Die Grenze

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4

Es war ein sonniger Montagmorgen, an dem Kris zusammen mit seiner frisch verheirateten Juleen in das kleine Haus am Ende der Herrenhäuser Straße einzog. Ihr vierjähriger Sohn, Merlin, lief aufgeregt zwischen den Handwerkern und den Möbelpackern der Umzugsgesellschaft hin und her. Während seine Mutter ihn grade zum ungefähr tausendsten Mal ermahnte, dass er das ewige Rumgerenne doch bitte unterlassen solle, wies Kris die Möbelpacker an, das Ehebett, welches sie vorher für den Transport zum Teil auseinandergebaut hatten, in das Schlafzimmer zu bringen. Die Spedition, die sie für ihren Umzug engagiert hatten, war zum Glück alles andere als unkoordiniert, sodass der große Lastwagen mitsamt den Möbelpackern Dulingen gegen Mittag bereits wieder verließ. Eine halbe Stunde später, nachdem die Satellitenschüssel auf dem Dach angebracht und mit dem Fernseher verbunden worden war, verließ auch der schmierige Elektriker mit Haaren, die vor Fett nur so glänzten, das Haus.

Am Nachmittag waren auch Kris und Juleen mit dem Einräumen der letzten Sachen fertig und ließen sich erschöpft auf das große Sofa neben Merlin fallen, der bereits den Kinderkanal auf dem Fernseher für sich entdeckt hatte. Heute würden sie ihm etwas mehr Freiheiten gewähren als sonst. Schließlich war es auch für ihn ein aufwühlender und mit Sicherheit auch anstrengender Tag gewesen. Sollte er heute ruhig etwas Aufregung abbauen können, ehe er ab morgen wieder seine geregelten Fernsehzeiten – von 12 bis 13 Uhr und von 17 bis 18:30 Uhr - bekommen würde.

Gegen halb sechs machten die drei sich auf den Weg und erkundeten ihre neue Umgebung ein wenig. Zwar hatten sie das schon, nachdem sie sich das Haus angesehen und für sich entschieden hatten, dass sie es kaufen würden, aber immerhin lag dies auch schon ein paar Monate zurück. Auf dem Rückweg kauften sie in der Bäckerei, die sich im Eingangsbereich des Supermarktes befand, für sich einen Käsekuchen und für Merlin ein Stück Schokoladenkuchen mit Vanillepudding. Beides war verhältnismäßig trocken und schmeckte ziemlich langweilig, aber auch das spielte heute keine Rolle. Heute war es in Ordnung, dass nicht alles nach Plan lief.

Wieder zuhause angekommen, - Merlin trank einen Kakao mit drei Löffeln Pulver anstatt der üblichen zwei, denn heute war auch das in Ordnung - befüllte Kris die Kaffeemaschine für fünf Tassen Kaffee und setzte sich mit seiner braunen Ledermappe voller Briefe und anderer zu unterschreibender Dokumente auf einen der Holzstühle mit rotem Sitzpolster an den langen, rechteckigen Esstisch. Er war Arzt und hatte sich, nach nicht ganz zehn Jahren im Krankenhaus, entschieden eine eigene Praxis zu führen. Nach etlichen Bewerbungen, die alle gnadenlos abgeschmettert wurden, fand er schließlich einen Arzt in Dulingen, Dr. Beram, der für seine Praxis einen Nachfolger suchte. Umgehend schickte er seine Bewerbung ab und bekam zwei Tage später die Einladung für ein Bewerbungsgespräch.

