Die Schule

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6

Sie hatte es gewusst. Er wusste nicht wie, aber sie hatte es von Anfang an gewusst, dass es so kommen würde. Er konnte es in ihrer Stimme hören, als sie ans Telefon gegangen war und fragte, wie es ihm gehen würde. Zoe, dieses kleine wundervolle, schüchterne Mädchen hatte gewusst, dass er gehen würde. Dessen war er sich sicher. Nicht erst als er angerufen hatte. Schon am Vortag, als sie beim ihm zuhause saßen und Pfannkuchen gegessen hatten. Je mehr er darüber nachdachte, desto offensichtlicher schien es ihm. Was hatte sie noch gleich gesagt? Dass sie nicht wolle, dass er gehen würde und er bei ihr bleiben solle? Aber was konnte das schon meinen. Sie war ein kleines Mädchen, das sich einfach, ohne einen triftigen Grund, um ihren besten Freund sorgte. Kleinere Kinder beginnen nun mal schnell, in Panik zu geraten oder Angst zu bekommen, wenn sie aus einer Phase heraus handelten. Das rationale Denken war noch nicht sonderlich ausgeprägt oder ausgereift. Emotionen kontrollieren und beherrschen vermehrt das Denken und haben einen größeren Einfluss auf ihre Psyche als sachliche und reelle Fakten. Ein wenig beunruhigte es ihn jedoch schon, dass sie augenscheinlich bereits gewusst hatte, dass er fortgehen würde. Doch das war nur eine der vielen Sachen, die mehr Fragen aufwarfen, als Antworten lieferten.

Des Weiteren ließ ihm Traes angebliche „Vision“ keine Ruhe. Er hatte von einer Schule inmitten eines Waldes gesprochen und von einem blutbeflecktem Mann neben ihm. Zwar hatte er mit der Schule im Wald Recht behalten, doch Mr. Brenner hatte kein Blut an seinen Händen oder an irgendeinem anderen Körperteil. Doch was hatte das zu bedeuten? Wahrscheinlich gar nichts. Es war reiner Zufall. Mehr nicht. Was sollte es auch anderes sein? Etwa eine übernatürliche Kraft, die in Trae durch einen seiner Joints eingefahren war und ihm die Zukunft zeigte? Selbstverständlich nicht. Weder gab es übernatürliche Kräfte noch etwas wie Visionen, die Realität werden würden. So etwas existierte schlichtweg nicht. Das wusste er genauso gut wie jeder normal denkende Mensch. Ebenso gut wusste er, dass es schwachsinnig war, seine Gedanken an solche Fragen zu verschwenden. Schließlich ging es bei den Personen um ein kleines emotionsgesteuertes Mädchen und um einen – so hart es nun mal klang – drogensüchtigen und halluzinierenden Teenager im Alter von 18 Jahren.

„Wenn Sie mich fragen, keine sonderlich glaubwürdigen Zeugen, ehrenwerter Richter George“, tönte es durch seine Gedanken.

„Dem stimme ich zu“, entgegnete Richter George, der etwas wie eine kleine Persönlichkeit in seinem Kopf geworden war. Wenn er Zweifel am empirischen Denken hegte, schaltete er sich ein und erklärte seine Beweggründe für ein Zeichen geistiger Verwirrtheit. Er war sozusagen derjenige, der sämtlichen Firlefanz und Aberglauben, der sich nicht beweisen ließ, abschmetterte und für surreal und dämlich erklärte. Die einzige Ausnahme stellte sein Glauben an das Leben nach dem Tod dar. Schließlich musste auch der strenge Richter George kleine Fantasien und Hoffnungen offen lassen, die er nicht sofort für schwachsinnig und Humbug erklärte, denn dies war leider eine Sache, über die selbst er nicht Bescheid wusste. Doch damit war seine Toleranzgrenze bereits erreicht. Besonders viel Spielraum ließ er ihm nicht, was seine Fantasien und Vorstellungen anbelangte.

