Herzenssache

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Was uns zu Menschen macht: Das Brot miteinander teilen

Der Übergang von den höheren Primaten zu uns Menschen ist geheimnisvoll und evolutionsgeschichtlich schwer zu rekonstruieren. Doch es gibt Hinweise darauf, dass sich vor sieben Millionen Jahren ausgehend von einem gemeinsamen Vorfahren langsam und schrittweise die Trennung zwischen höheren Affenarten und den Hominiden vollzogen hat.

Ethnobiologen und Archäologen weisen uns auf ein einzigartiges Faktum hin. Wenn unsere Vorfahren, die Anthropoiden, auszogen, um Früchte und Samen zu sammeln oder zu jagen und zu fischen, aßen sie nicht jeder für sich. Sie nahmen die Nahrungsmittel und brachten sie zur Gruppe, der sie angehörten. Und dort praktizierten sie Tischgemeinschaft, das heißt: Sie teilten die Lebensmittel miteinander und aßen sie in Gemeinschaft. Diese Tischgemeinschaft ermöglichte den Sprung vom Dasein als Tier in Richtung Menschsein. Dieser kleine Schritt macht schließlich einen entscheidenden Unterschied aus.

Was uns damals zu Menschen machte, das macht uns auch noch heute zu Menschen. Und wenn diese Tischgemeinschaft nicht vorhanden ist, dann werden wir inhuman, grausam und erbarmungslos. Ist dies nicht – Gott sei’s geklagt – genau die Situation der heutigen Menschheit? Auf der einen Seite gibt es wenige, die praktisch unbegrenzten Zugang zu jeglicher Art von Nahrung haben, und auf der anderen Seite fast eine Milliarde Menschen, die hungern.

Ein produktives Element der Menschheit, das eng mit der Tischgemeinschaft verknüpft ist, ist die Kochkunst, das heißt die Zubereitung der Nahrungsmittel. Dies beschrieb sehr schön der berühmte Anthropologe Claude Lévi-Strauss, der auch lange Zeit in Brasilien gearbeitet hat. In seinem Buch Das Rohe und das Gekochte zeigt er, dass das Kochen eine wahrhaft universale menschliche Aktivität ist. So wie es keine Gesellschaft ohne Sprache gibt, so gibt es auch keine Gesellschaft, die nicht wenigstens einige ihrer Nahrungsmittel kocht. Die Küche „bezeichnet nicht nur den Übergang von der Natur zur Kultur: Mittels ihrer und durch sie hindurch definiert sich das menschliche Dasein mit all seinen Eigenschaften, sogar solchen, die – wie die Sterblichkeit – am unbestreitbarsten natürlich scheinen könnten“ (Lévi-Strauss 1971, 217).

Vor 500.000 Jahren lernte der Mensch, Feuer zu machen und es zu beherrschen. Und er begann, die Speisen zu kochen. Das „Herdfeuer“ unterscheidet den Menschen von anderen hoch entwickelten Säugetieren. Der Übergang vom Rohen zum Gekochten wird als einer der Faktoren des Übergangs vom Tier zum zivilisierten Menschen betrachtet. Mit dem Feuer entstand die für jedes Volk, jede Kultur und jede Region typische Kochkunst.

Es ging dabei niemals nur darum, die Speisen einfach zu kochen, sondern vielmehr darum, ihnen Geschmack zu verleihen. Die verschiedenen „Küchen“ lassen kulturelle Bräuche entstehen, die bei uns oftmals mit bestimmten Festen verbunden sind. Das gilt für den Truthahn zu Weihnachten (in Deutschland eher die Weihnachtsgans), die Schokoladeeier zu Ostern, das Schweinefleisch zu Neujahr, den gebratenen Mais zum Johannisfest usw.

Sich ernähren ist niemals nur ein individueller biologischer Mechanismus. Miteinander essen heißt mit denen kommunizieren, die mit uns essen. Es heißt, mit den kosmischen Kräften in Kontakt treten, die Voraussetzung für die Nahrungsmittel sind, insbesondere mit der Fruchtbarkeit der Erde, mit der Sonne, den Wäldern, dem Wasser und dem Wind.