Nachdem er zwei Jahre bei ihm als Assistenzarzt gearbeitet hatte, ging Dr. Beram in Rente und übertrug die Führung der Praxis an Kris, der wenig später aus diesem Grund in die nähere Umgebung der Praxis, nach Dulingen, zog. Nicht wenige, um genau zu sein zwei Drittel seiner Patienten, wohnten genau wie er in Dulingen und kamen jeden Montag bis Freitag zu ihm in die Praxis, um ihm von ihren Leidensgeschichten und anderen Wehwehchen zu berichten. Da er weder ein Verfechter der simplen Drei-Minuten-Medizin, noch der unorthodoxen Methode, alles im kompliziertesten und unverständlichsten Fachlatein zu erklären, das nur er selbst verstand, war, nahm er sich immer besonders Zeit für seine Patienten. Natürlich beanspruchte dies auch seine Zeit und seine Sprechstunden dauerten meist deutlich länger, als es auf dem Schild neben der Eingangstür stand, und wie immer beschwerten sich seine Patienten über die langen Wartezeiten, wollten aber zugleich selbst eine halbe Stunde mit dem Herrn Doktor reden. Wenn man selbst etwas hinnehmen muss, ist man der Erste, der direkt zeter und mordio schreit, aber wenn andere einen Nachteil haben, heißt es, dass sie sich doch nicht so anstellen sollen. Manchmal ist es schwer zu glauben, dass der Mensch tatsächlich ein intelligentes Lebewesen sein soll. Würden die verstaubten und knochigen Wissenschaftler eines Tages aus ihren Laboren, abgeschnitten von Sauerstoff und Tageslicht, hervorkommen und sich die Welt nicht bloß unter dem Mikroskop ansehen, dann würden vielleicht einige von ihnen sich an den Kopf schlagen und feststellen, dass wir alles andere als intelligent sind.

Nachdem Merlin seinen Kakao ausgetrunken hatte, verzog er sich in sein neues Zimmer und begann seine Playmobilfiguren aus dem großen Umzugskarton auszuräumen. Eine Stunde später, als Juleen nach ihm sehen wollte, fand sie ihn eingeschlafen auf dem Fußboden neben seinen Figuren liegen. Vorsichtig hob sie ihn hoch und legte ihn in sein Bett, wobei er kurzzeitig verwirrt die Augen öffnete, aber sie sofort wieder schloss und weiterschlief. Liebevoll küsste sie ihn auf die Stirn, dann ging sie zurück ins Wohnzimmer, wo Kris grade, sichtlich fertig mit dem Unterschreiben sämtlicher Dokumente, dabei war seine prall gefüllte Ledermappe zu schließen.

„Und? Was macht er?“, fragte Kris mit einem erleichterten Seufzen und griff nach seiner Tasse mit Kaffee. Es war bereits die Vierte, die er trank.

„Er ist eingeschlafen“, sagte Juleen mit einem Lächeln auf den Lippen und setzte sich auf den Stuhl gegenüber von ihrem Mann.

„Gut. Ich hatte Sorge, dass wir ihn heute wegen der ganzen Aufregung gar nicht ins Bett bekommen würden“, sagte er, wobei er ihr Lächeln müde erwiderte.

„Ich glaube, er steckt die Aufregung echt gut weg. Wir können wirklich stolz auf ihn sein.“

„Ja das stimmt“, antwortete Kris. Das Lächeln verschwand langsam aus seinem Gesicht, und er starrte nachdenklich auf die Holzmaserung des Tisches.

„Was ist los?“, fragte Juleen besorgt und strich ihm seine dunklen Haare von der Stirn, wie bei einem Kind.

„Nichts weiter“, entgegnete er und lächelte sie gezwungen an.

Sie erwiderte sein Lächeln nicht. Sie wusste, dass etwas nicht mit ihm stimmte. Sie waren schon zu lange zusammen, als dass er sie mit so einer billigen Ausrede abspeisen konnte. Früher einmal hatte sie es sich gefallen lassen, dass er nicht mit ihr über manches reden wollte, das ihn bedrückte, aber inzwischen hatte sich das geändert. Inzwischen waren sie verheiratet und hatten einen gemeinsamen Sohn. Es wäre mehr als unfair, ihr nicht zu sagen, was mit ihm los sei. Das könne er mit jemand anderem, jemand Unbedeutenderen für ihn machen, aber nicht mit ihr. Fragend und mit einem Blick, der mehr als genug sagte, musterte sie ihn sorgfältig.