„In Anbetracht der mangelnden Beweislage und der Unglaubwürdigkeit der Zeugen, wird der Antrag auf reinen Zufall und nichts als Spinnerei stattgegeben“, verkündete George und ließ seinen Holzhammer auf sein Richterpult knallen.

David entspannte sich ein wenig. Er war froh, dass George ihn bei klarem Verstand hielt und nicht seinen Hang zum überflüssigen Nachdenken und sich Sorgen machen befürwortete. Denn was sollte es sonst sein? Schließlich existieren Visionen und andere derartige Hirngespenste nur in der eigenen Fantasie. Real werden sie nur, wenn man anfängt daran zu glauben.

7

Ein Ast knackte unter den Füßen von Mr. Brenner. Der Weg, den sie ins Tal hinuntergingen, war steil und durch das lange Ausbleiben des Regens, staubtrocken.

„Wir haben Glück, dass es dieses Jahr so wenig geregnet hat. Vorletztes Jahr hatten wir das nicht. Da hatten wir so viele Sommergewitter, dass wir überlegen mussten, die Schule vielleicht ausfallen zu lassen. Dieser Weg hier“, er zeigte nach unten auf die trockene Erde, „war ein einziger Pfad aus Schlamm. Wir mussten die Schüler über einen anderen Weg zur Schule begleiten, der nicht so gefährlich und rutschig ist.“

„Es gibt noch einen Weg?“, fragte David überrascht und stützte sich an einem kleineren Baum ab, um nicht abzurutschen.

„Ja, es gibt einen. Wenn man eine Stunde in Richtung des Rapsfeldes um den Wald herumgeht, ist dort ein weiterer Weg. Er ist schmaler und unebener, aber wenn man ihn erreicht hat, dauert es genau so lange, als wenn man den normalen Weg gehen würde. Im Gegensatz zu dem normalen Weg jedoch, erreicht man über den Umweg den Ort, wo die Indianer ihr Dorf hatten.“

Brenner kam unten auf dem Boden des Tales an und sah zu David hinauf. Der war noch mit dem Abstieg am Kämpfen und begann, gefährlich zu schwanken.

„Halt dich an einem der Äste fest, wenn du glaubst das Gleichgewicht zu verlieren.“

Vielen Dank für diesen Tipp. Da wäre ich alleine bestimmt nie drauf gekommen.

Einen Meter noch, dann wäre er am Boden angekommen. Erleichtert ging er den letzten Meter schräg hinunter. Doch dann trat er mit dem Fuß gegen etwas Festes. Er stolperte, fiel hin und rollte den letzten Meter, der ihm gefehlt hätte, hinunter. Eilig hastete Mr. Brenner auf ihn zu. David war auf seiner rechten Schulter gelandet und mit dem Kopf auf dem trockenen Boden aufgeschlagen.

„David, bist du in Ordnung?“, fragte Brenner hektisch. David stützte sich auf seine Hände und hob seinen Oberkörper vom Boden ab. Staub klebte an seinen Unterarmen und an seinem T-Shirt. Ein pulsierender Schmerz machte sich an seiner Schläfe bemerkbar.

