Die Grenze

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7

2009 hatte Diedrich Erhard die letzten Tauben in Dulingen gesehen. Jeden Freitag um zwölf Uhr hatte er sich mit einer Tüte Sonnenblumenkerne vor den Supermarkt auf die grün gestrichene Holzbank, von der die Farbe langsam abblätterte, gesetzt und abwechselnd sich und die Tauben mit Sonnenblumenkernen versorgt. Brot durfte er ihnen nicht geben, da es in ihren Mägen gären und ihnen so schaden könnte. Nachdem ihn sein ehemaliger Freund Julius Liebenbröck, der vor wenigen Jahren den friedlichen Tod des zu hohen Alters gestorben war, in die hohe Kunst des Taubenfütterns eingeweiht hatte, hatte er so allerlei Kenntnisse darüber erlangt, wie er sie richtig füttern musste. Getrocknete Erbsen, Popcornmais, Sonnenblumenkerne, roher Naturreis sowie Weizen- und Dinkelkörner eigneten sich besonders gut zum Verfüttern, verarbeitete Lebensmittel mit vielen Kohlenhydraten und Salz hingegen ganz und gar nicht. Im Herbst 2008 hatte die Gemeinde beschlossen, das Füttern von Tauben zu verbieten, da der Kot der Tiere die Stadt übermäßig verunreinigte und sie zudem Parasiten und Krankheiten übertrugen. Anfang des Jahres, noch zu der Zeit von Dr. Beram, waren drei Menschen in Dulingen an Typhus erkrankt. Die Gemeinde gab dem übermäßigen Bestand von Tauben und deren Fäkalien die Schuld an den schweren Durchfallerkrankungen. Seitdem war das Füttern von Tauben verboten und wurde mit einem Bußgeld von bis zu 3.000 Euro geahndet. Daher saß Diedrich jeden Freitag auf der Bank vor dem Supermarkt, von der langsam die grüne Farbe abblätterte, und aß alleine aus seiner Tüte mit Sonnenblumenkernen. Die Tauben waren so etwas wie seine letzten Freunde gewesen, die ihm noch Spaß bereiten konnten. Doch nun waren auch sie, wie der Rest seiner Freunde und seine Frau, fort und kamen nicht wieder. Zehn Jahre war er nun allein gewesen. Doch wer weiß. Vielleicht würde er sie schon bald alle wiedersehen.

8

Klackend landete die Tür des kleinen Hauses in der Neuenburger Straße im Schloss. Leise zog Erik seine Schuhe aus und hängte seine Jacke an den Haken über dem Schuhregal. Seine Jeans – Größe 32 / 34 – war hinten vom Hosenbund abwärts mit getrockneter Erde verschmutzt. Sie war schmutzig geworden als Mark, dieser kleine Hurensohn, ihn in den Dreck geschubst hatte. Dafür hatte er ihm zwar eine verdiente Abreibung verpasst, aber an seiner mit Erde verunreinigten Hose änderte das, außer, dass Mark sie zudem mit ein paar Blutflecken an den Oberschenkeln versehen hatte, verhältnismäßig wenig. Eilig, aber immer noch mit möglichst geringer Lautstärke verschwand er im Badezimmer und warf seine Hose in den Wäscheeimer, wo er sie unter ein paar T-Shirts vergrub, damit sie seinem Vater nicht sofort ins Auge fallen würde.

Eigentlich hatte er überhaupt keinen Grund, einen Blick in den Eimer zu werfen, wo das Waschen doch Aufgabe der Frauen und nicht des Hausherren sei. Wofür hatte man das Weibsbild schließlich im Haus, wenn es sich nicht um das Waschen, das Kochen und das Putzen kümmerte? Um sich belehren zu lassen? Harald brachte der Gedanke jedes Mal aufs Neue zum Lachen, wenn jemand von gebildeten oder intellektuellen Frauen sprach. Weiber waren nicht dafür da, schlaue Sprüche zu bringen von Sachen, die sie entweder nichts angingen oder nicht verstanden. Sie gehörten hinter den Herd, in die Besenkammer und in jeden anderen Raum, höchstens mit einem Putzlappen oder dem Staubsauger in der Hand. Und selbstverständlich gehörten sie darüber hinaus noch in das Bett des Ehemannes, um ihm jedes Mal, wenn ihm danach war, einen guten Fick zu geben.

