Die Schule

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Zoe erhob sich leicht schniefend vom Sofa und versuchte, in ihre halboffenen zitronengelben Schuhe einzusteigen.

„Warte, ich helf dir“, bat David ihr an und weitete die Schuhe mit beiden Händen, um ihr den Einstieg zu erleichtern. Langsam steckte sie erst ihren rechten und dann ihren linken Fuß in die Schuhe, welche David dann mit dem vorhandenen Klettverschluss schloss.

„Bin gleich wieder da, Mom“, verabschiedete er sich kurz angebunden und zog sich nun auch seine Skechers an.

„Ich sauge die übrigen Splitter in der Zeit weg“, sagte sie, und ein Hauch von Zufriedenheit mischte sich in ihren Satz ein. Der Stolz darauf, wie ihr Ältester reagiert hatte, schien noch etwas vorzuhalten.

„Danke“, erwiderte er trocken und öffnete Zoe, der es immer noch aus Angst die Sprache verschlagen hatte, die Tür. Dann verließen sie gemeinsam das Haus und ließen eine unentschlossene Faye zurück, die sich im Unklaren war, ob sie es übers Herz bringen würde, ihren Sohn weg zu schicken. Wäre es ein ganz normaler Ort an den sie ihn schicken würde, würde ihr die Entscheidung leicht fallen. Aber da man so allerhand hörte und mitbekam von anderen Eltern, war die Wahrscheinlichkeit nicht sonderlich hoch, dass er je zurückkehren würde. Sie holte den Staubsauger aus der Besenkammer und dachte nicht weiter über diese Frage nach, sondern beschäftigte sich mit der Problematik, wie sie, ohne sich Socken oder Schuhe holen zu müssen, nicht in die kleinen Splitter trat, die die Größe eines Reiskorns hatten und weit auf dem Boden verstreut lagen.

8

„Hey, meine Süße“, begrüßte Mrs. Hillton ihre kleine Tochter, die eilig durch das Gartentor auf sie zu lief.

„Guten Abend Mrs. Hillton“, rief David Zoes Mutter zu und blieb im offenen Tor stehen.

„Hallo David“, antwortete sie ihm lächelnd. Ihre hellblonden Haare waren zu einem Dutt zusammengebunden, der ebenso perfekt aussah wie ihre makellose, strahlend weiße Haut. Genau wie ihre Tochter hatte sie einen Eisenmangel, gegen den sie nicht wirklich etwas taten, weswegen keiner von beiden wirklich braun wurde, sondern sie ganzjährig blass wie Vampire blieben. Als ihre Mutter grade auf den Verband aufmerksam wurde, sah David bereits, wie ihr Vater sich schon von seiner Zeitschrift abwand und das Geschehen beobachtete.

„Mädchen, komm her!“, brüllte er seine Tochter an. Auch er hatte den Verband entdeckt.

„Cal, bitte hör auf!“, herrschte seine Frau ihn an. Sie wusste, wie er war, wenn er betrunken und frustriert war, wie genau jetzt in dieser Situation. Dadurch, dass es schon nach sechs Uhr war, arbeitete er immerhin schon seit fast sechs Stunden seinen Vorrat an Bierdosen ab. Zudem war er erst recht aufgestachelt, weil seine Frau ihn vorhin, als die kleine Göre weg war, nicht rangelassen, sondern nur gemeint hatte, dass sie nicht könne, weil sie sich um die Wäsche kümmern müsse. Dämliches Weibsbild. Wieso musste er auch immer so gnädig sein und ihr eine Wahl lassen, ob sie denn mit ihm schlafen wolle oder nicht. Schließlich war sie mit ihm verheiratet und hatte ihre eheliche Pflicht zu erfüllen. Keiner könnte ihn anzeigen, dass er sie vergewaltigen würde, es gehörte zu ihrer Pflicht, sich es von ihm besorgen zu lassen.

„Komm her, hab ich gesagt!“, wiederholte Cal sich lautstark und ungewollt lallend. Allgemein betrachtet ließen sich alkoholisierte Menschen in zwei Kategorien einteilen. Zum einen gab es berauschte Personen, die, wie Paul Williams, anhänglicher wurden und den Gegenüber nicht mehr loslassen wollten. Und zum anderen gab es Personen, wie Cal Hillton, die anfingen, aggressiv zu werden und ihren Gegenüber nicht umarmen sondern am liebsten dessen Auto – oder noch besser dessen Gesicht – mit seinem BB-10 Profi Baseballschläger von barnett (Modell 210 -4) ein neues, in seinen Augen optimiertes, Aussehen verpassen würden. Zögerlich ging Zoe auf ihn zu. Davids Blick und der ihrer Mutter folgten ihr sorgend.