„David?“

Sein Blick war verschwommen. Ein dröhnendes Geräusch drang in seine Ohren und ließ ihn kurze Zeit taub werden. Er blinzelte ein paar Mal und schüttelte seinen Kopf. Als er aufschaute, sah er, wie Mr. Brenner vor ihm stand und ihm einen besorgten Blick zuwarf. Er wandte den Blick von dem besorgten Lehrer ab und sah an ihm vorbei. Etwa fünfzig Meter hinter ihm tauchte eine weitere Person aus dem Nichts auf. Seltsamerweise war die Person das Einzige, was seine Augen zu fokussieren schienen. Trotz der warmen Temperaturen, trug sie eine schwarze Jeans und ein schwarzen Strickpullover. An seinen Füßen trug sie ein altes Paar weißer Turnschuhe, das bereits kleine Löcher hatte. Die Haarfarbe war eine Mischung aus einem steinernen grau und einem schwachen braun. Sie sahen aus, als wären sie in Steinstaub gebadet worden. Man konnte nur noch ein wenig des eigentlichen Brauntons sehen, der unter der Staubschicht hervorschaute. Auf die Entfernung konnte er die Augen des Mannes nicht sonderlich gut erkennen, jedoch konnte er erkennen, dass sie vermutlich eher eine dunklere Farbe hatten. Seine Augenbrauen waren im Gegensatz zu seinen Haaren, die zu einen klassischen Männer Kurzhaarschnitt frisiert waren, eher bräunlicher als grau. Der Bart – falls er überhaupt einen hatte – hatte denselben Farbton wie seine Haare und war aufgrund seiner Kürze kaum zu erkennen. Die Hände hatte er in die Hosentaschen gesteckt. Sein rechter Ärmel war hochgekrempelt und offenbarte eine silberne Uhr an seinem Handgelenk. Seine Körpergröße stimmte ungefähr mit Davids überein. Der Mann lehnte an einem der riesigen Bäume und beobachtete David mit einem Blick, der aus einer Mischung aus Gleichgültigkeit und Trauer zusammengesetzt zu sein schien.

„David? Ist alles in Ordnung?“, fragte Mr. Brenner, der jetzt neben ihm hockte, erneut und schaffte es diesmal, zu ihm durchzudringen.

„Ja, ja. Alles in Ordnung“, versichert er ihm. Das Dröhnen aus seinen Ohren verschwand langsam, und seine Sicht klarte wieder auf.

„Zeig mal her“, forderte Brenner ihn auf und drehte Davids Kopf leicht zur Seite, um sich seine Schläfe anzuschauen. Blut trat aus der etwa fingerspitzengroßen Verletzung an seinem Kopf heraus.

„Nicht weiter schlimm“, sagte Mr. Brenner und klopfte ihm auf die Schulter, „Dr. Prince wird sie gleich säubern und dir ein Pflaster geben, damit kein Dreck hineingerät.“

„Danke. Ich hab mich ziemlich blöd angestellt.“

„Du konntest nichts dafür. Du bist über eine Wurzel gestolpert. Nichts wofür du dich in einem Wald schämen müsstest“, beruhigte er ihn lächelnd.

Er half David auf die Beine und klopfte ihm den Staub von den Ärmeln.

„Ich glaube, ich hab selten jemanden hierhergebracht, der es geschafft hat, mehr als einmal Schwierigkeiten zu haben“, erzählte Mr. Brenner.

„Warten Sie es ab. Noch sind wir nicht da. Noch kann ich es auch ein drittes Mal schaffen“, witzelte David und richtete seinen Oberkörper, nachdem er seine Hose abgeklopft hatte, wieder auf. Der mysteriöse Mann mit den graubraunen Haaren und der warmen Kleidung war verschwunden. Verwundert blickte David sich um und suchte nach ihm. Doch er konnte ihn nirgends finden.

„Wer weiß, wer weiß“, grinste Mr. Brenner und nahm den Rollkoffer wieder in die Hand.

„Suchst du etwas?“

„Was? Nein, alles gut, es ist nur…“

Verwirrt sah David erst in den Wald hinter seinen Lehrer und dann seinen Lehrer direkt an.

„Was ist es nur?“

Seine Augen suchten ein letztes Mal die Räume zwischen den Bäumen ab.

 

„Nichts. Es ist nichts. Alles gut.“

„Na, wenn das so ist, sollten wir jetzt endlich ohne weiteren Zwischenfall bei der Schule ankommen“, akzeptierte er seine Aussage.

„Unterschätzen Sie mich nicht, Sir. Ich schaffe es bestimmt, nochmal für einen zu sorgen.“

„Das glaube ich dir aufs Wort, David, aber das musst du mir bitte nicht beweisen“, entgegnete er lachend und übernahm erneut die Vorhut. Unsicher folgte David ihm in den nun dichter werdenden Wald.

„Siehst du die kleine Lichtung dahinten?“, fragte Mr. Brenner und deutete auf ein freies Fleckchen trockener Gräser und Büsche, das von den Bäumen umkreist wurde.