Aufgrund dieses numinosen Charakters, der dem Essen, dem Verzehren und dem Kommunizieren eignet, ist jede Art von Tischgemeinschaft in gewisser Weise sakramental. Wir geben den Speisen ein ansprechendes Aussehen, denn wir essen nicht nur mit dem Mund, sondern auch mit den Augen.

Die Essenszeit gehört zu den ersehntesten Momenten des Tages. Instinktiv wissen wir darum, dass es ohne Essen kein Leben und Überleben und damit keine Freude am Leben und am Zusammenleben gäbe. Aus dem Sammeln von Früchten in der Natur entwickelte sich der Ackerbau, der die Kultivierung von Samen und Pflanzen zur Voraussetzung hat. Damit einher ging die Domestizierung des Viehs, angefangen mit Geflügel und Ziegen.

Vor etwa zehn- bis zwölftausend Jahren fand die vielleicht größte Revolution innerhalb der Menschheitsgeschichte statt. Die Menschen, die bis dahin Nomaden gewesen waren, wurden sesshaft. Sie gründeten die ersten Siedlungen (12.000 v. Chr.), erfanden den Ackerbau (9000 v. Chr.) und begannen mit der Viehzucht (8500 v. Chr.). Es bildete sich ein höchst komplexer zivilisatorischer Prozess heraus, im Verlauf dessen mehrere radikale Umwälzungen aufeinander folgten: die industrielle Revolution, das Nuklearzeitalter, die Kybernetik, die Nanotechnologie, das Informationszeitalter usw. bis in die jüngste Gegenwart.

Zunächst züchtete man wilde Pflanzen und Getreidesorten. Eine entscheidende Rolle spielten dabei vielleicht die Frauen, die die Rhythmen der Natur aufmerksamer beachten. Alles scheint im Mittleren Osten, im Gebiet zwischen den beiden Flüssen Euphrat und Tigris, und im Industal seinen Anfang genommen zu haben. Dort wurden Weizen, Gerste, Linsen, Bohnen und Erbsen gezüchtet. In Lateinamerika waren es der Mais, die Avocados, die Tomaten, Maniok und die Bohnen, im Osten baute man Reis und Hirse an. In Afrika kannte man den Mais und Sorghum.

Später, etwa um 8500 v. Chr., begann man, bestimmte Tiere zu halten, zunächst Ziegen und Schafe, dann Rinder und Schweine. Dies alles wurde durch die Erfindung des Rades, der Hacke, des Pflugs und anderer Metallwerkzeuge um 4000 v. Chr. erleichtert.

Diese wenigen Daten können heute von Archäologen und Ethnobiologen rekonstruiert werden, die sich dabei der modernsten Techniken wie etwa der C-14-Methode, dem Elektronenmikroskop und der chemischen Analyse von Rückständen, der Asche, von Pollen, Knochen und verkohltem Holz bedienen. Die Ergebnisse vermitteln einen Eindruck davon, wie die lokale Ökologie aussah und wie die Menschenpopulationen die Wirtschaft handhabten.

Sobald die Menschen Weizen oder Reis anbauten und ernteten, konnten sie Vorräte anlegen, die Ernährung der einzelnen Gruppen sicherstellen und so das Wachstum der Familie und der Bevölkerung insgesamt ermöglichen. Sie mussten sich ihr Leben im Schweiß ihres Angesichts verdienen. Und sie taten dies mit verbissenem Ehrgeiz. Der Fortschritt des Ackerbaus und der Viehzucht sorgte dafür, dass ein Zehntel der wilden Pflanzen- und Tierarten allmählich verschwand. Man sorgte sich noch nicht um einen verantwortlichen Umgang mit der Umwelt. Und das ist auch angesichts des Reichtums der Gaben der Natur und der Fähigkeit der Regeneration der Ökosysteme nachvollziehbar.

Die Jungsteinzeit löste in jeglicher Hinsicht einen Prozess aus, der bis heute nachwirkt. Die Ernährungssicherheit, das große Festmahl, das die landwirtschaftliche Revolution der gesamten Menschheit bereitstellen könnte und woran alle gleichberechtigt Tischgenossen wären, kann noch nicht stattfinden. Fast eine Milliarde Menschen sitzen unter dem Tisch und warten darauf, dass einige Brosamen herabfallen, damit sie ihren Hunger stillen können.

