Die Grenze

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17

Eilig riss Andre die Fahrertür des Rettungswagens auf und sprang auf den Sitz hinter das Lenkrad. Theo, ein noch relativ junger Rettungssanitäter, schwang sich ebenfalls in aller Eile auf den Platz neben ihn und legte sich innerhalb von zwei Sekunden den Sicherheitsgurt an. An diesem Abend hätte Andre lieber einen anderen Kollegen bei sich gehabt. Jemanden mit etwas mehr Erfahrung, dem nichts erklärt werden musste, der einfach, ohne zu fragen, handelte und somit auch das ein oder andere Leben retten konnte.

Doch heute sollte er derjenige sein, der Ton und Tempo vorgab. Es war nicht oft vorgekommen, dass er diese Verantwortung tragen musste. Zwar hatte er in seinem Metier immer eine gewisse Verantwortung, aber er fühlte sich wohler, wenn nicht er derjenige war, der Führungsqualität zeigen musste. 17 Jahre lang arbeitete er jetzt schon als Rettungssanitäter, und trotzdem hatte er in all diesen Jahren, weder im Beruf noch im Leben, gelernt, was es bedeutete, selbstständig zu sein.

Nachdem er im Alter von 17 seine Ausbildung zum Tischler abgebrochen hatte, war er viel in der Berufswelt herumgekommen und hatte sich nicht selten in einem gänzlich anderen Arbeitsbereich ausprobiert. Nach seiner kurzweiligen Beschäftigung als Azubi bei dem Tischler in seinem Wohnort hatte er sich als Koch in einem Vier-Sterne-Restaurant versuchen wollen, aber schlussendlich die Ausbildung abgebrochen, weil der Beruf ihm keinen Spaß und für die mangelnde Freude nicht genügend Geld einbrachte. Mit 22 hatte er es als Einzelhandelskaufmann versuchen wollen, aber sich nach den ersten praktischen Einheiten dagegen entschieden, da er sich nicht wichtig, beziehungsweise relevant genug gefühlt hatte. Auch mehrere Unterredungen mit seiner Mutter, bei der er nach wie vor wohnte, halfen nicht, ihn vom Gegenteil zu überzeugen.

Als Nächstes landete er über einen engen Freund von ihm bei der Werksfeuerwehr des hiesigen Mischkonzerns BOSCH, wo er zum ersten Mal etwas wie einen leichten Anflug von Zufriedenheit verspürte. Doch trotzdem verwarf er auch diese Idee wieder, da er sich in seinem zweiten Ausbildungsjahr mit seinem Ausbilder anlegte, weil dieser ihn als unreif und kindisch bezeichnete, als er herausfand, dass Andre immer noch zuhause wohnte. Aus diesem Grund quittierte er seine dort angefangene Ausbildung und fand mit 26 schließlich seine große Liebe zum Beruf des Rettungssanitäters. Der Beruf bot ihm sowohl das Gefühl, gebraucht zu werden, als auch den nötigen Thrill und die Spannung, die er bisher bei seinen vorigen Ausbildungen so unwissentlich vermisst hatte. Doch er war schon lange nicht mehr 26 und das machte ihm am meisten zu schaffen. Bis er einen festen Job fand, fühlte er sich immer noch wie ein wohlig behütetes Kind unter der Obhut seiner Mutter, das nie erwachsen werden und auf eigenen Beinen stehen musste. Er hatte seit seinen Zwanzigern keine Frau mehr, außer natürlich digital, ohne Oberteil gesehen, und das letzte Mal, dass er in einer Beziehung gewesen war, lag sogar noch einige Jahre weiter zurück. Eigentlich hatte er nie wirklich eine richtige Beziehung, die als solches bezeichnet werden konnte, gehabt. Jetzt war jede Chance auf eine Frau oder gar Kinder für ihn vertan. Jedenfalls machte sein ungepflegt aussehender Bart in Kombination mit seiner großmütterlichen Brille und seinem von Zeit zu Zeit größer werdenden Bierbauch keinen sonderlich ansehnlichen Eindruck. Zudem sah er noch gute acht bis zehn – wenn das Licht schlecht auf seine gekräuselten, hellen Haare fiel sogar fünfzehn – Jahre älter aus, als er eigentlich war, und auch der Zustand seiner übrig gebliebenen Gehirnzellen war mehr als fragwürdig.

