Die Grenze

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11

An diesem Abend und in dieser Nacht blieb es still. Keine Sirenen ertönten und keine Notrufe wurden aus Dulingen abgesetzt. Als man Diedrich am nächsten Morgen im Badezimmer fand, war es für jede Hilfe bereits zu spät.

12

Mit schlurfenden Schritten näherte Kris sich der Tür seiner Praxis. Diesen Morgen war es wieder soweit gewesen, dass er sich zwei Straßen weiter einen Platz suchen musste, an dem er sein Auto abstellen konnte. Seine Armbanduhr zeigte 17 Minuten nach acht an. Er hatte nach einer durchwachsenen und kurzen Nacht verschlafen und kam mit Augenringen, die aussahen, als wenn Merlin ihn mit der schwarzen Farbe aus seinem Wasserfarbkasten von Pelikan angemalt hätte, in die Praxis.

Schwach stieß er die Praxistür auf und begrüßte Marion, die bereits hinter der Rezeption am Eingang saß.

„Guten Morgen, Doktor Lindner“, erwiderte sie seine Begrüßung und lächelte ihn förmlich an. Es war ein typisches Lächeln, welches man von einer Mutter im mittleren Alter erwartete. Freundlich und besorgt. Worüber sie sich sorgte? Höchstwahrscheinlich um den Doktor selbst. Sein Gesicht hatte keine gesunde rosa Färbung, wie sie es eigentlich gewohnt war, sondern leuchtete blass und ließ ihn in Kombination mit seinen dunklen Augenringen wie Graf Dracula höchstpersönlich aussehen.

Alles in Ordnung Frau Kiesing. Nichts worüber Sie sich das Maul zerreißen müssten. Ich bin nicht verrückt. Nicht ich. Keine Lichtkugeln und keine Feen.

„Wie gehts Ihnen? Viele Termine bis zum Mittag?“, fragte er, um unterschwellig von seinem vermutlich makaberen Aussehen abzulenken.

„Gut, danke der Nachfrage. Es sind zumindest nicht so viele wie gestern. Manche Leute machen sich Sorgen wegen des Jungen, der am Wochenende gestorben ist, und haben ihre Termine abgesagt“, erzählte sie ihm und wischte sich eine Strähne ihrer kurzen, rot gefärbten Haare aus dem Gesicht. Ziemlich unreif für eine Frau, die innerhalb der nächsten fünf Jahre die 50 erreichen würde, fand Kris, aber er wusste, dass die Diskussion unnötig war. Sie machte ihre Arbeit gut und auch die Patienten sahen sie mit Respekt an. Es störte Kris zwar, aber er wollte nicht spießig sein, da er wusste, dass er Probleme damit bekommen würde, eine seiner MFAs zu behalten, wenn er ihnen vorschreiben würde, wie sie ihre Haare zu tragen oder zu machen hätten. Er konnte es sich nicht leisten, eine seiner Mitarbeiterinnen zu verlieren, da er sich sicher war, dass es schwer sein würde, eine Neue zu besetzen, wenn erstmal erzählt werden würde, was der Herr Doktor doch für ein spießiger Tyrann sei. Aus diesem Grund verhielt er sich diplomatisch und sagte schlichtweg nichts zu Marions Haaren, Ninas Tattoo am rechten Unterarm oder Lines Nasenpiercing.

Ich bin nicht der Verrückte hier! Das könnt ihr vergessen!

„Es wird immer Leute geben, die sich Sorgen mache und Gerüchte erzählen, Frau Kiesing. Das wird sich mit Sicherheit genauso schnell legen, wie es gekommen ist“, sagte er und ging rechts am Tresen vorbei in sein Sprechzimmer. Gelangweilt öffnete er die Tür und trat in den kühlen, leeren Raum. Er streifte seine Jacke ab und hing sie an den Kleiderständer, der neben der Tür stand. Grade, als er zu dem Stuhl hinter seinem Schreibtisch gehen wollte, hielt er in der Bewegung inne und warf einen erneuten Blick auf den Haken, an den er seine Jacke gehängt hatte. Langsam stellten sich seine Armhaare auf und eine noch länger anhaltende Gänsehaut machte sich bemerkbar. Zwei Plätze neben seiner Jacke hing eine altmodische, fast durchsichtige Schlafmütze mit weißem Bommel.