Derjenige, der auf die Idee gekommen war, den Frauen damals ein Mitspracherecht an den Entscheidungen in der Welt zu geben, musste ohne jeden Zweifel eine verdammte Schwuchtel gewesen sein, die ihr Bier abends in der Kneipe mit einem feuchten Kuss auf den Zauberstab des Wirtes bezahlte, anstatt in barer Münze. Harald mochte Schwuchteln nicht, aber noch viel weniger mochte er es, wenn sein Sohn mit schmutziger Hose und dreckigem Gesicht nach Hause kam. Denn wenn er mit Dreck an den Klamotten zuhause auftauchte, bedeutete das für seinen Vater, dass er sich geprügelt und zudem auch noch verloren hatte. Harald konnte es natürlich nicht auf sich sitzen lassen, dass sein Sohn die Stärke des männlichen Geschlechts seiner Familie ins Lächerliche zog, also musste er ihm bisweilen immer wieder aufs Neue seine Lektionen erteilen, dass er bloß nicht vergaß, dass eine Niederlage nichts war, womit er sich zufriedengab. Seine Lektionen, die er mit dem Gürtel oder einer alten Reitgerte erteilte, dauerten in den häufigsten Fällen ein paar Minuten und hinterließen meist farbenfrohe Blutergüsse auf dem Körper seines vierzehnjährigen Sohnes. Schwäche war etwas, das Harald mindestens genauso verabscheute wie Frauen, die in dem Irrglauben lebten, sie seien relevant und gleichberechtigt. Auch Jesus hat sich die Füße von euch küssen und den Schwanz blasen lassen und ist trotzdem als Heiliger Geist in den Himmel aufgestiegen oder so ähnlich.

Mittlerweile hatte Erik sich eine Jogginghose angezogen und sich mit seinem Ranzen in der Hand nach oben in sein Zimmer begeben, um für den Rest des Tages die Tasten auf dem Controller seiner Playstation zu bearbeiten. Nachdem er zwei Stunden damit verbracht hatte, in der simulierten Version des Zweiten Weltkriegs Zielpunkte einzunehmen, brüllte sein Vater von unten energisch.

„Erik!“, rief er wütend und kam donnernd die Treppen hoch. Erschrocken ließ er den Controller aus der Hand fallen und drehte sich wie vom Hafer gestochen herum. Noch bevor er überhaupt wusste, auf was er sich einstellen musste, flog die Tür auf und sein Vater stand mit streitlustigem Blick im Türrahmen.

„Das ist doch wohl hoffentlich nicht deine Hose, oder etwa doch?“, fragte er und präsentierte ihm das verdreckte Kleidungsstück, das er in der Hand hielt.

„Antworte mir!“, befahl er seinem kreidebleichen Jungen, der mit einem Male alle Lust auf sein Videospiel verloren hatte.

„Ja ...“, antwortete er kleinlaut.

„Sprich gefälligst lauter!“

„Ja.“

„Was ist passiert? Wer war das?“, fragte Harald mit messerscharfem Unterton. Eine schmierige Haarsträhne hing ihm vor der Stirn und wippte im Takt seiner Worte auf und ab.

„Ich wurde geschubst“, gab Erik schüchtern zu. Er war froh, dass niemand aus der Schule ihn so sah. Dann wäre es mit seinem Ruf als starker Junge, vor dem man sich fürchten müsste, vorbei gewesen. Man würde mit Fingern auf ihn zeigen und ihn als Weichei und Pussy verhöhnen, wenn er die Flure entlangging. Zum Glück würde es nie jemand erfahren, dass er in Wahrheit genauso ein Opfer seines Vaters war, wie Mark und Jonas die seinen waren.