„Was ist das?“, fragte ihr Vater und zeigte auf den Verband. Das Bild, das er bot, war das eines klischeehaften Arbeitslosen. Schlecht rasiert, Dreitagebart, glasiger Blick, das weiße Unterhemd spannte über den immer größer werdenden Bierbauch und seine Schultern wurden von einem aufgeknöpften, kurzärmligen, grün weiß karierten Hemd verdeckt. David musste sich an Mrs. Prentons Taschentuch erinnern, das sowohl dieselbe Farbe, als auch dasselbe Muster wie das Hemd des betrunkenen Cal Hillton hatte. Man könnte meinen, sie hätte es sich aus den fehlenden langen Ärmeln seines Hemdes selbst herausgeschnitten.

„Ich hab mich geschnitten“, erzählte sie kleinlaut. Sie hatte Angst, ihm in die Augen zu sehen. Außerdem konnte sie den strengen Biergeruch aus seinem Mund nicht ertragen, jedoch würde sie das nie offen zugeben, ansonsten würde er wieder einen seiner Anfälle bekommen, wie ihre Mom es ausdrückte.

„Wer hat das getan?“, fragte er weiter. Man konnte förmlich spüren, wie die Wut in ihm aufstieg. Zwar gab es keinen Grund dafür, doch nachdem seine Frau sich nicht hatte anfassen lassen, musste er seinen Frust an etwas auslassen. Auch wenn dies seine eigene Tochter war.

„David hat das gemacht“, antwortete Zoe ohne sich im Klaren darüber zu sein, dass ihr Vater die Verletzung und nicht den angelegten Druckverband meinte. Keine Sekunde später hatte Cal seinen Sündenbock gefunden, an dem er seinen Frust auslassen konnte.

„Hast du meine Tochter verletzt?!“, brüllte er dem verwirrten David entgegen und erhob sich von seinem Thron, in Form eines gelben durchgesessenen Gartenstuhles. David wusste nicht, was er antworten sollte. Wie angewurzelt stand er auf den aus Muschelkalk gefertigten Pflastersteinen, welche den Weg vom Gartentor bis zur Haustür zierten. Bevor ihm überhaupt bewusst wurde, was sich in diesem Moment in Cals Kopf abspielte, hatte dieser bereits die Hälfte des gepflasterten Weges zurückgelegt.

„Was hast du meiner Tochter angetan?!“, brüllte er ihn immer noch lallend und voller aufgestauter Wut an. David wich ein paar Schritte vom Tor zurück.

„Daddy, er hat mir nicht weh getan!“, kreischte Zoe ihm in Angst um David hinterher.

„Cal, lass ihn in Ruhe!“, mischte sich nun auch seine Frau ein.

„Halt dich da raus, du Schlampe!“, peitschte er seiner Frau entgegen. Selber Schuld. Hättest du dich einfach von mir ficken lassen, dann wäre das hier auch nicht notwendig gewesen. Denn genau das war es. Notwendig. Irgendwie musste er ja seinen sexuellen Frust abbauen können. Dass es in dem Fall nun David traf, der ihm absolut nichts getan hatte, war halt einfach Pech für den Jungen.

„Ich habe Ihrer Tochter nichts…“, doch weiter kam er nicht, da Zoes aufbrausender Vater das Tor erreicht hatte und ihn nun am Kragen packte.

„Was hast du meiner Tochter angetan, du verdammter Hurensohn?!“

„Nichts, Mr. Hillton!“, antwortete David mit sicherer Stimme. Die Sicherheit in seiner Stimme stachelte Cal noch weiter auf. Wie konnte der Bengel es wagen, keine Angst vor ihm zu haben? Nahm er ihn etwa nicht ernst? Hielt er ihn für einen Witz? Für einen Trunkenbold, der einfach in eine Zwangsjacke gehörte und nichts tat, außer Reden zu schwingen? Für einen abgehalfterten Ex-Security, der nicht einmal mehr in der Lage war, sich selbst gegen einem Teenager zu verteidigen?

„Hör auf zu lügen!“ Er zerrte an seinem Kragen, der bereits deutlich weiter war, als es eigentlich vom Hersteller vorgesehen war.