„Verzeihen Sie, aber haben Sie einen Termin?“, fragte plötzlich eine krächzende Stimme hinter dem Computer. Erschrocken drehte er sich zu seinem Schreibtisch herum und sah wie der kahlrasierte Kopf des alten, runzligen Mannes im Schlafanzug hinter dem Rechner hervorschaute. Zufrieden begann der Alte zu lachen und machte eine abwinkende Handbewegung, während er sich wieder dem vor ihm leuchtenden Bildschirm zuwandte.

„Nur ein Spaß, Doktorchen. Nur ein Spaß“, beschwichtigte er ihn scherzhaft und hämmerte wie ein Berserker auf die Tastatur des Stand-PCs.

Übermüdung. Halluzination. Atme aus. Du bist nicht verrückt. Übermüdung ...

„...Halluzination. Atme aus. Du bist nicht verrückt. Fällt Ihnen nichts Besseres ein?“, fragte der Mann im Schlafanzug belustigt und erhob sich von dem Drehstuhl und musterte Kris mit einem gewitzten Schmunzeln.

„Wer sind ...“, fing Kris kleinlaut an, aber wurde rasch unterbrochen.

„Nichts weiter als ein alter gebrechlicher Mann“, sagte er und buckelte symbolisch seinen Rücken und machte zwei Schritte auf ihn zu.

„Hören Sie auf mich ...“

„...zum Narren zu halten?“, beendete der Alte den Satz vor Kris und schaute verschmitzt aus seiner Buckelpose zu ihm hoch. Inzwischen konnte man Kris Gesicht nicht mehr als blass, sondern musste es als kreideweiß bezeichnen. Sein Kopf war überfordert und das auf vielen verschiedenen Ebenen.

„Aber Doktor, was ist denn mit ihnen? Sie sehen so blass aus“, sagte der Mann im Schlafanzug und setzte eine besorgte Miene auf.

„Sind Sie etwa krank?“

Hastig erhob er sich aus seiner gekrümmten Pose und machte zwei schnelle, fast lautlose Schritte auf Kris zu. Kris fiel auf, dass er barfuß war und seine Zehennägel die Farbe von einem dreckigen Gelb hatten.

„Strecken Sie die Zunge raus, singen sie mit geschlossenem Mund die Nationalhymne von Nigeria in D-Dur und drehen Sie sich zehn Mal im Kreis“, forderte er ihn ernst auf und legte ihm den Handrücken an die Stirn. Kris reagierte nicht. Er stand einfach nur stumm da und blickte in die Augen des alten Mannes, die ihn auf irgendeine Weise zu hypnotisieren schienen. Kurzzeitig war er versucht, reflexartig den Mund zu öffnen und ihm tatsächlich seine Zunge raus zu strecken. Doch glücklicherweise hatte sein Verstand rechtzeitig die Kontrolle über seinen Körper wiedergewonnen und hielt ihn von diesem Vorhaben ab.

„Welche Symptome haben Sie? Nein, verraten Sie es mir nicht. Halluzinationen, Schlafmangel, Impotenz, stimmts?“, fragte er immer noch mit demselben ernsten Gesichtsausdruck und stieß ihn mit dem Ellenbogen in die Seite. Schwach und mit gespielter Trauer schüttelte er den Kopf.

„Tut mir leid, Doktorchen, aber Sie sind wohl doch verrückt“, sagte er und legte ihm mitfühlend seine knochige Hand auf die Schulter. Sie fühlte sich leicht, aber zugleich auf irgendeine Weise, die mehr von seinem psychischen Empfinden ausging, als von seinem physischen, drückend an. Plötzlich fing der seltsame Mann an, sein krächzendes Lachen hören zu lassen und nahm die Hand von Kris Schulter.