„Was soll das?“, fragte sie schließlich, nachdem er immer noch keine Anstalten machte, seinen niedergeschlagenen Blick zu erklären.

„Was soll was?“

„Du verheimlichst mir etwas.“

„Wie kommst du denn darauf?“, fragte er und schmunzelte verlegen, wodurch er sich endgültig enttarnte.

„Bitte hör auf, mir etwas vormachen zu wollen, Schatz. Ich weiß doch, dass dich etwas bedrückt. Ist es wegen des Jungen? Ben Klein oder so ähnlich.“

„Ben Kleinert. Ja es ist wegen ihm. Ich verstehe einfach nicht, wie das passieren konnte“, gab er zu und griff hilfesuchend nach ihrer Hand. Sie ließ ihn gewähren.

„Der Junge war kerngesund. Er hatte gar keine Beschwerden. Er war nicht krank. Er hatte ja nicht mal eine Allergie.“

Ben Kleinert, der zehnjährige Junge, wegen dem am vergangenen Samstag in der Nacht die Sirene losgegangen war, war Freitag erst noch bei ihm in der Sprechstunde gewesen. Nicht aus einem besonderen oder drastischen Grund, sondern bloß zu seiner Jugendschutzuntersuchung 1. Das bedeutete eine körperliche Untersuchung sowie eine Urinprobe und das Ausfüllen eines Fragebogens zur allgemeinen Befindlichkeit. Nichts Hochkomplexes. Alles war unauffällig ausgefallen.

„Menschen sterben halt…“, versuchte Juleen ihren verzweifelten Mann zu trösten, doch der ging kein Stück darauf ein.

„Alte Menschen sterben halt. Menschen mit unheilbaren Krankheiten sterben halt. Menschen im Koma sterben halt. Aber ein zehnjähriger, kerngesunder Junge stirbt nicht einfach so, nachdem er eingeschlafen ist!“

Nachdenklich sah sie ihrem Mann in die Augen. Sie wollte ihm widersprechen, aber das ging nicht. Sie wusste, dass er Recht hatte. Ben war laut der Aussage seines Vaters wie jeden Abend von ihm ins Bett gebracht worden und fast sofort eingeschlafen. Nachdem er wenige Minuten neben seinem vermeintlich schlafenden Sohn saß, war ihm aufgefallen, dass sich sein Brustkorb nicht mehr hob und er keine Luft mehr durch die Nase oder den Mund ausstieß. Panisch hatte er nach seinem Puls getastet und feststellen müssen, dass er keinen mehr besaß, woraufhin er ohne zu zögern den Rettungswagen gerufen hatte.

„Ich verstehe einfach nicht, wie das passieren konnte“, wiederholte er sich und sah Juleen überfordert an.

Doch auch sie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Das ganze Thema war ihr unangenehm. Sie erlebte es selten, ihren Mann verzweifelt und schwach zu sehen, aber wenn sie es sah, dann jagte es ihr einen regelrechten Schauer über den Rücken. Normalerweise war Kris ein selbstbewusster und starker Mann, aber wenn er verzweifelt war, dann wirkte er fast wie ein kleines, weinerliches Kind, das mal wieder in der Schule gemobbt wurde und sich nun bei seiner Mutter ausheulen würde, während sie sich im Stillen fragen würde, was sie in ihrem Leben nur falsch gemacht hätte, um jetzt so dazustehen. Verlegen senkte sie den Blick auf das leere Glas vor ihr. Sie wollte nicht, dass ihre Illusion eines starken und unerschütterlichen Mannes an ihrer Seite zerstört wurde. Nicht heute. Eine ganze Weile saßen sie noch schweigend am Tisch und lauschten der Musik, die aus dem alten Radio hinter ihnen mit gelegentlichen Störungen lärmte. Keiner der beiden schlief heute Nacht besonders gut.