„Na warte! Ich prügle dir deinen kranken, pädophilen Tick aus deinem beschissenem Hirn!“ Mit diesen Worten holte er aus und schlug ihm mit der Faust, trotz seines hohen Promillegehalts, zielsicher auf sein linkes Auge. Der Schlag war nicht wirklich das, was man einen Kanonenschuss nennen würde, aber auch nicht das was man als Windhauch bezeichnen würde. Man konnte deutlich merken, dass er nicht mehr in der Form war, in der er sich befunden hatte, als er auf dem Höhepunkt seiner Security Laufbahn angekommen war.

„Cal, hör auf!“, kreischte seine Frau hinter ihm, traute sich jedoch nicht an ihn heran. Zoes betrunkener Vater wollte grade zum zweiten Schlag ausholen, als David überraschenderweise zum Gegenschlag ausholte und ihm mit voller Wucht einen sauberen Haken verpasste. Mr. Hillton taumelte ein paar Schritte rückwärts, dann fiel er auf den Boden, wobei er sich zumindest so abfangen konnte, dass er auf seinem Hintern landete und nicht mit dem Kopf auf den harten Pflastersteinen. Er gab ein kurzes würgendes Geräusch von sich und erbrach eine galleähnliche Flüssigkeit, in der ein Stück seines Schneidezahns schwamm. Wegen seines hohen Alkoholkonsums und seinem geringen Konsum von fester Nahrung hatte er lediglich etwas Magenflüssigkeit erbrechen können. An dem Erbrochenen traf David keine Schuld. Cal hätte sich so oder so übergeben müssen, darauf hatte Davids Notwehr keinen Einfluss gehabt. An dem Stück Zahn, das darin schwamm jedoch schon. Der Kinnhaken, den David ihm verpasst hatte, hatte einen seiner oberen Schneidezähne so hart auf die unteren prallen lassen, dass dieser zur Hälfte abbrach und mit einer ordentlichen Portion seines „leeren“ Mageninhalts hinausbefördert wurde. Zoe stürmte auf David zu und klammerte sich mit ihrer gesunden Hand an seinem rechten Bein fest. Ihre Angst vor ihrem Vater war vergessen. Jetzt hatte sie nur noch Angst um David. Sie wusste, dass ihr Vater nicht so reagiert hatte, weil er sie beschützen wollte und sich um sie sorgte. Wenn er das wirklich machen wollen würde, hätte er sie nicht so oft geschlagen und ihr wehgetan. Mrs. Hillton lief währenddessen zu ihrem auf dem Boden sitzenden Mann, welcher schwer atmete und nach Luft zu ringen schien.

„Ruhig atmen, Cal. Atme ein“, sie holte Luft. „Und atme aus“, sagte sie und stieß die eben eingeatmete Luft wieder aus.

 

„Es tut mir so leid, Mr. Hillton! Ich wollte Sie nicht verletzen!“, entschuldigte er sich eifrig, wahrte aber weiterhin den Abstand zu ihm.

„Verschwinde Junge“, keuchte er, während er immer noch damit kämpfte, seine Atmung wieder regulieren zu können. Mrs. Hillton drehte sich zu David herum und nickte ihm mit einer unterschwelligen Entschuldigung zu, dass es besser wäre, wenn er jetzt gehen würde. Zoe aber hinderte ihn daran, indem sie sich noch fester in sein Bein krallte und ihn flehend ansah, bei ihr zu bleiben.

„Rufst du mich morgen an?“, fragte sie ihn traurig und legte ihren besten Bettelblick auf.

„Versprochen“, sagte er und tätschelte ihren Kopf. Ihr Klammergriff lockerte sich, womit sie ihn offiziell zu seinem Nachhauseweg entließ.

„Bis morgen, Kleine.“

„Machs gut, David“, erwiderte sie.

„Mach dir keine falschen Hoffnungen! Ich werde dafür sorgen, dass dieser Perverse nie wieder ein Wort mit dir reden wird!“, hörte er Cal wutentbrannt sagen, während er sich vom Grundstück der Hilltons entfernte. Im Stillen hoffte er, dass Cal heute noch ein paar Bier mehr trinken würde und heute in der Nacht, während er schlief, sein eigenes Erbrochenes ihm die Luftzufuhr abschnüren würde.