„Bleiben Sie ganz unbesorgt. Als Arzt unterliege ich selbstverständlich der Schweigepflicht“, flüsterte er hinter vorgehaltener Hand und zwinkerte ihm belustigt zu.

„Was ...“, versuchte Kris erneut eine Frage zu stellen, aber wurde unlängst wieder von dem Mann unterbrochen.

„Sie entschuldigen mich, Doktorchen, aber ich habe noch andere Patienten, die meine unfehlbare Diagnose benötigen. Lassen Sie sich einen Termin geben“, sagte er und fischte mit seinem dürren Arm die Mütze vom Kleiderständer.

„Wir sehen uns, Doktorchen.“

Dann setzte er seine Schlafmütze auf und einen Wimpernschlag später war Kris wieder alleine im Raum. Verwirrt blickte er sich um. Der Computer war ausgeschaltet und sein Stuhl stand wie immer unter dem Tisch. Nichts deutete darauf hin, dass vor wenigen Sekunden jemand hinter seinem Schreibtisch gesessen und den Rechner bedient hatte. Mit einem unwohlen Gefühl, als wenn er sich das Frühstück erneut durch den Kopf gehen lassen würde, stellte er seinen Arztkoffer neben dem Schreibtisch ab und zog den Stuhl unter dem Tisch hervor.

Du bist nicht verrückt. Komm wieder zu dir. Du bist nicht verrückt. Nicht du.

Angespannt drückte er auf den Power-Knopf des PC-Towers und setzte sich auf den Stuhl. Langsam und mit einem lauten Rauschen startete der Computer. In dem Moment, in dem er die Datei des ersten Patienten öffnen wollte, tauchte ein gelbes rechteckiges Feld auf und begann unaufhörlich in der Mitte des Bildschirmes zu blinken.

„SEHEN SIE GENAU HIN DOKTOR“, leuchtete die rote Schrift auf dem Feld auf. Unsicher blickte er sich im Raum um. Er war immer noch leer. Als er seine Augen auf den Bildschirm richtete, war das rechteckige Feld mit der roten Schrift verschwunden und der Windows Homescreen mit allen Programmen und Dateien tauchte auf, als wäre nichts gewesen. Vorsichtig rollte er mit dem Stuhl näher an den Computer heran. Zögerlich griff er nach der Maus und wählte eines der Icons auf dem Bildschirm aus.

Doch anstatt, dass sich das ausgewählte Programm öffnete, erschien innerhalb weniger Millisekunden ein Video. Sofort erkannte Kris das Baby, das er glaubte am gestrigen Abend erst überfahren und dann in seinem Auto sitzen gesehen zu haben. Wie am gestrigen Abend saß es dort mit überfahrenem Kopf und von Blut und Tränen geröteten Wangen und schrie ununterbrochen. Erschrocken wich er vom Bildschirm zurück und hielt sich die Hand vor den Mund, während er das Baby weiterhin schreien und plärren hörte. Eilig versuchte er das Video zu stoppen, bevor Marion oder gar ein Patient etwas davon hören würde, aber er konnte es nicht. Wenige Augenblicke später verschwand das Video vom Bildschirm und das gelbe Textfeld blinkte erneut in der Bildschirmmitte auf.

„DAS IST IHRE ZUKUNFT“, zeigte die rote Schrift, dann startete sich der Computer neu.

 

Ehe Kris wusste, was er tun sollte, klopfte es an der Tür und Marion streckte den Kopf in das Zimmer.

„Dr. Lindner? Der erste Patient wäre da“, sagte sie emotionslos. Immer noch unter Schock warf er einen flüchtigen Blick auf den Rechner, der inzwischen wieder hochgefahren war und nur darauf wartete benutzt zu werden.

„Schicken Sie ihn rein“, bat er seine Angestellte mit einem wirren und überforderten Lächeln. Mit einem großen Fragezeichen auf der Stirn verließ Sie das Zimmer, um dem Doktor den ersten Patienten des heutigen Tages zu bescheren. Verunsichert rückte Kris näher an den PC und öffnete probeweise den Internetbrowser.

Du bist nicht verrückt.