Der Welternährungsgipfel, der im Jahr 1996 in Rom stattfand und vorschlug, bis zum Jahr 2015 den Hunger auf der Welt auszurotten, stellte fest: „Ernährungssicherheit ist dann gegeben, wenn alle Menschen zu jeder Zeit physisch und ökonomisch Zugang zu ausreichender, gesunder und ausgewogener Nahrung haben, um ihre energetischen Bedürfnisse und ihre geschmacklichen Vorlieben zu befriedigen, sodass sie ein gesundes und aktives Leben führen können.“ Dieser Vorschlag wurde von den Millenniumszielen der UNO übernommen. Bedauerlicherweise teilte die FAO (Welternährungsorganisation der UNO) selbst im Jahr 1998 und die UNO im Jahr 2014 mit, dass diese Ziele nicht erreicht würden, wenn die allzu große Kluft der sozialen Ungleichheit nicht überwunden wird.

Wenn wir diesen Sprung der Solidarität nicht schaffen, dann scheitern wir schließlich an der Vollendung unseres Menschseins. Das ist die große Herausforderung des 21. Jahrhunderts: dass wir im vollen Sinne Mensch werden und jeder das Recht hat, am Tisch Platz zu nehmen und auf anständige Weise seine sichere Nahrung zu erhalten.

Unser Durst nach Unendlichkeit

Das Begehren ist nicht irgendein Impuls. Es ist ein Motor, der das gesamte psychische Leben in Gang setzt. Es ist ein Prinzip, das der Philosoph Ernst Bloch als das Prinzip Hoffnung bezeichnete.

Es liegt in seinem Wesen selbst begründet, dass es keine Grenzen kennt, wie bereits Aristoteles und später Sigmund Freud erkannt haben. Die Psyche begehrt nicht nur dies und jenes. Sie geht aufs Ganze! Sie begehrt nicht die Fülle des Menschseins, nein, sie strebt nach dem Übermenschen, nach dem, was das Menschliche unendlich übersteigt, wie Nitzsche sagt. Das Begehren zeigt sich als ein unendliches und verleiht dem Entwurf des Menschen den Charakter der Unendlichkeit.

Das Begehren lässt das Leben einen dramatischen und zuweilen tragischen Verlauf nehmen. Doch wenn es Erfüllung findet, dann stellt sich auch ein unvergleichliches Glück ein. Wir sind stets auf der Suche nach dem Gegenstand, der unserem unendlichen Begehren angemessen ist. Und wir finden ihn nicht innerhalb unserer Alltagserfahrung. Da stoßen wir nur auf endliche Dinge.

Es führt zu schwerer Enttäuschung, wenn jemand eine endliche Wirklichkeit für das gesuchte Unendliche hält. Das kann die gelebte Person sein, das kann ein Beruf sein, den man sich schon immer gewünscht hat, das kann das Traumhaus sein. Es kommt der Augenblick – und im Allgemeinen kommt er recht bald –, da man eine grundlegende Unzufriedenheit und den Wunsch nach etwas Größerem verspürt.

Wie kommt man aus dieser Sackgasse des unendlichen Begehrens heraus? Soll man denn von einem Gegenstand zu anderen flattern, ohne jemals zur Ruhe zu kommen? Wir müssen uns ernsthaft auf die Suche nach dem Objekt unseres Begehrens begeben.

 

Ich kürze hier einen langen Weg ab, um gleich die Antwort zu geben: Das Sein selbst, und nicht dies und jenes Seiende, das Ganze, und nicht irgendein Teil, das Unendliche, und nicht irgendetwas Endliches ist das wahre „Objekt“ unseres unendlichen Begehrens. Nach einer langen Pilgerschaft wird der Mensch zur Erfahrung des cor inquietum (des unruhigen Herzens) geleitet, wie sie der heilige Augustinus durchmachte. „Spät habe ich dich geliebt, du Schönheit, so alt und doch so neu, spät habe ich dich geliebt!“ (Augustinus 2008, 277); „… und ruhelos ist unser Herz, bis es ruhet in dir“ (Augustinus 2008, 15)

Nur das unendliche Sein entspricht dem unendlichen Begehren des Menschen und lässt ihn zur Ruhe kommen.