9

Stille herrschte in dem Haus der Williams, als David die Eingangstür öffnete. Er zog seine Schuhe aus und stellte sie sorgfältig unter die Garderobe zu den High Heels seiner Mutter. Echte Markenschuhe aus schwarzem Leder von Christian Louboutin. Normalerweise standen sie in ihrem Kleiderschrank, damit sie bestmöglich vor Schmutz und anderen unschönen Verunreinigungen geschützt waren. Sie standen aus dem Grunde dort, weil Faye die letzte Nacht gemeinsam mit ihrer Cousine – der Direktorin von Davids High School – im Club, welcher sich etwas außerhalb des Dorfes befand, durchgetanzt hatte. Geschlafen, beziehungsweise gewartet, bis sie wieder halbwegs nüchtern und imstande gewesen war, sich auf den Heimweg zu begeben, hatte sie bei ihrer Cousine, die nur einen knappen Kilometer von dem Club entfernt wohnte. Praktisch, wenn man Single war und keine anderen Interessen hatte, außer sich zu besaufen und sich auf der Tanzfläche einen attraktiven – oder auch weniger attraktiven, was machte das schon, wenn man sternhagelvoll war - Mann zu suchen und mit diesem im Besten Falle schnell nach Hause ins heimische Bett steigen zu können. Als Faye gegen neun Uhr zuhause angelangt war, kümmerten sie die Schuhe keinesfalls mehr. Sie wollte nur noch ins Bett und ihren Rausch ausschlafen können. Nachdem David seine Schuhe ausgezogen hatte, begab er sich in die Küche und öffnete den Tiefkühlschrank. Sofort spürte er die Kälte, die er abgab und seine überhitzte Haut zumindest kurzfristig auf eine angenehme Temperatur herunterkühlte. Er öffnete das Mittlere der fünf Fächer und holte einen Beutel heraus, in welchem sich eine Mischung aus diversen tiefgefrorenen Waldbeeren befand. Das gesamte Fach war bis oben hin gefüllt mit den blauen Plastikbeuteln. Eigentlich war fast der gesamte Tiefkühler gefüllt mit gefrorenen Früchten und Beeren jeder Art. Die Ausnahme stellten ein paar „Ben & Jerry’s Cookie Dough“ Eisbecher in der obersten Schublade dar. Faye hatte sie sich nach Pauls Trennung gekauft, um klischeehaft gegen den Frust und die Trauer anzuessen. Jedoch hatte sie bereits bei dem ersten Becher nach der Hälfte aufgehört, zu essen und somit das Drama beendet. Seitdem standen die übrigen zwei Eisbecher dort unberührt. Auch David wollte sie nicht anrühren, da sie ihm erstens einfach viel zu süß waren, und zweitens wurde sein persönliches Numbing selbst durch diese Masse aus Zucker, Vanilleextrakt, Kakao und Eiern ausgelöst. Zwar würde kein Psychologe der Welt es wirklich als Numbing in der Situation bezeichnen, sondern als Assoziierung mit einem schmerzlichen und bisher unverarbeiteten Ereignis kennzeichnen, aber dieses Wort verfolgte ihn immer und überall. Numbing war der Grund für seine zerrüttete Familie, somit gehörte es auch ein Stück weit zu ihm.

David drückte die Packung mit den Beeren auf sein linkes Auge, welches vor wenigen Minuten der betrunkene und gefrustete Cal Hillton versucht hatte, zu malträtieren. Inzwischen war es etwas angeschwollen und färbte sich bereits unter dem Augapfel leicht bläulich. Mit Schwung warf er die Tür zu.

„So eine Scheiße!“, brüllte er sich selbst an und stützte sich mit den Ellenbogen auf der Küchenablage auf. Der gesamte Tag war ein einziges Desaster, und mittlerweile war er noch gereizter als heute Nachmittag, als seine vom Feiern übermüdete Mutter ihn aufgefordert hatte, sich für sein Verhalten und seine berechtigten Kommentare zu entschuldigen.

„Schatz, was ist los?“, fragte seine Mutter, die um die Ecke kam und immer noch dasselbe Outfit wie vor einigen Stunden trug.

„Wonach sieht es denn aus?“, entgegnete er genervt und starrte die blassgelbe Küchenwand vor sich an.

„Was meinst du?“ Verbittert erhob er sich aus seiner gebeugten Position und offenbarte seiner Mutter sein wachsendes Veilchen am linken Auge.