„Ist das der Ort, wo die Franzosen ihr Lager aufgeschlagen hatten?“ „Genau das ist er“, bestätigte er ihn. „Wieso ist ausgerechnet dort eine Lichtung?“ „Gerüchten zufolge soll Canowicakte dafür gesorgt haben, dass das Land der Franzosen nie wieder wachsen wird und in der Sonne vertrocknen soll. Im Gegensatz dazu lässt er aber das Land seines Stammes wachsen und gedeihen. Halte es für Spinnerei, aber der Ort, wo das Indianerdorf war, ist heute der Teil des Waldes, welcher am dichtesten bewachsen ist. Ein weiterer Grund, der für den Geist des alten Häuptlings spricht.“

„Abgelehnt“, brüllte Richter George und ließ seinen Hammer ein weiteres Mal hinunterschnellen.

„Die Schulgebäude liegen etwa einen halben Kilometer weiter in dieser Richtung. Wir haben es gleich geschafft.“

8

Die Hoffnung, dass die Auszeit ihm gut tun würde, verflüchtigte sich schnell, als er das erste der beiden Schulgebäude sah. Der einzige Weg, wie die Schule noch älter hätte aussehen können, wäre, wenn sie sich in einem riesigen Zelt befunden hätte. Scheinbar hatte sich seit ihrer Erbauung nicht sonderlich viel an ihrem Aussehen geändert. Die Wände bestanden aus grauen Ziegeln und sahen so aus, als wären sie tatsächlich vor fünfhundert Jahren aufgeschichtet worden. Das Gebäude teilte sich in einen linken und einen rechten Flügel vom Haupteingang ab. Der linke Flügel, den sie zuerst sahen, als sie die letzten Bäume hinter sich gelassen hatten, hatte exakt dieselbe Länge wie der rechte Flügel auf der anderen Seite. Beide waren jeweils in etwa so lang wie zwei Schulbusse. Der linke Flügel endete abrupt mit einer einfachen kahlen Wand aus Ziegelsteinen, an welcher sich drei einzelne Fenster knapp unter dem Dach befanden. Durch Fenster, welche sich an derselben Seite befanden wie die Eingangstür, konnte man die einzelnen Räume von außen jedoch nur leicht erahnen. Der Mittelteil des Gebäudes, welcher den Haupteingang darstellte, ragte höher als die beiden Flügel und erhob sich, wie der Turm einer Kirche, aus dem Gemäuer. Eine große Uhr war in der Frontseite des breiten Turmes eingebaut worden und zeigte kurz nach halb zwei an. Das gesamte Gebäude lag auf einer leicht erhöhten Fläche. Eine breite steinerne Treppe mit sechs Stufen führte zur großen hölzernen Doppeltür empor.

„Da sind wir“, verkündete Mr. Brenner fröhlich.

„Willkommen an der Lauriea Summer School, würde ich sagen“, ergänzte er.

„Okay, jetzt glaube ich Ihnen die Geschichte, dass sie im 17.Jahrhundert gebaut wurde“, murmelte David recht wenig begeistert.

„Ich weiß, sie macht nicht viel her, aber im Gegensatz zu den Neubauten, halten die alten Ziegel die Wärme im Sommer ganz gut draußen, und es bleibt meist erfrischend kühl in den Räumen.“

Davids Miene besserte sich, trotz der Aussicht auf kühle Unterrichtsräume, nicht.