Das Begehren ist von mächtigen, vulkanartigen Energien durchdrungen. Wie soll man damit umgehen? Zu allererst geht es darum, dieses Begehren, das zu unserer Daseinsverfassung gehört, anzunehmen, ohne zu moralisieren. Die Leidenschaften drängen den Menschen in alle Richtungen. Einige bringen ihn dazu, großherzig zu werden, andere lassen ihn egozentrisch werden. Diese Energien zu integrieren, ohne sie zu unterdrücken, erfordert Achtsamkeit und nicht selten auch Verzicht.

Die Psyche ist dazu aufgefordert, eine persönliche Synthese zu verwirklichen, nach einem Gleichgewicht aller inneren Energien zu streben. Man soll weder zum Opfer einer Besessenheit von einem bestimmten Impuls, etwa der Sexualität, werden, noch ihn verdrängen, als ob man auf diese Weise dessen Kraft mindern könnte.

Es kommt darauf an, die Sexualität als Ausdruck der Zuneigung, der Liebe und des Sinnes für Schönheit zu integrieren und auf sie sorgsam zu achten, denn wir haben es hier mit einer nicht völlig durch die Vernunft kontrollierbaren Lebensenergie zu tun. Wir können sie aber auf dem symbolischen Weg der Sublimation und durch andere humanistische Bestrebungen beherrschen. Jeder von uns muss es lernen, im Sinne einer Askese, die von Abhängigkeiten befreit und zu innerer Freiheit verhilft – eine der kostbarsten Gaben überhaupt – Verzicht zu üben.

Eine andere Weise, mit dem unendlichen Begehren umzugehen, ist es, Vorsorge zu treffen hinsichtlich dessen, was uns aus der Verwundbarkeit des Menschen selbst erwächst. Wir sind nicht allmächtig, wir sind keine Götter, die von keiner Schwäche befallen werden. Wir können hinsichtlich dessen, was scheinbar unsere Sehnsucht stillt, einer Täuschung unterliegen. Doch wir können uns vor solchen Situationen hüten, die uns zu Fall bringen könnten und die uns unsere Mitte verlieren lassen könnten.

Vielleicht bietet uns Carl Gustav Jung einen Schlüssel und Inspiration, wenn er meint, dass wir im Lauf unseres Lebens einen Individuationsprozess durchmachen. Er ist in einem umfassenden, ganzheitlichen Sinne zu verstehen. Es geht darum, sich unerschrocken und demütig das Bewusste und das – individuelle und kollektive – Unbewusste, die Bilder, die Archetypen, Licht und Schatten anzueignen. Man vernimmt das Brüllen der Raubtiere in uns, aber auch den bezaubernden Gesang des Weisen. Wie kann man eine innere Einheit herstellen, die zu einem Ausgleich der Gegensätze, der miteinander im Widerstreit liegenden Wünsche, zu gelebter Freiheit und Lebensfreude führt?

C.G. Jung meint, dass jeder Einzelne danach streben sollte, ein starkes Zentrum, ein einheitsstiftendes Self, zu schaffen, das dieselbe Rolle spielt wie die Sonne innerhalb des Sonnensystems. Sie übt eine Anziehungskraft auf ihre Umgebung aus und hält alle Planeten in ihrer Umlaufbahn. Etwas Ähnliches muss auch mit der Psyche passieren: Ein persönliches Zentrum muss geschaffen und erhalten werden, das alles mittels Reflexion und Verinnerlichung integriert. Nicht zuletzt hat hier die Kultivierung des Heiligen und der Spiritualität ihren wichtigen Stellenwert.