„David, was ist passiert?“, fragte sie erschrocken, „Bist du dem Abhängigen über den Weg gelaufen? Hat er dir das angetan?“

„Verdammte Scheiße, Nein! Lass doch endlich Trae aus deinen Fantasien raus, Mom!“, brüllte er ihr wütend entgegen und stützte sich wieder mit den Ellenbogen auf der Ablage auf. Seine Mutter war zwar verärgert über seinen Ausbruch, brachte dem jedoch nichts entgegen, da sie selbst wusste, dass es ungerecht war, direkt auf Trae zu schließen. Schließlich macht der Drogenkonsum einen Menschen nicht automatisch zum Schläger oder zu einem schlechten Menschen.

„Mr. Hillton hat mich geschlagen. Er war betrunken und dachte, ich hätte Zoe verletzt und sie absichtlich mit einer Glasscherbe geschnitten. Er hält mich für irgend so einen Pädophilen, glaube ich, der seine Tochter anfasst und irgendwelche kranken Fetische an ihr ausüben würde“, erklärte er seiner Mutter mit gedrosselter Lautstärke. Wie erwartet reagierte seine Mutter nicht. Alles, was sie tat, war ihm sanft den Arm um die Schulter zu legen. Keine tröstenden Worte oder eine Empörung über sein Verhalten. Einfach nur ihr Arm und seine Schulter. Genau wie früher schon, war sie unfassbar schlecht darin eine Mutter zu sein und sich wie eine zu verhalten. Sie scheute sich nicht einmal davor, ihr Desinteresse offen zu zeigen. Der einzige Versuch, einen Hauch an Interesse vorzutäuschen, bestand darin, dass sie sich überhaupt dazu herabließ, ihn zu fragen, was passiert sei.

„Wie ist es ausgegangen?“, erkundigte sie sich, wobei die Frage nach dem Ausgang der Situation aus ihrem Munde so klang, als würde sie nach den Ergebnissen vom Sport fragen, und nicht nach der körperlichen Auseinandersetzung ihres Sohnes mit dem betrunkenen Mr. Hillton.

„Ich habe versucht, mich zu wehren“, erzählte er.

„Ich habe ihm einen Kinnhaken verpasst. Er fiel hin und musste sich übergeben. Ich habe ihm scheinbar einen Zahn ausgeschlagen, jedenfalls hat er ein Stück davon ausgespuckt.“

Enttäuscht von sich selbst senkte er den Blick. Sein Vater hatte ihm früher beigebracht, dass, wenn jemand ihm auf die Wange schlägt, er auch die andere hinhalten solle. Er hatte gesagt, dass das eine von Jesus‘ Lehren aus der Bibel sei und er sich daran halten müsse und keinem Schaden zufügen dürfte, schließlich sei er ein guter Christ, was er in Wirklichkeit ganz und gar nicht war. Was er ihm jedoch nicht erzählt hatte, war, dass Jesus, wenn ein übergewichtiger, wütender Ex-Security auf ihn einschlagen würde, er sich diese Worte wahrscheinlich noch einmal gut überlegt hätte.

„Ich bin stolz auf dich“, sagte seine Mutter, womit sie erneut ihre Unfähigkeit bestätigte. Kein vernünftiges Elternteil würde seinem Sohn sagen, dass es stolz auf ihn wäre, wenn er einen Mann, der ihn geschlagen hatte, zurückgeschlagen hätte. Ein verständnisvolles „es war nicht deine Schuld, du hast dich schließlich nur gewehrt“ wäre die deutlich neutralere und pädagogisch wertvollere Aussage gewesen.

„Als ob du wüsstest, was es heißt, stolz auf mich zu sein“, entgegnete er ihr schlagkräftig und entzog sich ihrer Umarmung.

„Was soll das schon wieder heißen?“, fragte Faye aufgebracht.

„Sag mal, ist eigentlich alles, was ich sage, so ein großes Rätsel für dich?“

Seine Mutter reagierte nicht.

„Du hast doch keine Ahnung was es heißt stolz zu sein! Was du als Stolz bezeichnest, ist einfach nur deine Ignoranz und deine elende Vorstellung, alles zu wissen und jedem etwas vormachen zu können!“ Während er seine Schimpftirade hielt, entfernte er sich immer weiter von ihr, wobei er ihr jedoch weiterhin in die Augen sah. Er wollte, dass sie sah, wie ernst es ihm war. Ansonsten würde sie wieder mithilfe ihrer Klatschblattweisheiten schlussfolgern, dass er, wenn er sich von ihr abwendete, einfach zeigte, dass er verletzt wäre. Dies müsste dann nicht einmal auf sie zurückzuführen sein, hatte sie gelesen. Jedenfalls redete sie sich das ein, denn in Wahrheit hatte sie noch nirgendwo gelesen, dass der Angesprochene somit von jeder Schuld ausgenommen werden konnte.