 

5

Mit gesenktem Kopf betrat Jonas Kleinert das Schulgebäude. Am Freitag würde sein kleiner Bruder seinen letzten Weg unter die Erde finden, und er war alles andere als bereit dafür. Noch am Freitagmorgen hatte ihr Vater sie mit Tickets für das Fußballspiel von Hannover 96 am nächsten Wochenende überrascht. Es wäre das zweite Fußballspiel gewesen, das Jonas sich im Stadion angesehen hätte. Für Ben wäre es das Erste gewesen. Sein Vater hatte die Karten am Montag an Freunde verschenkt. Ihm war die Lust auf das Stadion vergangen. Allerdings wäre es vielleicht die Ablenkung gewesen, die ihnen allen gutgetan hätte, aber wer wollte, beziehungsweise konnte schon abgelenkt werden, wenn es um den unvorhergesehenen Tod des eigenen Kindes gehen würde. Niemand, der auch nur einen Funken Liebe für seine Kinder übrig hatte, verschmerzte so etwas leichtfertig, und Ben und Jonas Eltern hatten eine Menge Liebe für sie übrig. Folglich waren auch die Schmerzen der beiden von beträchtlichem Ausmaß.

Seitdem der Arzt im Krankenhaus Ben offiziell für tot erklärt hatte, liefen alle, sowohl seine Eltern als auch Jonas, in einer eigenen Gefühlsglocke mit der Stabilität von Obsidian, einem Vulkangestein, herum. Man konnte von außen hineinsehen und erkennen, wie es ihnen ging, aber hineingelangen, um ihnen zu helfen oder sie gar hinauszuziehen, war unmöglich. Sie isolierten sich selbst in ihre eigene unerreichbare Gefühlswelt. Sie verließen sie nicht einmal, um sich um ihren anderen, noch lebenden Sohn zu kümmern. Jeder lebte von da an quasi für sich alleine und empfand nicht einmal das eigene Leben noch länger als lebenswert.

In der ersten großen Pause setzte Jonas Kleinert sich auf einen der großen Steine, die wie im Kreis neben der Schulkantine angeordnet waren, und ließ den Kopf in seine verschränkten Arme sinken.

„Hey Jonas“, sagte Mark, ein guter Freund von ihm, vorsichtig und setzte sich zu ihm auf den Stein. Er antwortete nicht, sondern drehte sich noch ein Stück weiter von ihm weg. Respektvoll akzeptierte Mark sein Schweigen, blieb einfach stumm neben ihm sitzen und legte ihm die Hand auf die Schulter. Zumindest stieß er sie nicht weg. Scheinbar wollte er nicht tatsächlich alleine sein, sondern nur nicht reden. Das war in Ordnung. In einer Freundschaft musste man manchmal dem Anderen einfach etwas Freiraum geben, ohne ihn dabei komplett allein zu lassen. Manchmal tat es gut einfach schweigend nebeneinanderzusitzen, ohne in Not zu sein etwas sagen zu müssen. Manchmal sagte Stille schon genug aus.

„Ey Jungs seht mal, was wir da haben. Ne Schwuchtel“, lachte Erik dreckig und stieß seinem Kumpel in die Seite. Erik war das Alpha Tier des siebten Jahrgangs und versuchte sich mit Worten, die für ihn alt klangen, als schlau hervorzutun. Nicht wirklich glaubhaft, wenn man bedachte, dass seine Eltern ihn erst mit sieben eingeschult hatten und er trotz dessen in der fünften Klasse noch eine Ehrenrunde drehen musste, um nicht auf eine Sonderschule geschickt zu werden. Er war groß, stämmig und außerdem vierzehn Jahre alt und somit fast zwei Jahre älter als der Rest der Kinder aus dem Jahrgang, den er besuchte.