Jedes Mal, wenn seine Mutter das Haus für einige Zeit verließ und ihn bat, die Wäsche zu waschen oder das Geschirr in den Geschirrspüler einzuräumen, grenzte es beinahe an ein Wunder, wenn er es tatsächlich ohne Schäden am Inventar geschafft hatte. Meistens allerdings verzweifelte er kläglich daran, und im Endeffekt blieb es immer wieder an seiner fast 70 Jahre alten Mutter hängen, die nur jedes Mal wieder den Kopf schütteln und in sich hineinseufzen konnte, dass er zwar ein lieber Junge wäre, aber eben auch nie ein Mann geworden sei. Er hingegen sah das selbstverständlich ganz anders. In seinen Augen war er ein erwachsener, selbstständiger, lediglich von allen missverstandener Mann, der wichtig und für die Welt unersetzlich ist.

Wenn man jedoch seinen Kollegen Glauben schenken mochte, dann konnte er froh sein, überhaupt diesen Job bekommen zu haben, und das auch nur, weil Rettungssanitäter so händeringend gesucht wurden. Doch dies war alles außerhalb seiner Wahrnehmung. Aus seinem Blickwinkel heraus war er nicht unnütz und lästig, sondern der gebrauchte Held. Nicht das Alter zeigte sich an ihm und er war keinesfalls unbeweglicher als früher, sondern sein Körper machte nur eine einstweilige Pause, von der er sich jederzeit wieder erholen könne. Er war nicht alleine und kindisch und Frauen widerten sich nicht vor ihm, sondern sie sahen nur, dass er zu gut für sei. Das war seine Sicht der Dinge, und sie war gut so. Für ihn jedenfalls. Es schadete nie, zufrieden mit seinem Leben zu sein. Und eben das war es, weswegen er trotz allem ein glücklicherer Mensch war, als die Meisten. Er wollte nicht viel und gab sich mit dem zufrieden, was das Leben ihm bot. Keine Sucht nach Erfolg, Sex oder der Ferne. Auch wenn es von außen nie so schien, war auch ein solches Leben es wert, akzeptiert und gewürdigt zu werden.

Hastig drehte Andre den Zündschlüssel herum und ließ den Motor aufjaulen. Er schaltete das Blaulicht mitsamt der Sirene ein und fuhr aus dem geöffneten Tor in die Richtung, aus der der Notruf abgesetzt wurde. Erst einige Stunden, nachdem der Einsatz vorbei war, wunderte er sich, dass er auch dieses Mal wieder aus Dulingen kam. In aller Eile stiegen die beiden aus dem Wagen aus und rannten zur Tür, an der bereits die vollkommen aufgescheuchte Frau Nitz wartete.

„Helfen Sie ihm! Helfen Sie meinem Jungen!“, kreischte sie in Tränen aufgelöst und zeigte zitternd auf die Treppe, die nach oben zu Eriks Zimmer führte. Ohne nachzufragen, rannten sie die Treppe hinauf und stürmten in das erste Zimmer auf der linken Seite des Flures. Eifrig kniete Andre sich neben das Bett, in dem, regungslos und friedlich wie ein Engel, Erik lag, und versuchte, ihn erfolglos anzusprechen, während Theo am Hals und wenige Sekunden später auch am Handgelenk des Jungen genauso erfolglos dessen Puls suchte. Einen Augenblick später legten die Rettungssanitäter das Kind unter den trauernden und schmerzerfüllten Blicken der Mutter auf den Holzboden und begannen, ihn zu reanimieren.

Zehn Minuten später kam der Notarzt, der jedoch auch nicht mehr machen konnte, als den Tod des Jungen festzustellen. Wenig später verlagerten sie den toten Jungen in einem Leichensack auf die Trage und brachten ihn aus dem Haus. Mit einem leisen Klick fiel die Haustür ins Schloss. Die einzigen Geräusche, von denen das Haus noch erfüllt war, war das laute Weinen von Eriks Mutter und das des laufenden Fernsehers im Erdgeschoss. Am Boden zerstört kauerte sie sich in der Ecke vom Bett ihres gerade verstorbenen Kindes zusammen und weinte in das Kopfkissen, das sie in ihren Armen hielt.