„Toll, dass du dem Nachbarsjungen den Ball gestohlen hast, weil er ihn ausversehen auf unser Grundstück geschossen hat. Gut gemacht, ich bin stolz auf dich! Ja, wie wunderbar, dass du zugesehen hast, wie ein Kind, das neu an der High School war, von vier Jungen, die drei Jahre jünger als du sind, verprügelt wurde und nichts getan hast! Das hast du erstklassig gemacht! Super, dass du Mr. Hillton einen Zahn ausgeschlagen hast, weil man ja Schläge mit Schlägen vergelten soll! Noch besser wäre es gewesen, wenn er jetzt im Krankenhaus liegen würde, denn dann könnte ich noch viel stolzer auf dich sein!“, imitierte er lauthals seine Mutter. Doch dann geschah etwas, was er seit der Scheidung seiner Eltern nicht mehr gesehen hatte. Sie begann zu weinen. Nicht schluchzend oder irgendwie hörbar, aber man konnte beobachten wie einzelne, glänzende Tränen ihre Wangen hinunterkullerten. Jetzt drehte David sich doch von seiner Mutter weg und wagte es nicht, ihr in die Augen zu sehen. Er hatte Sorge ein schlechtes Gewissen zu bekommen, nur, weil er das ausgesprochen hatte, was er schon längst hätte aussprechen sollen. Der Knoten war gewissermaßen geplatzt. Nach mehreren Jahren vergeblicher Liebesmüh, seiner Mom auf irgendeine Weise beizubringen, dass sie als Mutter ein einziger Katastrophenfall war, hatte er es nun nach diesem mehr als entnervenden Tag vollbracht, es ihr offen ins Gesicht zu schmettern. Aber er durfte jetzt nicht einlenken, denn wenn er das täte, dann würde sie es ganz einfach überspielen und vergessen lassen. Genau jetzt war der Zeitpunkt, reinen Tisch zu machen. Doch wozu noch? In nicht allzu langer Zeit würde er hier verschwinden und sich sein eigenes Leben aufbauen, fernab von alledem was ihn hier nur bedrückte. Er entschied sich, es nicht als Vorwurf oder beleidigend weiterführen zu wollen, sondern ihr es als Rat und Bitte für die Zukunft offenzulegen.

„Du hast mir nie irgendwelche Regeln aufgestellt oder mir gesagt, wenn ich etwas falsch gemacht habe. Du hast mich nie wirklich erzogen. Du hast dich nie für das interessiert, was ich getan habe oder für das, was Bobby getan hat als er noch da war. Du hast dich nie für einen von uns beiden interessiert. Nie habe ich mich mit dir über meine Probleme aussprechen können, nie habe ich etwas Zuneigung oder Aufmerksamkeit von dir verlangt, weil du nie jemanden um dich wolltest, der auch nur eine Sekunde über seine eigenen Probleme sprechen wollte“, erzählte er ihr. David drehte sich erneut zu ihr um, um ihr in die Augen sehen zu können. Der Fluss an Tränen hatte nachgelassen und eine dünne glitzernde Spur auf ihren Wangen nach sich gezogen.

„Mom, was ich dir damit sagen will…“ Faye hob ihre Hand, um ihm zu signalisieren, dass er aufhören solle, weiter zu sprechen. Sie hatte sich genug Schwachsinn - welcher eigentlich keiner war - vorwerfen lassen müssen. Für sie war die Grenze nun lange überschritten. Ihre Entscheidung war gefallen. Nichts und niemand hätte sie nun noch umstimmen können.

„Das, was du sagst, verletzt mich sehr“, sprach sie mit gemäßigtem Ton und biss sich auf die Unterlippe.

„Du hast Recht. Das hier kann so nicht weitergehen.“

„Was meinst du damit?“ Jetzt war David derjenige, der nicht verstand, was vor sich ging.