„Verzieh dich“, drohte Mark ihm zornig, wobei seine Drohung mehr wie eine kleinlaute Bitte, nicht verprügelt zu werden, klang. Erik hatte ihn schon oft mit blauen Flecken und Rissen in seinen Brillengläsern nach Hause geschickt, weil Mark sich aufgrund seiner Angst und Feigheit, den Mund gegenüber einem Lehrer oder gar seinen Eltern aufzumachen, als das perfekte Opfer seiner Gemeinheiten eignete. Mark war klein, ein wenig pummelig und trug eine Brille. Er war im Grunde genommen also wie dafür geboren, die Fresse eingeschlagen zu bekommen.

„Halt die Klappe, Speckie“, blaffte er ihn an und wandte sich Jonas zu, der immer noch geistesabwesend den Kopf in seinen Armen versteckte und gewissermaßen die Vogelstrauß-Taktik ohne Sand ausführte.

„Hab gehört, deinen Bruder hats erlegt, hä? Weißt du, was mein Vater gesagt hat?“, fragte er und beugte sich zu ihm hinunter, bis sein Gesicht auf einer Höhe mit Jonas gesenktem Kopf war.

„Lass ihn in Ruhe, Erik!“, versuchte Mark es dieses Mal mit ein wenig mehr, aber trotzdem kaum hörbarer, Kraft in der Stimme.

„Wenn du nicht die Schnauze hältst, dann nehme ich deine Brille und schiebe sie dir in deinen Fettarsch, kapiert?“, grunzte Erik ihn wütend an.

Ängstlich verstummte Mark, blieb aber trotzdem mit rotem Kopf neben seinem Freund sitzen. Vielleicht auch einfach, weil er wissen wollte, was passieren würde. Einen anderen logisch erkenntlichen Grund gab es jedenfalls nicht, denn es war zu offensichtlich, dass Erik nicht vorhatte, die Pause ohne ein paar Schläge seinerseits zu beenden.

„Weißt du, was mein großer Bruder gesagt hat, als er davon gehört hat?“

Ein weiteres Anzeichen von Eriks geistiger Schwäche war, obwohl allein seine Art, jedes Wort am Ende eines Satzes unnötig in die Länge zu ziehen, zur Genüge davon zeugte, dass er bei jeder Gelegenheit auf seinen Vater oder seinen großen Bruder verwies. Beide waren wie er nicht sonderlich intelligent, geschweige denn begabt, aber grade deswegen waren sie seine Vorbilder. Sein Bruder, der mit siebzehn seinen Hauptschulabschluss geschafft hatte, war nach absolvierter Ausbildung auf die Baustelle gegangen, wo er sich bis zur für ihn mit Sicherheit mickrigen Rente seine Gelenke und seinen Rücken kaputtschuften durfte. Eriks Vater hingegen hatte es sogar geschafft, eine Ausbildung zum Straßenwärter zu machen und arbeitete nun seit mittlerweile fast dreißig Jahren im öffentlichen Dienst bei der Straßenbauverwaltung der Stadt Dulingen. Keine geistige Meisterleistung, aber die strebte Erik auch nicht an. Alles, was er wollte, war arbeiten und Geld verdienen, ohne sich zu sehr anstrengen zu müssen, wobei Anstrengung für ihn bloß auf geistiger Ebene durch den Versuch zu denken vorkam. So waren sein Vater und sein Bruder in dem Sinne also seine idealen Vorbilder.

„Gut, dass der kleine Wichser tot ist. Noch eine Schwuchtel weniger“, zitierte er seinen Bruder, während er Jonas schief angrinste.

„Hör endlich auf, Erik!“, keifte Mark ihn an. Dieses Mal mit hörbarer Wut. Zornig sprang Mark auf und schubste den vor Jonas hockenden Erik um. Erik verlor das Gleichgewicht und plumpste wie ein nasser Sack nach hinten auf die noch leicht vom nächtlichen Regen befeuchtete Erde.