„Was ist los?“, fragte Harald aggressiv. Er stand in der offenen Zimmertür und hatte den ganzen Trubel mit einer Dose Bier in der Hand vor dem Fernseher gekonnt ignoriert. Seinem schäbigen Aussehen und seinem Geruch nach zu urteilen, war er betrunken. Die schwarze Dose, auf der in Weiß „5,0%“ geschrieben stand, war mit Sicherheit nicht die erste an diesem Abend gewesen. Auf seinem weißen Unterhemd prangten unzählige Flecken von Soße und Gewürzen, die er daran abgewischt hatte. Mit gereizten, roten Augen sah sie ihren Mann vom Bett aus an und schluchzte unverständlich in das Kissen vor ihrem Mund. Mittlerweile war die Seite, die ihr Gesicht trocknete, stark von Tränen und Speichel durchnässt.

„Ich habe dich etwas gefragt“, betonte Harald wütend und näherte sich ihr mit langsamen Schritten.

„Er ist tot!“, schrie sie ihn an und presste ihr Gesicht wieder laut schluchzend in das Kissen. Einen Moment blieb er stehen und sah seine weinende Frau an. Es war okay, dass sie weinte. Frauen taten so etwas immer wieder. Aus diesem Grund trafen auch Männer die wichtigen Entscheidungen, da sie nicht so schnell zu flennen begannen und sich alles zu Herzen nahmen. Solange sie ihm nicht auf die Nerven ging und Krach machen würde, sollte sie heulen, wie sie wollte. Er würde es nicht tun. Er war ein Mann und kein emotionales Waschweib, das anfangen würde, sich die Augen aus dem Kopf zu heulen.

„Versager sterben immer früher“, sagte er trocken, als versuchte er, sie damit trösten zu wollen.

Gleichgültig nahm er einen Schluck aus seiner Bierdose, stieß laut auf und verließ unter dem verstörten Blick seiner Frau das Zimmer, um sich wieder zu seiner Tüte Kartoffelchips vor den Fernseher zu setzen. In diesem Moment hasste sie ihn so abgrundtief, dass ihre Trauer für eine Sekunde in den Hintergrund geriet und sich in Hass verwandelte. Während sie sich selbst hinterfragte, wie sie jemals jemanden wie ihn geliebt haben konnte, versank ihr Gesicht wieder in dem Kissen, auf dem vor einer Viertelstunde noch ihr toter Sohn gelegen hatte.

18

Da war sie wieder. Angst. Beklemmende Angst. In den letzten Tagen hatte Kris sie immer wieder und so oft wie selten zuvor erlebt. Er hatte Angst verrückt zu werden, wie sein Bruder Benjamin es gewesen war.

Im Alter von 15 Jahren wurde sein Bruder von ihrem Vater das erste Mal zu einem Neurologen geschickt. Ständig erzählte er von Feen und Elfen, die ihm den Weg ins Paradies zeigen wollten. Niemand hatte ihm geglaubt und als er wenige Wochen später immer noch nicht damit aufgehört hatte, zog sein Vater die Reißleine und gab ihn bei Dr. Winkler, einem ehemaligen Studienkollegen von ihm, in psychiatrische Behandlung. Doch bereits nach ein paar Sitzungen mit dem Jungen verflog jeder Gedanke daran, dass Benjamin bloß seine pubertäre Seite der Romantik und Weltflucht auslebte, wie es E.T.A. Hoffmanns junger Student Anselmus auch getan hatte. Anders als der Student, der in seiner Welt der Fantasie und der Mystik mit Serpentina in Atlantis bleiben konnte, konnte Benjamin nicht in seiner, in der Feen und Elfen ihn ins Paradies führen wollten, überdauern. So funktionierte die Welt der rational denkenden Menschen nicht, und aus diesem Grund musste man ihn aus seiner Traumwelt herausholen und in die Realität zurückbringen, um in dem System zu arbeiten, das alle anderen genauso hassten, wie er selbst.

 

Kris Vater hatte Benjamin immer als das schwierige Kind bezeichnet, das nur Flausen im Kopf hätte und es nie zu etwas bringen würde, wenn er nicht anfangen würde, klarzukommen. Von Anfang an hatte er versucht, ihn in die Zwangsjacke der Realität zu stecken und ihm immer aufs Neue gepredigt, dass es wichtig wäre sich, nicht auf märchenhaften Schwachsinn, sondern auf Erfolg und Bildung zu konzentrieren. Das Märchen bringt dich in die Klinik, die Bildung führt dich in den Wohlstand.