„Wir brauchen eine Pause voneinander, um zu sehen, ob wir beide noch gemeinsam unter diesem Dach hier wohnen werden. Deswegen denke ich, brauchen wir etwas Abstand voneinander.“ Der Schock zeichnete sich deutlich in Davids Gesicht ab. Der Beutel mit den Tiefkühlbeeren entfernte sich langsam von seinem Auge und sank auf die Höhe seiner Hüfte herab. Er hatte mit vielem gerechnet. Aber mit Abstand? Ob sie noch gemeinsam wohnen werden? Er war erst 17 und noch gar nicht in der Lage, sich allein finanzieren zu können. Geschweige denn eine Wohnung oder einen einzigen Wocheneinkauf. Wie stellte sie sich das vor? Sollte er in seinem Auto leben? Oder bei Trae? Oder gar bei Zoe und ihrem Möchtegern Captain America von Vater? Das konnte einfach nicht ihr Ernst sein. Sie stritten zwar und waren kaum einer Meinung, doch würde sie ihn einfach so verstoßen?

 

„Du willst mich loswerden, stimmts?“

Die Wut stieg in ihm hoch. Nach all den Jahren, die sie es miteinander ausgehalten hatten, wollte sie ihn ausgerechnet dann loswerden, als er grade versuchte, etwas zu ihr zurückzufinden.

„Hör auf, David! Stell nicht immer mich als die Böse hin! Das ist auf deinen Mist gewachsen, und du hast es selbst zu verantworten! Akzeptier deine Fehler!“

„Ich soll meine Fehler akzeptieren? Und wieso tust du es dann nicht und gibst einfach zu, dass du versagt hast? Du hast Dad verscheucht! Bobby ist wegen dir abgehauen, und du hast noch nicht einmal versucht, ihn zu finden! Und jetzt brauchst du nur noch mich loswerden, und dann hast du es geschafft. Wenn ich weg bin, hast du dein Triple an verjagten Männern komplettiert. Dann kannst du für den Rest deines Lebens auf dem Sofa liegen und einen nach dem Nächsten zusehen, wie er angekrochen kommt, um sich dann doch abservieren zu lassen. Wieder und wieder.“

Sein Ausdruck von Schock war aus seinem Gesicht gewichen und hatte seinem Zorn die gesamte Kontrolle übergeben. Wie angewurzelt stand Faye einfach nur da, unfähig etwas auf Davids Wörterschwall zu erwidern.

„So denkst du über mich?“, quetschte sie mit aller Mühe doch noch aus ihrem scheinbar zugeschweißten Mund heraus. Diesmal würdigte David ihrer Frage keine Antwort. Langsam kam er auf sie zu.

„Was hast du vor? Wie sieht deine tolle Pause aus?“, fragte er mit sarkastischem Unterton. Faye atmete tief durch. Ein langer Atemzug, dann drehte sie sich um und verließ die Küche.

„Pff“, schnaubte David verächtlich und drückte sich die Tüte erneut auf sein angeschwollenes Auge. Doch anstatt, dass sie vor der Antwort flüchtete, kam sie wenige Sekunden später mit einem Zettel in der Hand zurück.

„Lauriea Summer School“, sagte sie emotionslos und legte ihm den Zettel auf den Ebenholztisch hinter ihm.

„Das ist unsere Pause. Du wirst die Ferien dort verbringen.“

Ein Lächeln bildete sich auf Davids Lippen.

Eine Sommerschule? Wie kreativ, um jemanden loszuwerden, um in Ruhe miese Immobilienmakler zu sich ins Haus zu locken, wie die Hexe in Hänsel und Gretel.

Nur mit der Ausnahme, dass sie in diesem Fall das Lebkuchenhaus darstellte und die Hexe ihren schlechten und unausstehlichen Charakter. Erst lockte sie die Männer mit ihrer Verführungskunst an, um sie dann von ihrer inneren Hexe alles für sie tun zu lassen, damit sie noch etwas länger von dem süßen Pfefferkuchenhäuschen naschen konnten. Denn genau das war sie. Eine süße Versuchung, die sich jedoch im Laufe der Zeit als tödliche Herausforderung offenbaren würde. Überrascht von dem bestimmten und offensichtlich geplanten Handeln seiner Mutter, drehte er sich herum und sah sich schmunzelnd den Schrieb an, den seine Mutter scheinbar schon länger in der Hinterhand hatte, falls es ihr einmal zu viel mit ihm werden würde. Sowohl am Briefkopf, auf dem als Datum der 23.05.2018 prangte, als auch an den unteren Ecken waren deutliche Falten zu erkennen, und in der Mitte zog sich ein Knick quer durch das Blatt. Es war bereits öfter zusammengefaltet und wieder auseinandergebreitet worden. Vermutlich in allen Situationen, in denen sie überlegt hatte, ob sie ihn dort hinschicken sollte oder nicht. Dutzende Male hatte sie den Brief überflogen und sich dann doch entschieden, es nicht zu tun. Doch der heutige Tag hatte das ohnehin schon randvolle Fass noch voller gemacht, als es eigentlich überhaupt sein könnte. Mit einem Male schien alles anders und all ihre Bedenken verschwunden zu sein. Trotz dessen schaffte sie es nicht, ruhig zu bleiben, während ihr Sohn das zerknitterte Blatt Papier in den Händen hielt und sich einen Überblick über dessen Inhalt verschaffte. Nervös fuhr sie sich durchs Haar und kratzte sich immer wieder im Nacken. Seltsam wenn man bedenkt, dass sie kein einziges Mal einen ihrer nervösen Tics hatte, als Paul überraschenderweise seine Koffer gepackt hatte. Scheinbar hatte sie das nicht so mitgenommen, wie es die aktuelle Situation grade tat.