„Von wem?“

Erik traute sich nicht zu antworten. Er wusste, dass sein Vater Mark und dessen Familie kannte, und er wusste auch, dass er ihn für einen vollkommenen Versager halten würde, wenn er ihm beichten würde, dass er es war, der ihn geschubst hatte.

„Von wem hab ich gefragt!“, brüllte er seinen Jungen an und schlug mit der schmutzigen Jeanshose nach ihm. Ein Knopf traf ihn am Auge, welches sich sofort mit Tränen füllte, die ihm wenige Sekunden später über die Wangen liefen und ihm noch weitere Schläge einbringen würden.

„Mark Buscher, aber Papa ...“ Ein zweites Mal holte Harald mit der Hose aus und verpasste ihm einen Schlag.

„Von diesem kleinen Scheißer hast du dich in den Dreck werfen lassen?“ Nochmal schleuderte er ihm die Jeans ins Gesicht, wobei sich winzige Brocken Erde von ihr lösten und durch das Zimmer flogen.

„Papa nein ...“

„Und geblutet hast du auch noch, wie ein kleines Mädchen!“, fuhr er in seinem Wutrausch fort und hielt ihm die Blutflecken so dicht vor das Gesicht, dass er einige der winzigen Fasern beinahe einatmen konnte. Doch noch ehe Erik irgendetwas zu seiner Verteidigung sagen oder anbringen konnte, landete ein weiteres Mal ein Knopf der Jeans in seinem Auge, welches inzwischen gerötet war.

„Du bist eine Schande für mich! Jawohl eine Schande!“, brüllte sein Vater so laut, dass die Nachbarn vier Häuser weiter vermutlich noch jedes einzelne Wort ohne Mühe verstehen konnten.

„Ich hätte meine Samen besser spenden sollen, als sie in deine Mutter zu spritzen! Dann würde man meinen guten Namen nicht mit so einem erbärmlichen Haufen Mist wie dir in Verbindung bringen können! Du bist eine Schande, hast du das verstanden? Eine Schande!“, brüllte er weiter, sodass sein Kopf knallrot wurde und die Adern an seinem Hals heraustraten. Drei Schläge und eine Menge Tränen von Erik später, wurde sein Kopf langsam wieder schweinchenrosa, anstatt purpurrot und er wischte sich kopfschüttelnd den Schweiß von der Stirn.

„Du bist nicht mein Sohn. So sehr kann Gott mich nicht bestrafen“, sagte er mit ruhigerer, aber nicht leiser Stimme, dann verließ er das Zimmer und ließ seinen flennenden Jungen alleine zurück.

9

Erschöpft drehte Kris den Schlüssel in der Tür der Praxis und prüfte noch einmal sicherheitshalber, ob sie auch wirklich verschlossen war. Zufrieden zog er ihn aus dem Schloss und machte sich auf dem Weg zu seinem Auto, das er auf dem kleinen Parkplatz vor seiner Praxis abgestellt hatte. Zu seiner Erleichterung hatte er den für ihn reservierten Platz heute Morgen leer und nicht von einem seiner Patienten besetzt vorgefunden. Trotz der ausdrücklichen Botschaft auf dem Blechschild, das hinter besagtem Parkplatz aufgestellt war, dass dieser Platz bereits reserviert sei, kam es immer wieder vor, dass er sein Auto morgens nicht dort, sondern zwei Straßen weiter abstellen musste.

 

Mit der Zeit verfällt die Menschheit immer mehr der Anarchie. Wer weiß wie lange das Armageddon noch auf sich warten lässt.