Die Religion als Institution engt oftmals das spirituelle Leben durch allzu viele Dogmen und allzu strenge Moralvorschriften ein. Doch Religion im Sinne von Spiritualität spielt eine grundlegende Rolle im Prozess der Individuation. Es ist ihre Aufgabe, die Person mit ihrem Zentrum, mit allen Dingen, mit dem Universum, mit der Ursprungsquelle allen Seins zu verbinden und es an dieses rückzubinden (dies ist der wörtliche Sinn von re-ligio) und ihm so das Gefühl der Zugehörigkeit zu verleihen.

Mangelnde Integration der Energie des Begehrens zeigt sich in der Auflösung sozialer Bindungen, in der tödlichen Gewalt an Schulen oder in der Tötung von Schwarzen, Armen oder Homosexuellen.

Mit den Impulsen des Begehrens umzugehen stellt also auch eine Sorge um die Gesundheit der Gesellschaft dar. Es darf von einer humanistischen, ethischen und staatsbürgerlichen Erziehung nicht außer Acht gelassen werden, das Begehren zu formen. Das große Hindernis bildet die Logik des herrschenden Systems selbst, die den Wunsch zu haben forciert und sich nicht mehr um das Sein und die zivilisatorischen Werte, um Liebenswürdigkeit, um einen guten Umgang und Respekt einem jeden Menschen gegenüber schert.

Ganz im Gegenteil: Die Medien fördern das individuelle Begehren und die Gewalt als Lösung menschlicher Konflikte. Die Globalisierung als ein Phänomen der Menschheit und eine neue Phase der Erdgeschichte sollten uns dazu verpflichten, die persönlichen Wünsche zugunsten der kollektiven Wünsche zu mäßigen und auf diese Weise das menschliche Zusammenleben in unterschiedlichen Kulturen und Traditionen stärker ins Gleichgewicht zu bringen und freundschaftlicher zu gestalten.

„Konvivialität“ und die Zukunft der Menschheit

Der Begriff „Konvivialität“ wurde von Ivan Illich (1926–2002) geprägt und verbreitet (vgl. Illich 2014). Er war einer der großen prophetischen Denker des 20. Jahrhunderts. Der geborene Wiener arbeitete mit Latinos in den USA und später in der brasilianischen Stadt Petrópolis und in Mexiko. Er wurde berühmt, als er das herrschende Paradigma der herkömmlichen Schulmedizin infrage stellte. Mithilfe des Begriffs der Konvivialität wollte er zwei Krisen bewältigen helfen: die des Industrialisierungsprozesses und die ökologische Krise.

Der Industrialisierungsprozess bewirkt, dass sich die Herrschaft des Menschen über das Werkzeug umkehrt zur Herrschaft des Werkzeugs über den Menschen. Die technischen Werkzeuge wurden geschaffen, um den Sklaven zu ersetzen, haben aber schließlich den der Massenproduktion und dem Massenkonsum unterworfenen Menschen versklavt.

Die industrielle Produktion ließ eine Gesellschaft voller Apparate, aber ohne Seele entstehen. Die herrschende industrielle Revolution geht keine Verbindung mit der Fantasie und Kreativität der Arbeiter ein. Sie „liebt“ sie nicht. Sie will sie lediglich als – körperliche oder geistige – Arbeitskraft benutzen. Wenn sie die Kreativität anspornt, dann lediglich, um die Qualität des Produktes als ganzes zu steigern und dem Unternehmen noch mehr Profit zu verschaffen.

Viele Unternehmer jedoch wurden sich dieser Verzerrung bewusst und erkannten das Maß an Unmenschlichkeit der Industriegesellschaft. Sie nahmen ihre Verantwortung für die Gesellschaft und die Umwelt, die Bedeutung der Subjektivität und die Pflege von nichtmateriellen Werten (Solidarität, Respekt, Freundschaft) in ihre Unternehmensplanung auf. Die kooperativen Beziehungen zwischen allen Beteiligten, Unternehmern und Arbeitern gleichermaßen, erlangten allmählich die Oberhand über die reine Konkurrenz und Kapitalakkumulation.