Auch Kris hatte die Weltanschauung seines Vaters aufgezwängt bekommen, allerdings nicht mit der Härte, die Benjamin erleben musste. Man konnte ihrem Vater zwar viel Realismus vorwerfen, aber nicht, dass er stets in der neuen Zeit lebte. Denn obwohl das Mittelalter bereits lange vorbei war, dachte er immer noch in dem Schema des erbenden Erstgeborenen, weswegen sein Hauptaugenmerk in allen erzieherischen Maßnahmen auf Benjamin ruhte. Kris war bloß die zweite Geige, die erst dann ins Spiel kommen würde, wenn Benjamin entweder tot oder aufgrund irgendeines Umstandes von ihm enterbt worden wäre. Und eben dieser Gedanke hatte sich ihm immer häufiger aufgedrängt, während er seinen Sohn in Behandlung schickte. Er versuchte gar nicht erst, sich selbst als Ursache für die psychischen Probleme seines Kindes verantwortlich zu machen. Den einzigen Vorwurf, den er sich machte, war, dass er ihn auf irgendeine Weise trotzdem liebte.

Schuld war etwas, das Philosophen und andere Theoretiker diskutieren sollten.

Er liebte ein Kind, das der Überzeugung war, dass Feen und Elfen existieren würden. Tiefer konnte er schlichtweg nicht mehr sinken. Nachdem Benjamin seine erste Behandlung in der Psychiatrie hinter sich gebracht hatte und laut Dr. Winkler wieder in der normalen Welt angekommen war, startete sein Vater direkt den nächsten Anlauf, um ihm seine Zwangsjacke anlegen zu können. Fernsehen war nur dann erlaubt, wenn es sich um Nachrichten oder Wirtschaft handelte. Mit Freunden durfte er sich nur treffen, wenn sein Vater sichergehen konnte, dass sie keine Spiele spielten oder Musik hörten. Da erschien es wenig verwunderlich, dass er nie Freunde gehabt hatte. Videospiele waren gänzlich verboten und Musik nur dann, wenn sie von Beethoven oder Bach komponiert worden war, denn Mozarts Stücke waren seiner Auffassung nach zu verspielt und kindisch. Das Einzige, das ihm nicht verboten, sondern aufgezwungen wurde, war das Lesen. Damit waren jedoch keine Romane oder fiktiven Geschichten gemeint, sondern Wirtschaftsmagazine, Biographien erfolgreicher Unternehmer und Wissenschaftler, sowie deren Abhandlungen und Dissertationen. Es sollte nicht überraschend sein, dass die Gründe für die psychischen Probleme und Halluzinationen von Kris großem Bruder das Ergebnis jahrelanger Isolation von den Freuden und der Fantasie des Lebens waren.

Eine Psyche, auf die Druck ausgeübt wird, ändert ihren Zustand dem Druck entsprechend.

Zwei Wochen waren vergangen, seitdem er aus der Psychiatrie entlassen wurde, und von einem Rückfall war noch keine Spur zu erkennen. Aber was sich lange in einem aufstaut, schlägt am Ende nur noch härter zu. Seine Fantasie brachte ihm den Tod, lautete der Text der Traueranzeige, die am nächsten Tag in der Zeitung erschienen war. Doch was war, wenn nicht die Fantasie, sondern der Tod der Fantasie ihn ins Grab befördert hatte? Diese Frage hielt Kris noch lange wach bis er in den frühen Morgenstunden schließlich in einen unruhigen, traumlosen Schlaf fiel.

19

Urplötzlich öffnete Kris die Augen und begann, schwach zu blinzeln. Verwirrt und auf der Suche nach einer Uhr blickte er sich um. Neben ihm lagen Juleen und Merlin, der, wie immer, in der Nacht zu ihnen ins Bett gekrochen war. Es konnte noch nicht sonderlich spät sein, denn für gewöhnlich stand Juleen bereits um sechs auf, um für ihn und den Kleinen das Frühstück vorzubereiten und Kaffee - jeden Morgen vor der Arbeit trank er zwei Tassen schwarzen Filterkaffee - aufzusetzen.

Irgendetwas war anders, ging es ihm durch den Kopf, dann sah er, dass die grünen Zahlen auf seinem Wecker erst 5:30 anzeigten. Eine Stunde noch schlafen, dachte er und schloss die Augen, aber öffnete sie nach wenigen Sekunden bereits wieder, als ihm auffiel, was nicht stimmen konnte. Er war nicht müde, sondern hellwach.