Dieses Mal erwarteten ihn keine bösen Überraschungen und er begann mit dem vertrauten Tagesgeschäft.

Aber was, wenn doch?

13

Wie ein geprügelter Hund, was er ja im gewissen Sinne, mit Ausnahme der Spezies, auch war, ging Mark über den Schulhof zu den Steinen, wo er gestern Jonas getröstet und Erik in den Dreck geschubst hatte. Diesen Morgen fand er seinen Freund nicht dort vor, denn er war am heutigen Tag zuhause geblieben. Irgendwas war mit seinem Magen und er musste sich wohl übergeben, hatte seine Klassenlehrerin ihm genervt erzählt, während sie das Mathebuch schnell wieder in ihrer Ledertasche verstaute und zügig aus dem Raum verschwand. Mark war nicht traurig, dass Jonas heute nicht da war. Er hätte ohnehin nicht mit ihm reden können, weil er immer noch mit den Gedanken bei seinem kleinen Bruder Ben war. Und das war in Ordnung so. Es gab für alles eine Zeit im Leben, und jetzt war die Zeit zur Trauer um einen geliebten Menschen. Eine Zeit, die ein jeder im Leben erhalten sollte.

Nachdenklich setzte Mark sich auf einen der Steine und betrachtete in Gedanken versunken seine von der Erde verdreckten weißen Schuhe. Nach ein paar weiteren Schritten würde die Schleife an seinem linken aufgehen. Langsam driftete er in seine eigene kleine Welt ab, die er immer wieder aufs Neue aufsuchte, wenn er alleine war und sich von der Welt ausgeschlossen und verstoßen fühlte. In seiner eigenen Welt war er kein kleiner, schwacher Junge. In seiner Welt war er ein stolzer und prächtiger Adler, der im Tiefflug über das Gelände der Schule hinweg glitt und die Schüler und Lehrer auf dem Pausenhof beobachtete. Hinter der Schulmensa standen ein Junge aus der neunten und ein Mädchen aus der achten Klasse und küssten sich verlegen, ohne zu bemerken, dass sie von dem majestätischen Vogel beobachtet wurden. Leise schnitten die Flügel des Tieres durch die Luft und er flog an dem jungen Pärchen vorbei auf den großen Hof. An den drei steinernen Tischtennisplatten spielten mehrere Jungen und Mädchen aus der fünften Klasse mit einem Mini-Fußball ein Spiel namens Platte. Es funktionierte ähnlich, um nicht zu sagen genauso wie der Rundlauf beim Tischtennis, nur mit den Händen anstelle des Schlägers. Auch sie bemerkten nicht, wie der Vogel stumm und unsichtbar an ihnen vorbeiflog und sich langsam den Steinen, bei denen Mark saß, nähert.

Ein paar Meter von dem einsamen Kind entfernt bewegte sich eine kleine Gruppe Jungen mit mäßigen, aber bestimmten Gang auf ihn zu. Der Größte der drei stellte sich genau vor den Jungen, der alleine auf dem Stein saß, packte ihn am Kragen und sagte wütend etwas, das er nicht verstehen konnte. Neugierig setzte sich der Adler auf einen der Äste des Baumes, der den Steinen am nächsten war, und betrachtete die Situation aufmerksam. Unsanft hob der große Junge den kleineren, beleibteren vom Stein und stieß ihn auf den Boden, wo er ihm einen Tritt in die Seite versetzte. Nachdem er ein weiteres Mal eine Beleidigung ausgesprochen hatte, spuckte er auf den korpulenten Jungen, der seine Brille bei dem Stoß verloren hatte und entfernte sich lachend mit den anderen beiden vom Ort des Geschehens. Ein paar Sekunden wartete der Vogel noch, ob der Junge wieder aufstehen würde, dann erhob er sich in die Lüfte, während der Junge sich langsam vom Boden aufrichtete und schluchzend seine Brille aufhob.