„Na warte du …“, schimpfte Erik, als er sich wieder aufrappelte und Mark, der den verzweifelten Versuch gestartet hatte wegzulaufen, sämtliche Beleidigungen und Flüche hinterherrief. Mark kam wenige Stunden später mit blutiger Lippe, blauem Auge und einer weiteren zerbrochenen Brille nach Hause. Jonas blieb von Eriks Wutausbruch verschont. Zumindest heute.

6

Angestrengt nahm Kris die Lesebrille von seiner Nase und legte sie vor sich auf den Schreibtisch. Er hatte gerade einige Gespräche mit seinen Psychos hinter sich, die den zeitlichen Rahmen mehr als einfach nur gesprengt hatten. Psychos, wie er sie gerne nannte, waren meist ältere Patienten von ihm, die eigentlich nur zu ihm kamen, weil es ihnen zuhause zu langweilig wurde und sie hofften, dass er etwas finden, würde, um sie als krank diagnostizieren zu können. Nicht, weil sie gerne krank sein wollten, sondern weil sie dann etwas hätten, worüber sie sich beklagen könnten, um etwas Abwechslung in ihren öden und langweiligen Alltag zu bringen. Sie waren schon mit einer Erkältung zufrieden, denn dies konnten sie Freunden, falls sie denn welche hatten oder meist einfach dem Nächstbesten, dem sie auf der Straße begegnen würden, als Bronchitis oder schwere Lungenentzündung verkaufen. Sie scherten sich nicht darum, wie es um andere stand, sondern interessierten sich hauptsächlich für das eigene Wohl. Kinder hatten sie meist keine, und wenn doch, waren sie entweder auch zu Psychos mutiert, oder sie hatten sie schon längst vergrault. Ein Psycho unterhielt sich am liebsten mit drei Gruppen von Menschen: Ärzten, anderen Psychos und jungen Erwachsenen, die ihnen, naiv wie sie oft waren, alles aufs Wort glaubten. Kritik oder gar Widerspruch duldeten sie keinen, außer er kam von ihrem Arzt und führte dazu, dass sie Medikamente bekommen oder sich längere Zeit ausruhen sollten, denn auch dies war wieder Gesprächsstoff, den man rumerzählen und dramatisieren konnte. Die Lieblingsbeschäftigungen der Psychos waren zum einen der Besuch bei ihrem Hausarzt, das Recherchieren von alternativen Fakten und Behandlungsmethoden – Krebs lässt sich mit homöopathischen Medikamenten heilen, vielleicht sollten sie das in Erwägung ziehen Doktor – und das Philosophieren über ihre unerträglichen Schmerzen, um sich dann als tapfer und stark aufzutun, dass sie diese durchstehen würden. Was sie außerdem mit Hingabe und viel Leidenschaft taten, war das Kommandieren anderer, denn Psychos liebten es, wenn sie sich selbst mit gutem Gewissen als intelligente und starke Führungspersonen ansehen können. Sie prahlen gerne vor ihrem Arzt mit Geschichten aus ihrem Leben, welches sie in den häufigsten Fällen bei der Post oder als Putzkraft verbracht haben und mit Wissen, welches sie sich durch das wundersame, aber doch allzeit wahrheitsgemäße Medium Internet angeeignet haben. Sie als philiströs oder spießbürgerlich zu bezeichnen, wäre mehr als verwerflich, denn schließlich waren sie ja, neben ihrem Hausarzt und ihrem ganz eigenen Arzt, namens Dr. Google, die einzig wirklich Aufgeklärten. So waren doch eigentlich nicht sie die Philister der heutigen Zeit, sondern der Rest der Menschheit einfach nur zu ignorant, ihren Intellekt zu würdigen. Die Bezeichnung als Erleuchtete oder als Reindenkende wäre der Wahrheit entsprechend weitaus angebrachter.