„Keine Sorge, ihr werdet nicht dort drinnen wohnen müssen. Das Wohngebäude ist dort hinten“, beschwichtigte Mr. Brenner ihn und zeigte auf das andere Gebäude, welches 30 Meter schräg hinter dem alten Schulgebäude stand. Anders als das Gebäude mit den Unterrichtsräumen, wirkte der Bau, in dem sie wohnen und schlafen sollten, ziemlich neu und nicht wie aus einem vorherigen Jahrhundert. Ein massiver, rechteckiger, modern aussehender Kasten, dachte David, so ließ es sich treffendsten ausdrücken. Die Fassaden des Bauwerks waren grün, orange und cremefarben gestrichen. Zahlreiche Fenster, die scheinbar zu den Schlafräumen gehörten, waren an jeder Seite der Außenwände zu sehen. Zudem befanden sich, an jeder der vier Wände, jeweils zwei kleine Balkone, die zu den mittleren Zimmern in der obersten Etage gehörten. Die Balkone wurden von weißen hüfthohen Schmiedeeisenzäunen umgeben, welche an den Ecken des Balkons eine etwas erhöhte weiße Eisenstange mit einer Kugel darauf besaßen. Die Fenster der Schlafzimmer waren sichtlich keine hundert Jahre alt, besaßen jedoch eine alt wirkende Sprossenfensteroptik.

„Es wurde erst vor vierzig Jahren gebaut und ist deswegen noch relativ neu. Kein Vergleich zu dem alten Gebäude, in dem ihr Unterricht haben werdet“, erklärte Mr. Brenner.

„Wenn Sie das sagen“, entgegnete David missmutig.

„In dem Gebäude werdet ihr wohnen, essen, schlafen und eure Freizeit verbringen können, aber das wird dir Mr. Cross wahrscheinlich gleich alles erzählen.“

„Wieso nicht Sie?“, fragte David enttäuscht, dass Mr. Brenner zu gehen schien.

„Ich hab leider keine Zeit, David, ich muss die nächsten Kinder abholen. Außerdem kommt er da schon.“

Mr. Brenner stellte den Koffer neben David ab und nickte in Richtung des kleinen Mannes, welcher auf sie zugelaufen kam.

„Guten Tag, Herr Kollege“, begrüßte ihn Mr. Cross leicht schnaufend. Schweißperlen liefen von seiner Halbglatze auf seine Stirn hinunter. Leicht aus der Puste kam er neben den beiden zum Stehen. Seine Statur war quasi das Gegenteil des hochgewachsenen, athletischen Mr. Brenner.

„Ihnen auch einen guten Tag, James“, begrüßte er den kleineren schwitzenden Mann im kurzärmligen weißen Hemd. Sein Kopf hatte eine runde Form und thronte auf einem von der Sonne gerötetem Hals. Seine Nase war etwas breiter und länger als gewöhnlich und hatte gewisse Ähnlichkeit mit einer überdimensionalen Stupsnase. Unter seinen Augen waren deutliche Krähenfüße zu erkennen, und seine Wangenknochen waren ein Paradebeispiel für das Wort „markant“. David schätzte ihn auf etwa 50 bis Mitte 50. Jünger konnte er beim besten Willen nicht sein. Und falls doch, gehörte er definitiv zu der Sorte Männer, die schnell alterten. Das Einzige, was halbwegs dafür sprechen konnte, dass er sich irrte, war die Haarfarbe von Mr. Cross. Der noch kräftige Braunton seiner Haare verzerrte das Bild, das David von ihm hatte, geringfügig und ließ ihn bei näherer Betrachtung doch eher wie Ende 40, Anfang 50 aussehen. Seine dünnen Beine steckten in einer beigen kurzen Jeanshose, die durch einen braunen Ledergürtel mit silberner Schnalle oben gehalten wurde. Noch verwirrender war jedoch die Wahl seiner Schuhe. Anstatt normale Turnschuhe oder anderes festes Schuhwerk zu tragen, trug er ein Paar hellbrauner Sandalen. Für die Jahreszeit nichts Ungewöhnliches. Für den Ort, an dem sie sich befanden, aber umso mehr.

„Wie ich sehe, haben Sie den ersten Neuankömmling für heute auflesen können“, sagte James Cross und schnappte lächelnd einen Moment nach Luft.

„Das ist Mr. Cross, dein Englischlehrer für die nächsten Wochen. James? Das ist David, einer unserer neuen Schüler“, stellte er die beiden vor, um dem erschöpften Cross eine Verschnaufpause zu gewähren.