14

Es war in ungefähr halb zwei gewesen, als Frank aus seiner Mittagspause hinter seinen Schreibtisch zurückkehrte und sich an das Tippen des Berichtes zum gestrigen Einsatz machte. Er war mit seinem Kollegen zusammen auf Streife gewesen und wegen häuslicher Gewalt nach Dulingen gerufen worden. Harald hatte seiner Frau wieder auf seine ganz eigene Art und Weise gezeigt, dass sie gefälligst das tun sollte, was er ihr sagte. Nach einiger Zeit geriet die Situation außer Kontrolle und die Nachbarn hatten die Polizei verständigt. Als Frank jedoch mit seinem Kollegen am Haus der Familie Nitz angekommen war, war bereits alles vorbei und Harald längst wieder einigermaßen zur Beherrschung gelangt.

Wie in Zeitlupe wanderten seine Finger über die Tastatur des Computers. Er war nie ein sonderlich schneller oder geübter Schreiber am PC gewesen. Zwar hatte er bereits einige Übungen und auch Programme, die ihm helfen sollten, schneller tippen zu lernen, getestet, aber er war jedes Mal aufs Neue daran gescheitert.

„Natürlich hat es mir etwas gebracht“, hatte er seinen Kollegen immer wieder erzählt, nachdem er ein weiteres Programm erfolglos ausprobiert und schließlich deinstalliert hatte, nur um im Endeffekt seine Einsatzberichte weiterhin mit der Geschwindigkeit einer Gartenschnecke abzutippen. Doch niemand nahm ihm dieses Verhalten großartig übel, stellte es als simple Ausrede dar oder verurteilte ihn dafür. Als er 27 war, hatte er sich einmal seine Wirbelsäule gebrochen und war seitdem nicht mehr der Mobilste unter seinen Kollegen. Von Zeit zu Zeit kam es durchaus noch vor, dass sein Rücken ihm Probleme und äußerst unangenehme Schmerzen bei starken oder ungewohnten Drehungen bereitete. Mit inzwischen fast 30 Jahren, die er bei der Polizei verbracht hatte, wollte ihm niemand mehr etwas Schlechtes wie Eitelkeit oder überschwängliche Selbstzufriedenheit vorwerfen. Wäre er ein junger Bursche von 23 Jahren, der noch grün hinter den Ohren war und mit solchen leeren Sätzen versuchen würde, sein langsames Tippen zu rechtfertigen, dann hätten ihn alle für das Paradebeispiel der immer weicher und schüchterner werdenden jungen Generation gehalten und er hätte sich jede Aussicht auf Respekt gnadenlos verspielt. Aber er war nicht irgendein junger Bursche, der noch keine Erfahrungen in seinem Leben oder in seinem Beruf gemacht hatte. In seinen unzähligen Jahren, die er bei der Polizei verbracht hatte, hatte er viele Kollegen kommen und gehen sehen und auch so manch einen schon betrauern müssen.

2011 wurde er zusammen mit drei weiteren Polizisten wegen Ruhestörung nach Dulingen gerufen, um für Ordnung zu sorgen. Frank Lehmann, Herbert Plock, Sebastian Körtel und Bernd Schwartzer. Am Morgen nach dem Einsatz tauchten Körtel und Plock in den Todesanzeigen der Regionalzeitung auf. Der Mann, der den Lärm verursacht hatte, war psychisch krank gewesen und stritt sich grade mit einem seiner Alter Egos, als die vier Polizisten an seiner Haustür klingelten. Völlig aufgescheucht hatte er versucht, sich mit einem Sportbogen zu verteidigen und dabei bewiesen, dass er trotz seiner Panik immer noch zielsicher war. Plock, der den Fehler gemacht hatte die Tür zu öffnen, wurde von einem Pfeil in den Magen getroffen und verstarb innerhalb weniger Minuten. Körtel, der noch unerfahren und somit auch naiv war, hastete augenblicklich auf den Angreifer zu, um ihn zu überwältigen. In seinem Schock und seinem jugendlichen Übermut hatte er scheinbar vergessen, dass er selbst eine Waffe bei sich trug und so hatte auch er wenige Sekunden später einen Pfeil genau in der Brust stecken. Es war sein erster Einsatz überhaupt gewesen. Frank hatte ihn mitnehmen wollen, weil er dachte, dass etwas Einfaches wie Ruhestörung genau das Richtige für den Anfang wäre, um ihn langsam in den Berufsalltag auf Streife einzustimmen. Schwartzer, der hinter den beiden das Haus betreten hatte, reagierte schnell und schoss mit seiner Dienstwaffe auf den Mann, der sofort von den Kugeln getroffen in sich zusammenklappte und die Treppe hinunterfiel.