Wie lange konnte er geschlafen haben? Vier Stunden? Vielleicht sogar nur drei oder zweieinhalb? Sein Schlaf konnte nicht mehr als ein nächtlicher Powernap gewesen sein. Es kam ihm nicht einmal so vor, als wenn er überhaupt jemals geschlafen, sondern bloß einmal geblinzelt hatte, wobei sein Wecker um ein paar Stunden nach vorne gesprungen sein musste. Anders konnte Kris sich seinen aktuellen Zustand jedenfalls nicht erklären. Rational gesehen natürlich. Spinner und Abergläubige würden mit Sicherheit tausend Gründe und mehr für das komische Gefühl, das er hatte, finden und vermutlich den Mondzyklus oder den Stand der Planeten dafür beschuldigen. Auch sie waren doch im Endeffekt nur Psychos und Romantiker, die versuchten, der normalen Realität zu entfliehen, weil sie es in dieser zu nicht mehr brachten, als der bekannte Dorfbusfahrer oder die unansehnliche Bürosekretärin zu sein. Alles, wodurch sie sich jemals hervortun oder bemerkbar machen konnten, war, wenn sie gegen etwas rational Erklärbares oder unanfechtbar Bewiesenes mit Halbwahrheiten protestieren konnten. Viren können nicht existieren, weil ich niemanden kenne, der sie schon gehabt hat, Vitamine sind ein Mythos, weil wir sonst zu Pflanzen mutieren würden und der Klimawandel ist eine Lüge, da nicht weit von uns ein Wald mit genug Bäumen steht, der nicht gerodet wird.

Doch da er weder ein Spinner noch abergläubig war, akzeptierte er es, wie es war, und erhob sich aus seinem Ehebett. Da er ohnehin nichts Besseres zu tun hatte, marschierte er unmotiviert in die Küche, um erst Kaffee, den er, wenn er ehrlich war, gar nicht brauchte, zu machen und dann den Tisch für das Frühstück, auf das er eigentlich gut und gerne verzichten konnte, vorzubereiten.

Gelangweilt öffnete er den Schrank über der Spüle und holte einen Kaffeefilter, sowie die hohe zylinderförmige Keramikbox mit dem Kaffeepulver heraus. Nachdem er erst den Filter in die Maschine eingelegt hatte, füllte er in Gedanken versunken Löffel für Löffel das Pulver hinein. Abgelenkt von seinen Gedanken rutschte er ihm aus der Hand und fiel mit einem stillebrechenden Klingen auf den Boden. Verärgert bückte er sich, legte den Löffel auf die Ablage über ihn, holte das weiße Kehrblech samt Handfeger unter der Spüle hervor und machte sich daran, die verschütteten Kaffeekrümel aufzukehren und in den schwarzen Treteimer zu entsorgen. Mit dem Kehrblech in der Hand öffnete er mit seinem Fuß den Eimer und klopfte es darüber aus. Doch, als er den Deckel des Mülleimers wieder zufallen lassen wollte, hielt er inne und beugte sich ein wenig über den Müll. Unter ein paar vereinzelten Krümeln lag der gelbe Zettel, den er gestern an dem Bildschirm des Computers in der Praxis entdeckt hatte. Hatte er ihn nicht gestern eigentlich auf dem Weg zu seinem Auto weggeworfen?

Du bist nicht verrückt. Du hattest vor, ihn auf dem Rückweg wegzuwerfen, aber hast es vergessen und ihn hier in den Müll geworfen. So wird es gewesen sein.

Aber so war es nicht gewesen. Das wusste er. Er hatte ihn gestern in die Hecke eines Grundstücks in der Nähe der Praxis geworfen. Der Wind würde ihn verschwinden lassen, hatte er gedacht, und wenn er ein paar Sekunden länger in sich gegangen wäre, dann wäre er mit Sicherheit zu dem Schluss gelangt, dass es keine Einbildung war, dass er den Zettel in der Hecke entsorgt hatte. Doch seine selektive Wahrnehmung überzeugte ihn lange genug, dass er den Deckel des Mülleimers wieder herunterschnellen ließ und sich wieder dem Decken des Tisches zuwandte.

Verwundert über den frühen Wachheitszustand ihres Mannes kam Juleen eine halbe Stunde später in die Küche, wo es bereits nach Toast und Kaffee roch. Noch mehr, als er seine Frau überrascht hatte, überraschte er sich selbst, als er wie aus einem plötzlichen Impuls heraus um zehn nach sieben aufbrach, um sich zu seiner Praxis zu begeben. Um kurz vor halb acht kam er mit dem Auto vor dem weißen Bungalow, in dem er arbeitete, zum Stehen und zog mit zittrigen Fingern den Schlüssel aus dem Zündschloss. Warum er so zitterte, wusste er nicht, schließlich gab es keinen erklärbaren Grund dafür. Jedenfalls noch nicht.