Schmunzelnd über diesen Gedanken schloss er sein Auto auf und stellte seinen dunkelblauen Arztkoffer auf den Beifahrersitz. Gähnend drehte er den Zündschlüssel um und schaltete das Abblendlicht des Wagens ein. In einem der Häuser um ihn herum begann ein Baby zu schreien. Langsam griff er nach dem Gurt und schnallte sich an. Die grün leuchtenden Zahlen auf seinem Armaturenbrett verrieten ihm, dass es bereits nach neun Uhr war. Er hatte Überstunden gemacht und trotzdem einen Haufen Papierkram in seiner Mappe übrig, den er zuhause noch erledigen musste. Praktisch alles wie immer. Juleen würde nicht begeistert sein und sich schmollend vor den laufenden Fernseher setzen, während er neben ihr Zettel um Zettel unterschreiben würde. Doch sie nahm es ihm nicht übel. Er suchte es sich ja auch nicht aus, bis spät abends noch arbeiten zu müssen und irgendwer musste schließlich das Geld verdienen, während der Andere sich um den Haushalt und Merlin kümmerte. Ziemlich klischeehaft und sexistisch würden manche meinen, dass er selbstverständlich die Person war, die arbeiten ging und seine Frau zuhause den Haushalt schmiss. Doch solche Leute würden auch Rosa Parks oder Martin Luther King als selbstverliebte Möchtegernpatrioten bezeichnen. Es war nicht sexistisch. Es war das einzig Sinnvolle. Kris verdiente mit seiner Arztpraxis mehr als Juleen, die längere Zeit Lehrerin an einer Grundschule gewesen war. Zudem wäre es mehr als naiv gewesen, die Chance auf eine eigene Praxis aufzugeben, wenn sie ihnen mehr Möglichkeiten auf finanzieller Ebene gab, als Juleens Beruf als Grundschullehrerin, zu dem sie jederzeit zurückkehren konnte. Und genau das hatte sie auch vor, wenn Merlin etwas älter und selbstständiger geworden wäre. Doch bis dahin würde sie zuhause die Stellung halten und sich um ihn kümmern, wenn Kris arbeiten war.

Müde rieb er sich die Augen, dann drehte er den Schlüssel ein weiteres Mal herum und der Motor sprang an. Das Babygeschrei hatte immer noch nicht nachgelassen. Ganz im Gegenteil. Es war sogar lauter geworden und klang nun nicht mehr so, als ob es aus einem der Häuser, sondern von dem Gehweg gegenüber kam. Verwirrt blickte er in den Rückspiegel, aber der Gehweg sowie die komplette Straße war menschenleer. Leicht verunsichert und mit dem Plärren des Babys im Ohr löste er die Handbremse und fuhr rückwärts vom Parkplatz ab. Plötzlich wurde das Geschrei lauter und er sah im Augenwinkel über den Rückspiegel, wie ein Kind im pink-weiß gestreiften Schlafanzug und einer dazu passenden Schlafmütze vom Gehweg auf die Straße taumelte. Mit hochroten Backen, die von Tränen nur so glänzten, hielt es einem blauen Entchenschnuller in der Hand und schrie sich die Seele aus dem Leib.

Warum verdammt hat die Warnanlage nicht ausgeschlagen?

Ohne zu zögern, trat Kris die Bremse und die Kupplung voll durch, sodass das Auto augenblicklich zum Stehen kam. Ein Ruck ging durch den Wagen und das Schreien verstummte auf der Stelle. Innerhalb von einer Sekunde hatte er sich abgeschnallt und die Autotür aufgestoßen. Schwer atmend und in der Erwartung, gleich ein von seinen Reifen zerquetschtes Baby zu finden, rannte er um den Wagen herum. Doch dort war kein Kind. Hastig legte er sich auf den Bauch und sah unter das Auto. Nichts.

Wie war das möglich? Er hatte es doch gesehen und es schreien gehört. Und dann dieser Ruck, als wenn er über eine Gartenfigur aus Plastik gefahren und sie mit seinen Reifen brutal zerdrückt hätte. Aber da war nichts. Keine Gartenfigur und kein lebloser Körper eines Kindes. Keine Delle oder eine Schramme, die den Ruck zumindest erklären könnte.

Ich hab es gesehen. Ich bin nicht verrückt.