Nach der Trauerfeier quittierte Schwartzer seinen Dienst und kehrte zurück zu seinem ursprünglichen Beruf als Maler, wo er wenige Jahre später den Betrieb seines Vaters übernahm. Vetternwirtschaft vom Feinsten. Er wolle nicht noch einmal miterleben müssen, dass einer seiner Freunde und Kollegen auf diese grausame Art und Weise das Zeitliche segnen würde. Besonders nicht in so einem jungen Alter. Frank hingegen war geblieben und hatte jede Beförderung ohne zu zögern ausgeschlagen. Auch er wollte nicht, dass so etwas nochmal passieren würde. Doch anders als Schwartzer, der lediglich das Weite gesucht hatte, um sich von den unangenehmen Tatsachen und Ereignissen zu distanzieren, wollte er sichergehen, dass er derjenige wäre, der als Erster die Tür öffnen würde, um niemanden sonst einer Gefahr auszusetzen. Auch wenn es mit den Jahren, dank seines zunehmenden Alters, der höheren Quote an Hitzköpfen und immer häufiger auftretenden Affekthandlungen, schwieriger wurde, sich und nicht andere in diese zu begeben. Immerhin hatte auch er mittlerweile seine besten Jahre hinter sich, obwohl er selbst es wohl nie für möglich gehalten hätte, dass dieser Zeitpunkt jemals tatsächlich kommen würde. Aber vermutlich war das der Grund, warum man sagte, dass mit dem Alter die Weisheit kommt. Je älter man wird, desto bewusster wird einem, dass das Leben alles andere als unbegrenzt ist. Die Weisheit liegt darin zu erkennen, dass das Leben nicht unendlich, sondern viel mehr das Endlichste ist, das es gibt. Es beginnt, indem wir geboren werden, und es endet als verfaulender Leichnam in einer Holzkiste, als Häufchen Asche in einer Urne auf dem Kamin unserer Kinder oder in ein Leinentuch gewickelt und mit Gewichten beschwert auf dem Grund irgendeines Gewässers. Es ist keine Gerade ohne Anfang und Ende. Es ist nicht mal eine Halbgerade, die zwar einen Ursprung hat, aber nie ein Ende findet. Das Leben ist eine Strecke. Klar begrenzt und auf Anfang und Ende datiert. Schlussendlich muss und wird jeder zu dieser Erkenntnis gelangen. Eine andere Möglichkeit kann es nicht geben.

Konzentriert auf das Schreiben des recht kurzen Berichts merkte er kaum, wie sein Kollege Melkovich hinter ihm auftauchte und ihm auf die Schulter tippte.

„Frank?“

„Hm“, murmelte er fokussiert auf die schwarzen Buchstaben, die nach und nach vor ihm auf dem Bildschirm erschienen.

„Ein Notruf aus Dulingen. Irgendein Spinner soll wohl versucht haben, sich als Supermarktmitarbeiter auszugeben und an den Schlüssel für die Kasse zu kommen“, erzählte er ihm in fast akzentfreiem Deutsch.

