern von der physischen Vertraulichkeit und von solchen Dingen wie die Frisur, die Farbe und der Schnitt des Kleides. Fragen Sie eine erfahrene Kokette, die es sich vorgenommen hat, einen Mann zu bezaubern, was sie eher riskieren würde: in seiner Gegenwart der Lüge, der Grausamkeit, ja selbst der Unsittlichkeit überführt zu werden oder in einem schlecht gearbeiteten, geschmacklosen Kleide vor ihm zu erscheinen! Jede einzelne wird sich für das erste entscheiden. Sie weiß, daß die erhabenen Gefühle, die unsereins zur Schau trägt, durch und durch erlogen sind, daß es dem Manne nur auf den Körper ankommt, daß er alle Laster verzeiht, nicht aber ein häßliches, schlecht gearbeitetes, geschmackloses Kleid.

Die Kokette ist sich dessen klar bewußt, dem unschuldigen Mädchen aber sagt es, wie den Tieren, eine aus dem Unbewußten kommende Empfindung.

Daher diese englischen Roben, diese abscheulichen Tournüren, diese nackten Schultern, Arme und womöglich auch Brüste. Die Frauen, namentlich jene, die durch die Schule der Männer gegangen sind, wissen sehr wohl, daß die Gespräche über ideale Dinge eben nur Gespräche sind, und daß der Mann nur nach dem Körper verlangt und nach alledem, was diesen anziehend und verlockend erscheinen läßt. Und danach richten sie sich dann auch. Streifen wir nur einmal die Gewöhnung an diese Zuchtlosigkeit ab, die uns zur zweiten Natur geworden ist, und betrachten wir das Leben unserer höheren Klassen in der ganzen Schamlosigkeit, in der es sich darstellt, dann haben wir tatsächlich nichts weiter vor uns als ein einziges Freudenhaus ... Sie wollen das bestreiten? Gestatten Sie, ich will es Ihnen beweisen«, versetzte er, mich unterbrechend. »Sie sagen, die Frauen unserer Gesellschaft hätten andere Interessen als die Frauen in den Freudenhäusern, und ich sage Ihnen: das ist nicht der Fall, und ich werde Ihnen das beweisen. Wenn zwei Menschen sich in ihren Lebenszielen und ihrem Lebensinhalt unterscheiden, so wird dieser Unterschied zweifellos auch in ihrem Äußeren zutage treten, dieses Äußere wird bei beiden verschieden sein. Werfen Sie nur einen Blick auf jene Unglücklichen, Geächteten, und auf die vornehmen Damen unserer höchsten Gesellschaft: dieselben Toiletten, derselbe Schnitt, dieselben Parfüms, dieselben nackten Arme, Schultern und Brüste und dieselben knappen, prallen Tournüren; die gleiche Schwäche für Edelsteine, für kostspielige, blitzende Gegenstände, die gleiche Vorliebe für Vergnügungen und Tanz, für Musik und Gesang. Gleichwie jene die Männer durch alle möglichen Mittel anzulocken suchen, so auch diese. Nur daß die Prostituierten ›für kurze Frist‹ in der Regel mit Verachtung behandelt werden, während die Prostituierten ›für lange Frist‹ volle Hochachtung genießen.«

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