20

Leise öffnete Kris die Tür zu seinem Sprechzimmer und schaltete mit einem leichten Herzklopfen das Licht ein. Es war zwei Minuten vor halb acht. Erleichtert darüber, dass der Raum leer war, schloss er die Tür hinter sich und hängte seine Jacke an den Kleiderständer. Mit bemühter Ruhe stellte er seinen Koffer neben dem Schreibtisch ab, setzte sich auf seinen Drehstuhl vor den Computer und wartete. Einen Moment lang erschien ihm alles sinnlos. Die Frage, was genau er eigentlich tat, tauchte immer wieder in seinem Kopf auf und ließ ihn noch zerstreuter erscheinen, als er es ohnehin schon war. Anstatt wie ein hibbeliges Kind bei seiner Einschulung unruhig zu warten, bis etwas geschehen würde, behielt er starr die Zeiger seiner Armbanduhr im Auge. Selten war ihm die Zeit so zäh vorgekommen, wie es in diesen Sekunden der Fall war. Es schien so, als wenn er in diesen zwei Minuten, die er wartete, bis die Uhr an seinem Handgelenk halb acht anzeigte, noch einmal zu sich nach Hause hätte fahren können, um Merlin in die Kita zu bringen, und anschließend noch Brötchen vom Bäcker für das Abendbrot hätte kaufen können. Langsam und mit einem schwachen Zittern landete der Minutenzeiger auf der Sechs. Kris schaute auf. Sein flacher Atem und seine Nervosität ließen den Puls in seinen Schläfen bis aufs Äußerste hin pulsieren. Eine weitere Minute verging, ohne dass etwas Nennenswertes geschah, und er ließ erleichtert seinen Arm auf den Tisch fallen.

Natürlich war nichts passiert. Was hätte denn auch passieren sollen?

Nachdem er einen Moment überlegte, ob er diese Frage ernsthaft überdenken sollte, stoppte seine Erleichterung innerhalb eines Augenblicks, als ihm der strenge Geruch von Ammoniak in die Nase drang. Unsicher blickte er sich ein weiteres Mal in dem leeren Sprechzimmer um, während ihm langsam das Blut wieder in den Kopf schoss und seine Schläfen aufs Neue zu pulsieren begannen. Doch er war nach wie vor alleine.

Angespannt hielt er den Atem an und sah aus der großen Fensterwand zu seiner linken. Einzig die beiden senkrechten Holzbalken, sowie der Querbalken, die die Fensterfront in sechs gleich große Bereiche teilte, verhinderten die freie und uneingeschränkte Sicht auf die Straße und die Parkplätze vor seiner Praxis, wo er seinen silbernen Ford Focus abgestellt hatte. Mittlerweile zeigte die Armbanduhr an seinem Handgelenk an, dass es bereits fünf Minuten nach halb acht war. Entschlossen fuhr er den Computer hoch. Seine rational denkende Seite tat es, um sich auf die Arbeit vorzubereiten. Seine unsichere und leichtgläubige Seite tat es, weil sie insgeheim sichergehen wollte, dass es keine Nachricht oder Ähnliches von dem seltsamen Mann gab, die darauf wartete, von ihm gelesen zu werden. Doch dieser Gedanke blieb unterhalb der Akzeptanzgrenze seines Verstandes und wurde deswegen nur heimlich und ohne große Aufmerksamkeit stetig weiter befeuert.

Draußen ging der nervtötende Alarm eines Autos. Ohne sich ablenken zu lassen, öffnete Kris sämtliche Dateien, Ordner und Programme, die auf seinem Rechner zu finden waren. Eine Nachricht oder einen Hinweis darauf, dass er sich weder den Zettel noch den Mann selber eingebildet hatte, gab es nicht. Im Hintergrund piepte immer noch unaufhörlich der Autoalarm, und der erste verärgerte Bewohner steckte bereits den Kopf aus der Haustür, um nachzusehen, wessen vermaledeite Karre seine morgendliche Ruhe störte. Unzufrieden legte Kris den Kopf in seine Hände und rieb sich die Augen. Allmählich holten ihn scheinbar doch die Müdigkeit und der nicht vorhandene Schlaf der letzten Nacht ein.