Ivan Melkovich war Ukrainer und im Alter von zehn Jahren mit seinen Eltern zusammen nach Deutschland gezogen. Er war 2007 zur Polizei gekommen und arbeitete seitdem gemeinsam mit Frank im Streifendienst. Die beiden schätzten und respektierten sich nicht bloß im Berufsleben, sondern waren auch privat dem anderen gegenüber immer respektvoll und freundlich. Mit der Zeit hatte sich zwischen ihnen eine gute Freundschaft entwickelt, in der sie schon bereits das ein ums andere Mal die Trinkfestigkeit ihres geschätzten Kollegen auf die Probe gestellt hatten. Während Melkovich entsprechend aller Vorurteile öfters eine Wodkaflasche zur Brust nahm, blieb Frank in seinem Fall hauptsächlich bei einem guten Scotch oder Bourbon. Verheiratet war er nicht, was ihn zugleich für Frank noch eine Spur sympathischer machte. Genau wie Frank war auch Ivan kein Fan von dem Gedanken an eine Frau gebunden zu sein und diverse damit einhergehende Verpflichtungen auferlegt zu bekommen. Die Heirat war für sie nichts anderes als Ketten, die man ihnen anlegen und sie so von den Freuden des Lebens abhalten würde. Es war ein überaltertes Konzept, das in der heutigen Zeit sowohl weniger Wert als auch Aussagekraft hatte. Heutzutage heiratete man, wenn man es schaffte, eine Woche nicht zu streiten, man bereits drei Monate zusammen in einer Beziehung lebte oder nur, weil man vergessen hatte zu verhüten und ein Kind in Erwartung war. Teilweise machte man sich sogar einen Spaß daraus oder ging so weit, eine wildfremde Person nur für eine niveaulose Sendung auf RTL 2 zu ehelichen.

Früher einmal ist die Heirat zweier Menschen etwas Bedeutsames und Prägendes gewesen. Man schuf Bündnisse durch Eheschließungen mit einem anderen Adelshaus und erlangte so Macht und Prestige in der Gesellschaft. Es war ein riesiges Fest mit einem Bankett, von dem man wahrlich nur träumen konnte, und anschließend ging man sicher, dass der Gatte auch wirklich die Ehe mit seiner Frau Gemahlin vollzog, damit sie den beiden einen Sohn gebar und somit die Existenz der Dynastie sichern würde.

 

Besonders wichtig war außerdem die Jungfräulichkeit des weiblichen Parts, die sie in der Hochzeitsnacht, und nur dann, verlieren sollte. Was früher noch als schändlich und unsittlich galt, war in heutigen Zeiten das Normalste der Welt. Es war nicht verwerflich, wenn eine Frau bereits vor ihrer Hochzeit bereits mit ein oder zwei – in moderneren Zeiten eher drei und mehr – Männern geschlafen hatte. Meistens war es sogar ungewöhnlich oder erzeugte ein abwertendes Runzeln auf der Stirn, wenn man bis zur Heirat noch nicht seine Unschuld verloren hatte. Schließlich solle man sich ja ausprobieren und dürfe nicht blind in die Ehe hineingehen. Ziemlich paradox, so etwas aus derselben Generation zu hören, die sich geradezu danach verzehrte in eine fleischliche Beziehung zu gelangen und dabei jede Form der Logik und des Denkens ignorierte. Die Unbeflecktheit, die früher so eine große Rolle spielte, wurde heutzutage von einem selbst frühestmöglich an den Meistbietenden verschachert und dann wie ein rohes Stück Fleisch zerfetzt, nur um dann mit einem kalten, erniedrigenden Blick abgewehrt zu werden.

Die Welt hatte an Würde und Edelmut verloren, dachte Frank und musste scherzhaft an die „edelmütigen“ Männer des Glaubens denken, die es trotz ihrer Keuschheit geschafft hatten, Kinder in die Welt zu setzen.

Vielleicht war die Welt nicht weniger würdevoll oder edelmütig geworden, sondern einfach offener, toleranter und ehrlicher als zu damaligen Zeiten.

„Dann machen wir uns besser mal auf den Weg, nicht wahr?“, fragte Frank und speicherte den zur Hälfte fertigen Bericht auf dem Computer ab. Entspannt und ohne Eile verließen sie das Gebäude und setzten sich in den Streifenwagen. Als Frank den Motor startete, dachte er an die Bilder von den Konzentrationslagern, Hitler und den Nazis, 9/11 und den Anschlägen von Hanau und Halle und stellte fest, dass die Welt alles andere als toleranter, offener und ehrlicher geworden war.

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