„Freut mich sehr“, sagte er, wobei er versuchte sein Keuchen möglichst zu unterdrücken.

„Mich ebenso, Sir“, antwortete David freundlich und streckte ihm die Hand aus.

„Sieh einer an“, wandte er sich Brenner zu und schüttelte David lächelnd die Hand, „Der junge Mann hat Manieren, die ich hier seit mindestens 14 Jahren nicht mehr gesehen habe.“

„Dafür ist sein Drang, frech zu werden, nicht zu übersehen“, erwiderte Brenner mit gespielter Empörung und musste selbst grinsen.

„Ach Blödsinn, Ralph, das hat doch überhaupt nichts miteinander zu tun.“

„Nun ja, Sie werden schon noch sehen, James. Entschuldigt mich, aber ich glaube, dass ich niemanden zu lange vor Mr. Clarkes Haus warten lassen sollte.“

„Besser wäre das“, pflichtete Cross ihm bei.

„Bis später dann. Ich freue mich auf unser nächstes Gespräch, David“, verabschiedete Brenner sich und klopfte David auf die Schulter.

„Ich mich auch, Sir“, erwiderte er.

„Bis nachher, Ralph. Wir sehen uns dann doch bestimmt beim Abendessen, nicht wahr?“

„Selbstverständlich. Das lasse ich mir doch nicht entgehen. Also, bis dann“, rief er zurück und verschwand zwischen den Bäumen wieder im Wald.

„Also dann“, fing Cross an und wandte sich David zu. „Legen wir los.“

9

Mr. Cross begann, David an dem Basketballplatz aus Asphalt vorbeizuführen, welcher neben dem Schulgebäude lag. Die Körbe und die Bretter waren aus Metall sowie auch das Netz. Linien, die eine Zone oder gar eine Dreierlinie markierten, existierten nicht. Es war nicht mehr und nicht weniger als ein langes Rechteck aus Asphalt, an dessen kürzeren Kanten sich jeweils ein Basketballkorb befand. Die Führung durch das Wohngebäude begann mit dem Besichtigen des Eingangsbereichs. In der recht freundlich erscheinenden Eingangshalle befanden sich Sofas an den Seiten, an denen hölzerne kleine Tische standen. Die Mitte des Bereiches schmückte ein Billardtisch. Der Stoff, der auf der Oberfläche gespannt war, hatte die Farbe eines edlen Karminrots. Die dazugehörigen Queues hingen an einer Halterung an einer der Säulen, die aus dem gefliesten Boden herausragten. Links und rechts vom Eingang ging jeweils eine Tür ab. Geradeaus, am Ende des großen Raumes, befand sich eine Treppe, die nach oben führte und nach einigen Stufen einen Knick nach rechts machte.

Sie bogen nach rechts ab und landeten in einem großen Raum mit Tischen und Stühlen aus hellem Holz. Mr. Cross erklärte David, dass dies der Essensraum sei, sowohl für die Schüler als auch für die Lehrer. Morgens und Mittags würden sie gemeinsam essen, aber abends würde es ihnen freistehen, wann sie essen wollten. Jeder konnte sich frei an Brot und Aufschnitt bedienen. Nachdem er ihn dort herumgeführt hatte, gingen sie durch die Tür, die sich auf der linken Seite des Eingangsbereiches befand. Hinter dieser Tür verbarg sich das „Reich“ von Dr. Prince oder anders ausgedrückt: der Sanitätsraum. Dr. Prince war eine mittelalte, etwa 1,75m große Frau. Ihr langes, braunes Haar hing ihr über den Schultern und rahmte ihr beinahe faltenloses Gesicht ein. Als sie David die Hand gab, fiel ihm auf, dass ihr linker Arm von Brandnarben übersät war. Vom Handgelenk, bis kurz über der Höhe ihres Ellenbogens, erstreckten sich sowohl kleinere als auch größere vernarbte Verletzungen, die zum Teil ihre Haut um einen halben Zentimeter einsinken ließen.