 

„Verdammt nochmal stellen Sie endlich dieses dämliche Gepiepse ab!“, brüllte der Mann, der in dem Haus neben der Praxis wohnte und mit Bademantel und Pantoffeln bekleidet in seiner geöffneten Haustür stand. Abgelenkt warf Kris einen flüchtigen Blick aus der Fensterfront seines Sprechzimmers, von wo sowohl der Alarm, als auch die verärgerten Rufe von Herrn Jakobsen herkamen. Verwirrt erhob er sich von seinem Stuhl und trat näher an die Fenster heran, um sich zu vergewissern, dass seine Augen ihn nicht trügten. Draußen auf dem Parkplatz heulte und blinkte, wie eine Alarmsirene, sein eigenes Auto. Ein wenig beschämt, aber auch mindestens auf dieselbe Art und Weise verwirrt, wie es dazu gekommen sein konnte, holte er seinen Autoschlüssel aus der Hosentasche und drückte auf den Knopf, um das Auto aufzuschließen. Doch anstatt, dass der Alarm aufhörte, kam es Kris vor, als wenn das Blinken immer schneller werden würde. Verunsichert drückte er ein weiteres Mal, diesmal etwas länger und stärker und schließlich noch ein drittes Mal auf den Knopf, ohne dass etwas geschah. Während sein Nachbar draußen immer noch auf ihn und seinen Wagen schimpfte und seine Zeitung, als ob er der Karosserie Angst machen wollen würde, wie ein Schwert in die Luft hielt, eilte Kris aus der Tür seiner Praxis hinaus, hob im Vorbeilaufen entschuldigend eine Hand und schloss die Tür des Autos mit dem Schlüssel auf. Augenblicklich, er hatte immer noch die offene Autotür in der Hand, verstummte das Gejaule und Blinken.

„Warum nicht gleich so?“, fragte der mittelalte Mann mit dem Dreitagebart entnervt und plusterte seine roten, wie vom Wind gepeitschten Wangen wütend auf.

„Entschuldigen Sie, Herr Jakobsen, der Sender in meinem Schlüssel muss defekt sein, und ich konnte ihn nicht von meinem Sprechzimmer aus abstellen“, versuchte Kris ihm höflich und verständnisvoll zu erklären.

In Situationen wie diesen diplomatisch und kompromissbereit zu bleiben, war etwas, das sein Vater ihm mit auf den Weg gegeben hatte.

Ehrlichkeit ist gut, aber schlecht fürs Geschäft. Es ist egal, ob du die Leute magst oder nicht, aber es erleichtert dir eine Menge, wenn du den Anschein warst, dass sie dir nicht egal sind. Kein Mann ist jemals reich geworden, indem er der ganzen Welt gesagt hat, wie sehr er sie hasst und wie egal die Menschen ihm sind.

Uninteressiert an dem, was seine Rechtfertigung sein würde, winkte er mit seiner Zeitung in der Hand ab und ging wieder ins Haus zurück, wo er die Tür mit einem lauten Knall zuschlug. Kaum hatte er die Tür zugeschlagen, verschwand Kris freundlicher Gesichtsausdruck und er verschloss sein Auto wieder.

„Arschloch“, murmelte er und schickte ein sarkastisches Stoßgebet in Gedanken hinterher. Als er die Praxis wieder betrat, hielt er sich angewidert die Nase zu und riss die Terrassentür im Wartezimmer weit auf. Der Gestank von Ammoniak war in der kurzen Zeit noch schlimmer und beißender geworden als vorher. Von der Terrasse aus konnte er in das Wohnzimmerfenster von dem eben noch so beleidigten Herrn Jakobsen schauen. Auf dem großen Fernseher, den er mit Sicherheit nicht selbst gekauft hatte und vor dem ein paar der kleinen Porzellanfiguren seiner werten Frau Mama standen, lief das Morgenmagazin. Kopfschüttelnd ließ er ein abfälliges Zischen erklingen und stellte sich vor, wie sich der leicht übergewichtige Jakobsen in seinem Bademantel – das Gemächt baumelt frei vor sich hin – in seine Sofamulde drückte und ein Toast mit einem halben Kilo Marmelade verspeiste. Selbstverständlich musste es eine mit möglichst viel Zucker und einem schwindend geringen Anteil natürlicher Beeren sein, damit sich Kris‘ Bild zu seiner Zufriedenheit vervollständigen konnte. Gelassen drehte er sich um und betrat das Wartezimmer wieder. Das Lüften hatte seinen Zweck kaum erfüllt, und innerhalb weniger Sekunden stieg ihm der Geruch von dem Gemisch aus Stickstoff und Wasserstoff erneut in die Nase und ließ seine Augen leicht zu Tränen beginnen, als er die Tür zu seinem Sprechzimmer öffnete. In dem Moment, in dem ihm auffiel, dass er die Tür, als er nach draußen gegangen war, gar nicht geschlossen hatte, hörte er auch schon die krächzende Stimme.