Was versteht man unter Konvivialität? Das Wort ist in einem normalen Wörterbuch nicht zu finden. Man meint damit die Fähigkeit, die Dimensionen von Produktion und Achtsamkeit, Effektivität und Mitleid, Gestaltung der Produkte und Kreativität, Freiheit und Fantasie, eines vielfachen Gleichgewichts und gesellschaftlicher Komplexität zusammenwirken zu lassen – all dies, um den Sinn der allseitigen Zugehörigkeit zu stärken.

Der technische Wert der materiellen Produktion muss Hand in Hand gehen mit dem ethischen Wert der sozialen und spirituellen Produktion. Nachdem wir die Ökonomie der materiellen Güter geschaffen haben, ist es dringend an der Zeit, die Ökonomie der menschlichen Werte zu entwickeln. Ist etwa das große, unendliche und unerschöpfliche Kapital nicht der Mensch, das spirituelle Kapital, da er doch ein unendlicher Entwurf ist?

Die menschlichen Werte der Liebe, der Empfindsamkeit, der Achtsamkeit, der Tischgemeinschaft und der Ehrfurcht können der Gier der Macht und Herrschaft Grenzen setzen sowie den Kreislauf von Ausbeutung, Produktion und Akkumulation unterbrechen.

Die Konvivialität will auch eine angemessene Antwort auf die ökologische Krise sein, die aus dem Industrialisierungsprozess der letzten vierhundert Jahre hervorgegangen ist. Der Prozess des Raubbaus an den Gütern und Gaben der Natur kann eine dramatische Verwüstung des Systems Erde und aller dieses stützenden organischen Subsysteme, einen echten planetarischen crash, hervorrufen.

Ein solches Szenario ist nicht unwahrscheinlich. Es ist schon in der Vergangenheit eingetreten, und zwar mit dem Börsencrash an der Wallstreet im Jahr 1929. Damals war dies nur eine Teilkrise des kapitalistischen Systems und betraf nicht die physischen Grenzen des Planeten. Nun aber geht es um die Krise des globalen Systems.

Sicherlich bestünde die erste Reaktion des herrschenden Systems im Kontext eines allgemeinen Bruchs darin, die Kontrolle über den Planeten zu verstärken und durch massiven Gewaltgebrauch die Aufrechterhaltung der herrschenden wirtschaftlichen, finanziellen und militärischen Ordnung zu sichern. Ein solches Vorgehen würde die Krise nicht entschärfen, sondern durch das Wachstum von Arbeitslosigkeit und die Unwirksamkeit fiskalischer Anpassung noch vertiefen. Genau das erleben wir mit der Krise in den Ländern des Zentrums, die in allen Nationalökonomien ihren Widerhall findet.

Einige haben die Hypothese einer apokalyptischen Katastrophe aufgestellt. Doch eine solche stellt sich nicht zwangsläufig ein. Es kommt darauf an, die Chance auf einen konvivialen Gebrauch der technischen Hilfsmittel im Dienst der Erhaltung des Lebens, des Wohlbefindens der Menschheit und der Rettung unserer Zivilisation zu wahren.

Diese neue Stufe der Zivilisation wird vielleicht einen düsteren Karfreitag durchmachen, der die Diktatur des Kreislaufs Lebensstil, Arbeit, Produktion und Material in den Abgrund stürzt, um einen Ostersonntag zu ermöglichen: den Wiederaufbau der Weltgesellschaft auf der Basis von Achtsamkeit und echter Nachhaltigkeit.

Der erste Absatz des neuen Sozialpakts zwischen den Völkern wird das heilige Prinzip der Selbstbegrenzung und des rechten Maßes sein. Darauf folgen dann die im Wesen des Menschen verankerte Achtsamkeit allem gegenüber, was existiert und lebt, die Liebenswürdigkeit den Menschen gegenüber und die Ehrfurcht vor der Mutter Erde.

Dann wird der Mensch endlich erlernt haben, die technischen Instrumente als Mittel zu gebrauchen und nicht als Selbstzweck zu etablieren. Er wird es gelernt haben, mit allen Seinsformen zusammenzuleben und sie mit Ehrfurcht und Respekt zu behandeln.

Wäre dies nicht erst der eigentliche Beginn des neuen, so sehr ersehnten Jahrtausends, der noch aussteht?

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