Der kleine, fensterlose Raum, welchen sie als ihre Praxis bezeichnete, bestand lediglich aus zwei kleinen Wandschränken mit Glastüren, einer Liege zum Behandeln und einem Waschbecken, neben dem sich eine weiße Holzkommode befand. Wie Mr. Brenner angekündigt hatte, nahm sich Dr. Prince seiner Verletzung an und gab ihm, nachdem sie die Wunde gesäubert hatte, ein Pflaster und noch etwas Salbe für sein Veilchen, welches er schon beinahe vergessen hatte. Als die beiden sich von ihr verabschiedet hatten und Mr. Cross auch sie nach einem gemeinsamen Abendessen gefragt hatte, führte er David wieder zurück in die Eingangshalle.

„Ich denke, nach dem anstrengendem Weg hierher, wirst du bestimmt erstmal etwas essen wollen, nicht wahr?“, fragte Cross ihn lächelnd. Davids Koffer und sein Rucksack lehnten an dem Billardtisch neben ihm. Er hatte beides erst vor wenigen Minuten dort abgestellt, doch selbst diese kurze Zeit kam ihm wie ein halber Tag vor. Etwas zu essen könnte er gut vertragen, dachte er sich in Anbetracht dessen, dass er noch ein paar Stunden vor sich hatte, in denen ihm sein Zimmer gezeigt werden würde und vermutlich der Rest des Gebäudes und die Unterrichtsräume.

„Wenn es keine Umstände machen würde, Sir“, antwortete David respektvoll.

„Mir sowieso nicht, mein Guter. Mir sowieso nicht“, entgegnete er beruhigend. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war tatsächlich schon seit längerer Zeit kein Schüler mehr mit ihm so manierlich und höflich umgegangen. Freundlich zeigte er an, dass er David den Vortritt gewährte und trat einen Schritt zur Seite. David bedankte sich bei Mr. Cross und ging an ihm in Richtung Essensraum vorbei. Die beiden nahmen sich ein Tablett und begaben sich zur Essensausgabe.

„Ach, hallo James“, begrüßte ihn die Frau hinter dem Tresen. Sie trug ein Haarnetz, eine weiße Schürze und Einweghandschuhe. Sie wirkte, ähnlich wie Mr. Brenner, sehr jugendlich. So, als wäre sie noch nicht sonderlich lange in ihrem Beruf tätig und grade erst aus der Ausbildung gekommen.

 

„Hallo Caren“, antwortete Cross lächelnd, „Darf ich vorstellen? Das ist David. Der erste der neuen Schüler, die heute ankommen. David? Das ist Ms. Daughton, sie ist Pädagogin und außerdem unsere Köchin. Wenn du Probleme mit etwas hast oder du vertraulich mit jemandem reden möchtest, ist sie die Richtige dafür.“

„Hallo Ms. Daughton“, begrüßte David sie.

„Hallo David. Schön dich kennenzulernen. Wenn du etwas auf dem Herzen hast, komm einfach in meine Küche. Ich kann immer jemanden gebrauchen, der mir beim Kochen helfen kann.“

„Dann werden Sie mich vermutlich des Öfteren in Ihrer Küche finden“, erwiderte David.

„Na dann, umso besser. Es gibt hier selten Schüler, die das gerne tun.“

Wer hätte damit wohl rechnen können, dachte er sich im Stillen. Es wunderte ihn kein Stück, dass er zu den Ausnahmen gehörte. Schließlich war er, im Gegensatz zu den anderen, die wahrscheinlich an diese Schule kommen würden, keiner, der ein Empathie- oder Intelligenzproblem hatte. Er war anders. Ein gefühlvoller, intelligenter, fleißiger und zielstrebiger Mensch. Keiner, der an diesen Ort gehörte. Natürlich war er dann etwas Besonderes hier und freundlicher, manierlicher und hilfsbereiter als der Rest der Jugendlichen.

„Also dann, Caren. Was hast du denn heute schönes für uns?“, fragte Cross und versuchte über den Tresen einen Blick auf das Essen erhaschen zu können.

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