„Verzeihen Sie, Doktorchen, dass ich mich verspätet habe, aber sie wissen ja, wie das ist. Eine Viertelstunde warten ist ein Luxus, den meist nur die Privatpatienten besitzen, stimmts? Ach, da plapper ich wieder vor mich hin, wo Sie doch so viel Interessanteres zu erzählen haben. Bitte setzen Sie sich doch.“

Geschockt und mit Tränen in den Augen von dem strengen Geruch verharrte Kris auf der Stelle und starrte in die gelben Augen des alten Mannes, der vor ihm auf seinem Schreibtischstuhl saß. Mit offenem Mund, der sich zu einem aufgeregten Lächeln verzogen hatte, deutete der Mann im Schlafanzug auf die beiden Stühle, auf denen normalerweise Kris‘ Patienten Platz nahmen. Zögerlich zog er einen der beiden Stühle zurück und setzte sich langsam und mit einer Spur von Angst auf das blaue Polster. Stumm saßen die beiden sich gegenüber und blickten sich in die Augen. Kris mit Angst und Verzweiflung. Der Mann im Schlafanzug mit Spaß und Gelassenheit.

„Also ... Aeterna Somnum... Ewiger Schlaf... Das wird wohl kaum ihr richtiger Name sein, oder?“, begann Kris unsicher die Konversation. Im Licht der Deckenlampe sah es so aus, als ob der Mann ihm gegenüber drei Reihen von scharfen Zähnen sowohl am Ober-, als auch am Unterkiefer besaß, was Kris an das Revolvergebiss eines Hais erinnerte. Aber er musste sich irren. Das alles wäre viel zu surreal, um wahr zu sein.

„Oho, Herr Doktor. Sie würden ihrem Lateinlehrer alle Ehre machen“, lachte er.

Sein Lachen klang so krächzend wie das Krähen eines Raben, der in einem typischen Horrorfilm auf irgendeinem Straßenschild Platz nehmen und schließlich wegfliegen würde.

„Zu schade, dass er vor vier Jahren an Leberkrebs verstorben ist“, fügte er mit gespieltem Mitleid hinzu und ließ kurz darauf erneut sein grauenhaftes Lachen erklingen.

„Sie sind nicht real. Ich bin verrückt geworden, nicht wahr?“, fragte Kris trocken und sah ihm emotionslos in die Augen.

„Ach Doktorchen, jetzt machen Sie sich doch nicht so kirre im Kopf. Wieso denken Sie denn, dass Sie verrückt wären? Immerhin sehen Sie keine Feen und Elfen, die Sie ins Paradies führen wollen, oder doch? Ich bin ebenso real, wie Sie es sind“, sagte er grinsend, wobei seine Augen verspielt aufblitzten.

„Wenn Sie tatsächlich real sind, dann verraten Sie mir, wer Sie sind. Wurden Sie von einem der Kritiker meines Vaters engagiert, um mir einen Streich zu spielen? Um mir Angst einzujagen? Oder um mich daran zu erinnern, was mit meinem Bruder damals passiert ist? Sind Sie von einem dieser Klatschblätter angestellt worden, die versucht haben meine Familie an den Abgrund zu drücken? Wenn ja, dann finde ich, das nicht nur respektlos, sondern auch äußerst geschmacklos und ich werde dafür sorgen, dass Sie und wer auch immer Sie engagiert hat, dafür zur Rechenschaft gezogen wird. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir verraten würden in, wessen Auftrag Sie hier sind, dann sorge ich bei meinem Anwalt dafür, dass Ihre Strafe abgemildert ausfallen wird“, sagte Kris mit einem gewissen Stolz in der Stimme, dass er das Ganze nun doch auf eine reale und erklärbare Ebene gezogen hatte. Es war nicht er, der es sagte, sondern sein Vater, der aus ihm sprach. Der Junge hat nun mal vom Besten gelernt, hätte dieser jetzt mit Sicherheit zu seiner Frau gesagt, wenn er mitbekommen hätte, wie Kris versuchte, sich den vermeintlichen Bemühungen seiner Gegenspieler entgegenzuwerfen.

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