Doch zu seinem Glück waren es die letzten Erleuchteten, die er heute in der Sprechstunde betreuen musste. Sie hatten sich, nachdem klar war, dass er die Praxis am Montag wegen seines Umzugs schließen würde, sofort einen Termin für Dienstag machen lassen. Schließlich war der Herr Doktor ja Ewigkeiten nicht erreichbar gewesen, und man würde mit Sicherheit ein leichtes Ziehen im linken Ohrläppchen verspüren, das laut Dr. Google ein Vorbote für ein Magengeschwür, wenn nicht sogar für Hodenkrebs – ja auch bei der weiblichen Fraktion war dies durchaus beängstigend – sein konnte. Kris hatte schon etliche Psychos gehabt, die der Meinung waren, dass sie ihrer Diabetes nicht mit Insulinspritzen, sondern mit Roibuschtee, den man mit einer Hand voll Globuli einnehmen musste, entgegenwirken konnten. Wegschicken konnte er sie nicht, denn schließlich war auch geistige Armut in gewisser Weise eine Krankheit, gegen die es jedoch kein Heilmittel gab. Er könnte sie höchstens an einen Kollegen weiterleiten, der mit Menschen, die geistig verwirrt waren, arbeite, aber auch dabei stellte eine Eigenschaft der Psychos ein Problem dar, nämlich ihre Freude und Bereitschaft, ihr Verhalten in Sekundenschnelle anzupassen, sodass jeder durchschnittliche Neurologe Kris den Vogel zeigen würde, wenn er versuchen würde, ihm beizubringen, dass diese Patienten ein geistiges Problem hätten. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als sich ihnen, ihren Leidensgeschichten und neuen Erkenntnissen aus den Untiefen des World Wide Web zu stellen. Also Augen zu - die Ohren wären ihm in diesem Fall zwar lieber, aber was sollte er schon machen - und durch. Amen.

Er wischte sich mit den Händen über die Augenlider und gähnte müde. Die Uhr mit dem Schmetterlingsverschluss an seinem Handgelenk tickte fast stumm vor sich hin. Langsam wanderte der Minutenzeiger auf die neun, so dass er mit dem Stundenzeiger beinahe eine grade Linie bildete. Mal wieder war er fast drei Stunden länger in der Sprechstunde gewesen, als das Schild neben der Tür verriet. Es zeigte außerdem, dass er ab halb fünf wieder hinter dem Schreibtisch sitzen und sich um Patienten kümmern würde. Aber auch das stimmte nicht. Er würde frühestens gegen fünf wieder an seinem Schreibtisch sitzen. Sein erster Termin für den Nachmittag war erst um viertel vor fünf. Eine Viertelstunde wäre schon zu verschmerzen. Um genau zu sein, war es eine herausragende und unterdurchschnittliche Wartezeit, wenn man bedachte, dass der Durchschnitt der Wartezeit beim Arzt bei einer halben Stunde lag.

 

Unmotiviert in knapp zwei Stunden wieder dort hinter dem Schreibtisch gegenüber einer seiner Patienten zu sitzen, erhob er sich von seinem Stuhl, nahm seine Jacke vom Haken und schloss die Tür seines Sprechzimmers hinter sich ab. In dem Moment, in dem er die Praxis durch die weiße Fronttür verlassen wollte, klingelte hinter der Rezeption das Telefon. Einen Moment hielt er inne und blickte sich zum Apparat um, der hinter dem 1,40 m hohen Tresen stand. Nachdem er hörte, dass der Anrufbeantworter den Anruf entgegennahm, schaltete er das Licht aus und verließ die Praxis für zwei Stunden.

Um Punkt vier Uhr öffnete Marion die Praxis von Dr. Kris Lindner wieder und hing ihre Jacke mitsamt ihrem Schal an die Garderobe im Eingangsbereich. Sie war eine der vier Medizinischen Fachangestellten - kurz MFA - die für ihn in der Praxis arbeiteten. Gemächlich setzte sie sich auf den runden Schreibtischstuhl ohne Rückenlehne und hörte die ersten Nachrichten von der Mailbox ab.

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