„Reggieland?“, las er laut vor und sah seine Mutter fragend an.

„Das ist ein Dorf. Etwa drei Autostunden von hier entfernt“, erklärte sie ihm und kratzte sich nun an der Schläfe. Ohne etwas zu entgegnen wandte er sich wieder dem Brief zu. Er las das Infoblatt zu Ende und legte es wieder auf den Tisch. „Ich fasse das mal zusammen. Du schickst mich trotz meiner guten Noten auf eine Sommerschule mitten im Nirgendwo, wo der Ausgang sowie das Mitführen sämtlicher elektronischer Geräte und jeglicher religiöser Schriftstücke verboten ist“, zitierte er den Brief. Auch, wenn die Situation scheinbar ungünstig für so etwas war, musste er in sich hineinschmunzeln, als er die letzte Bedingung vorlas.

Gepriesen sei das Mobiltelefon, doch weder das eine noch das andere ist hier erlaubt, mein Sohn. Amen.

„Um Abstand generieren zu können, weil du unsere Lage neu bewerten willst?“, fuhr er fort und warf ihr einen verzweifelten Blick zu.

„Ja, das ist das, was ich dir sagen will“, bestätigte ihn seine Mutter. Ihr kalter Blick und ihr kühler Unterton erwischte ihn wie ein Blitzschlag und ließ ihn die Situation erstmals tatsächlich ernstnehmen.

„Behalt deinen dämlichen Wisch!“

Erzürnt zerknüllte er das Blatt und warf es durch die Küche. So einfach ließe er sich nicht vorführen.

„Wieso stellt du dich quer?“ Jedes Wort, das aus ihrem Mund kam, fühlte sich an wie eine Nadel, die direkt in seinen Gehörgang stach.

„Wieso ich mich…“ Empört schlug er die gefrorenen Beeren so hart auf den Tisch, dass es knallte.

„Warum ich mich quer stelle?!“, brüllte er sie an. „Du willst mich loswerden! Mich von der Bildfläche verschwinden lassen! Das ist es doch, was du willst!“

„Es ist eine Sommerschule. Kein Grund hier wie ein Verrückter zu schreien.“

„Oh ja, natürlich eine gewöhnliche Sommerschule. Eine ganz normale Schule auf die ganz normale Jugendliche gehen. Nur, dass normal in dem Fall verblödet oder wahrscheinlich gewalttätig heißt!“

„Nein, das heißt es nicht, denn das bist du nicht.“

„Weißt du auch warum? Weil ich dort nicht hingehöre! Ich bin keiner von denen! Ich bin kein Schulschwänzer, kein Mobber, kein Schläger und kein verblödeter Typ, der es zu nichts bringen wird im Leben!“ Mit lodernden Augen und brodelnder Wut in seinem Inneren stampfte er aus der Küche.

„Ich werde mich nicht wochenlang mit diesem Haufen von Irren einsperren lassen!“

„Du hast keine andere Wahl“, sagte Faye ruhig, ohne sich zu ihm umzudrehen. Er blieb im halbrunden, türlosen Durchgang zum Wohnzimmer stehen. Wortlos drehte er sich um und ging auf sie zu.

„Ach ja? Warum nicht? Wieso sollte ich freiwillig dort hingehen?“

„Wenn du nicht gehst, dann wirst du deine Sachen packen und dieses Haus verlassen.“ David stellte sich in ihr Sichtfeld. Jetzt war er derjenige, der ihr in die Augen sehen wollte.

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