Langsam stand er auf, klopfte sich den Dreck von der Hose und blickte sich fragend um. Er war alleine. Nervös fuhr er sich durch die Haare. Nachdem er das Heck seines Autos, sowie die Reifen ein weiteres Mal überprüft hatte, ging er kopfschüttelnd zur Fahrertür zurück. Er sollte sich besser beeilen, denn sein Wagen versperrte die Fahrbahn komplett, und er hatte heute nicht mehr die Nerven, sich deswegen mit jemandem zu streiten.

Grade, als er die Tür öffnete, strömte ihm ein beißender Geruch von Ammoniak entgegen und er verzog angewidert das Gesicht. Bevor er herausfinden konnte, woher der Gestank kam, machte er einen Satz von der Fahrertür zurück und zwang sich die Hand, vor den Mund zu pressen, um nicht schreien zu müssen. Auf dem Fahrersitz vor ihm saß das kleine Kind im pink-weißen Schlafanzug und drehte sich rasend schnell zu ihm um. Weinen konnte es zwar nicht, denn die obere Hälfte des Kopfes war vom Autoreifen zerquetscht worden, dass es nur mehr eine Landschaft aus Blut und kleinen Asphaltrückständen war, aber schreien konnte es immer noch.

„Sehen Sie hin, Doktor“, erklang eine unangenehm krächzende Stimme direkt hinter ihm. Das Baby auf dem Sitz schrie unerbittlich weiter. Sofort drehte Kris sich zu der Stimme um.

„Sehen Sie es sich an, und dann sagen Sie mir was Sie sehen“, forderte der merkwürdige Mann, den Kris im Licht der Straßenlaterne erkannte, ihn auf. Kris schluckte schwach, als er sich die Kleidung des Mannes genauer ansah. Auch er trug einen Schlafanzug, aber nicht mit pink-weißen Quer-, sondern mit blau-weißen Längsstreifen, die sich über den gesamten Pyjama hinwegzogen. Auf dem Kopf trug er eine weiße, fast durchsichtige Schlafmütze, wie der deutsche Michel, von deren Ende ein Bommel neben seinem Gesicht baumelte.

„Wer sind Sie? Was wollen Sie?“, fragte Kris und versuchte die Angst in seiner Stimme zu verstecken.

„Sehen Sie genau hin Doktor. Sehen Sie es? Das ist ihre Zukunft. Das ist das, was Sie erwarten wird“, sagte der Mann in dem Schlafanzug unbehelligt und stierte ihn mit seinen giftig gelben Augen an.

„Was wollen Sie?“, wiederholte Kris. Das Baby plärrte ein weiteres Mal laut und jagte ihm einen Schauer nach dem Nächsten ein.

Das ist nicht real. Halluzinationen und Übermüdung. Du bist nicht verrückt. Du bist nicht verrückt.

Mit einem Male begann der Mann, dessen Gesicht von mehr Furchen durchzogen war als ein alter Baum, den Mund aufzumachen und zu einer widerwärtig grinsenden Fratze zu verziehen. Hinter ihm tauchten zwei Lichtkegel die Straße in ein strahlendes Weiß und blendeten Kris.

„Was wollen Sie?“, fragte er noch einmal laut und hielt sich schützend die Hand vor die Augen.

„Doktor?“, fragte eine ihm angenehm vertraute Stimme besorgt.

„Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Wieso steht ihr Wagen quer auf der Straße?“

Blinzelnd öffnete er die Augen und sah Frank Lehmann, einen seiner Patienten und außerdem Polizist, vor ihm den Kopf aus der heruntergekurbelten Autoscheibe seines Opels strecken.

Scheinwerfer und keine mystischen Lichtkegel du Vollidiot. Scheinwerfer. Kein See und keine Aphrodite.

„Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“, fragte Frank weiter. Seine Hand wanderte langsam in Richtung seines Gurtverschlusses, um ihn zu öffnen, falls der Doktor Hilfe bräuchte.

„Nein ich denke ... Nein“, antwortete er desorientiert und drehte sich zu seinem Auto um. Der Fahrersitz sowie der Rest des Wagens waren vollkommen leer.

„Soll ich Sie lieber nach Hause bringen?“

Kris trat ein paar Schritte näher an sein Fahrzeug heran. Auch der beißende Geruch von Ammoniak war wie von Zauberhand verschwunden.

„Nein, nein. Alles in Ordnung. Ich dachte nur, ich hätte ein Tier angefahren, aber scheinbar hat der Kater noch rechtzeitig das Weite suchen können“, versuchte er sein Verhalten und gleichzeitig auch sein auf der Fahrbahn quer geparktes Auto zu erklären.

„Hat der Kleine wohl nochmal Glück gehabt“, fügte er noch schnell hinzu und stieg in sein Auto.

„Sieht wohl so aus. Schönen Abend noch, Doktor“, entgegnete Frank.

„Ihnen auch, Herr Lehmann“, sagte er eilig, dann lenkte er das Auto gerade und fuhr unter dem skeptischen Blick des Polizisten nach Hause.

10

Aufgewühlt wälzte Kris sich im Bett umher. Jede Bewegung, die er machte, verursachte ein weiteres Rascheln der Bettdecke. Er war nicht mehr müde wie vorhin, als er die Praxis abgeschlossen hatte. Jetzt war er hellwach, und sein Kopf arbeitete stärker als am gesamten bisherigen Tag. Links neben ihm lag Merlin und säuselte im Schlaf vor sich hin. Er war vor wenigen Minuten in das Zimmer gekommen und hatte sich zwischen seine Eltern in das große Doppelbett gelegt. Das tat er öfter, wenn er in der Nacht von einem Alptraum wach wurde und nicht alleine sein wollte.

Kein Problem, mein Großer. Mir gehts auch nicht anders.

Grübelnd starrte Kris die Zimmerdecke an, die trotz der Dunkelheit für ihn strahlend weiß, wie ein Himmelszelt voller Sterne, über ihm hing. Inzwischen lag er schon so lange wach im Bett, dass er nahezu alles in dem Raum problemlos erkennen konnte.

Sein Kopf tat weh, aber er wollte nicht aufstehen. Es war wie das Gefühl, das man als kleines Kind hatte, wenn man nachts nicht aus dem Bett steigen wollte, weil man dachte, dass das Monster unter dem Bett hervorkommen und einen verschlingen würde. Es war die stärkste Angst, die man in seinem Leben haben konnte. Kindliche Angst. Auch als Erwachsener gab es sie, nur die Monster, vor denen man sich fürchtete, waren andere.

Er wandte sich noch ein paar Male hin und her, dann stand er nach einigem Hadern schließlich doch auf und schluckte eine Ibuflam 800 mg mit einem halben Glas Wasser. Müde und nicht gerade sanft, stellte er das Glas auf der Ablage rechts vom Hahn ab und stützte sich mit beiden Händen neben dem Becken ab. Als er merkte wie ihm fast die Augen zufielen, raffte er sich auf und ging zurück ins Schlafzimmer zu seiner Frau und seinem Sohn. Eilig zog er sich die Decke über den Oberkörper und fühlte, wie ihm direkt ein Stein vom Herzen fiel, dass er unbeschadet wieder im Bett lag. Verschwunden war seine eigenartige und ungewohnte Angst jedoch noch nicht, weswegen er näher an seinen Sohn heranrückte, um den Arm um ihn und seine Frau zu legen. Gerade, als ihn das Gefühl von Müdigkeit übermannte, war es ihm, als wenn er in der hinteren Ecke des Raumes den schwachen Umriss einer Gestalt erkennen konnte. Doch bevor er wieder wach genug war, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen, schlief er ein und träumte von alten Frauen mit giftgelben Augen, die nach Schwefel stanken und Babys in gestreiften Schlafanzügen mit Roibuschtee und Globuli fütterten.

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