Tasuta

Anna Karenina, 2. Band

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Märgi loetuks
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„Weshalb weinst du denn Mama?“ sagte er, vollständig aus dem Schlafe erwacht. „Mama, weshalb weinst du?“ rief er aus mit weinerlicher Stimme.

„Ich weine nicht; ich weine vor Freude; ich habe dich so lange nicht gesehen. Nein, ich werde nicht, werde nicht weinen,“ sagte sie, ihre Thränen verschluckend und sich abwendend. „Nun, jetzt mußt du dich aber ankleiden,“ fügte sie, sich aufrichtend hinzu, und setzte sich, ohne seine Hände loszulassen, neben seinem Bett auf einen Stuhl, auf welchem sein Anzug bereit lag.

„Wie kleidest du dich ohne mich an? Wie“ – wollte sie natürlich und heiter zu sprechen beginnen, aber sie vermochte es nicht, und wandte sich abermals ab.

„Ich wasche mich nicht in kaltem Wasser. Papa hat es nicht gestattet. Aber Wasiliy Lukitsch, den hast du wohl noch nicht gesehen? Er wird gleich kommen. Du hast dich ja auf mein Kleid gesetzt!“

Sergey lachte auf; sie blickte ihn an und lächelte.

„Mama, mein Herz, meine Taube!“ rief er aus, sich wieder ihr entgegenwerfend und sie umfangend. Es war, als ob er jetzt erst, indem er ihr Lächeln erblickte, klar erkannt hätte, was vorgefallen sei. „Das ist nicht nötig,“ sagte er, ihr den Hut abnehmend, und gleichsam, als ob er sie aufs neue ohne den Hut erkännte, warf er sich abermals ihr entgegen, um sie zu küssen.

„Aber was hast du von mir gedacht? Du hast nicht gemeint, daß ich tot sei?“

„Niemals habe ich es geglaubt.“

„Du hast es nicht geglaubt, mein Herz?“

„Ich habe gewußt, gewußt!“ wiederholte er mit seiner Lieblingsphrase, und begann, nachdem er ihre Hand ergriffen, die mit seinem Haar spielte, sie mit der inneren Fläche an seinen Mund zu pressen und zu küssen.

30

Wasiliy Lukitsch, welcher anfangs nicht begriff, wer diese Dame da war, und erst aus dem Gespräch erkannte, dies sei jene selbe Mutter, welche ihren Gatten verlassen, und die er nicht kannte, da er erst nach ihrem Scheiden dieses Haus betreten hatte, befand sich in Zweifel, ob er eintreten oder Aleksey Aleksandrowitsch Mitteilung machen sollte. Nachdem er aber erwogen hatte, daß seine Verpflichtung nur darin bestehe, bei Sergey zur bestimmten Stunde zu inspizieren, und er demgemäß keine Beobachtungen anzustellen habe, wer dort saß, die Mutter oder jemand anderes, sondern nur seine Pflicht erfüllen müsse, so kleidete er sich an, trat zur Thür und öffnete sie.

Aber die Liebkosungen zwischen Mutter und Kind, der Klang ihrer Stimmen und das, was sie sprachen, ließ ihn doch noch seinen Entschluß ändern. Er schüttelte den Kopf, seufzte und schloß die Thür wieder.

„Ich werde noch zehn Minuten warten,“ sagte er zu sich selbst, hustend und sich Thränen abwischend.

In der Dienerschaft des Hauses war mittlerweile eine mächtige Bewegung entstanden. Alle hatten erfahren, daß die Herrin angekommen sei, und Kapitonitsch sie eingelassen habe, daß sie sich jetzt in der Kinderstube befinde, während sich doch der Herr selbst stets in der neunten Stunde dorthin begebe; und alle erkannten, daß eine Begegnung der beiden Gatten unmöglich war, und verhindert werden müsse.

Korney, der Kammerdiener, begab sich in die Portierloge und frug, wer die Dame eingelassen habe, und wie dies zugegangen sei, und als er gehört hatte, daß Kapitonitsch sie empfangen und hereingeleitet habe, machte er dem Alten Vorwürfe. Dieser hörte mit hartnäckigem Schweigen zu, als ihm aber Korney sagte, daß man ihn deswegen davonjagen müßte, sprang Kapitonitsch auf ihn zu und sagte, mit den Händen vor Korneys Gesicht fuchtelnd:

„Ja, du hättest sie freilich nicht eingelassen! Ich habe zehn Jahre hier gedient und nichts als Liebes gesehen, du aber wärest gekommen und hättest gesagt ‚bitte, gefälligst hinaus!‘ – Du verstehst die Politik fein! So ist es! Du scheinst auf deine Weise schon zu verstehen, wie man einen Herrn für sich einnimmt und den Mantel nach dem Winde hängt!“

„Ein Soldat!“ erwiderte Korney verächtlich, und wandte sich zu der eintretenden Amme: „Urteilt Ihr, Marja Jesimowna: Er hat die Gnädige eingelassen, ohne jemandem etwas davon zu sagen,“ wandte sich Korney zu ihr.

„Aleksey Aleksandrowitsch wird sogleich erscheinen und nach der Kinderstube gehen.“

„Was giebt es da für Auseinandersetzungen,“ sagte diese, „Ihr Korney Wasiljewitsch, habt ihn irgendwo ein wenig zurückzuhalten, den Herrn nämlich, und ich laufe sogleich, um die gnädige Frau irgendwie beiseite zu bringen. Sind das Auseinandersetzungen!“ —

Als die Kinderfrau in die Kinderstube trat, erzählte Sergey der Mutter gerade, wie er mit Nadenka vom Berge herab, beim Eisfahren gefallen sei und daß sich dabei beide dreimal umkugelt hätten. Sie lauschte den Klängen seiner Stimme, sah sein Gesicht und das Spiel seiner Mienen, sie fühlte seine Hand, aber sie verstand nicht, was er sprach.

„Ich muß fort, und ihn verlassen,“ das allein nur dachte und fühlte sie noch. Sie vernahm wohl die Schritte Wasiliy Lukitschs, der zur Thür schritt, und hustete, sie vernahm wohl die Schritte der nahenden Kinderfrau, aber sie saß, wie zu Stein geworden, und nicht bei Kräften zu sprechen oder aufzustehen.

„Gnädige Frau, meine Liebe!“ begann die Amme, sich Anna nähernd, und ihr Hände und Schultern küssend. „Gott hat unserem Geburtstagskinde Freude gebracht. Ihr habt Euch doch gar nicht verändert.“

„Ach, Amme, du Gute, ich habe gar nicht gewußt, daß Ihr noch im Hause seid,“ sagte Anna, für eine Minute zur Besinnung kommend.

„Ich wohne nicht hier, sondern bei meiner Tochter, und bin nur gekommen, um zu gratulieren, Anna Arkadjewna, meine Teure.“

Die Amme brach plötzlich in Thränen aus und küßte von neuem die Hand der Herrin.

Sergey hielt sich, mit glänzenden Augen lächelnd, mit der einen Hand an seiner Mutter, mit der anderen an der Amme an und stampfte mit den wohlgenährten Füßchen auf den Teppich. Die Zärtlichkeit der geliebten Amme gegen seine Mutter versetzte ihn in Entzücken.

„Mama! Sie kommt oft zu mir, und wenn sie kommt“ – wollte er beginnen, hielt aber inne, als er bemerkte, daß seine Amme der Mutter etwas zuflüsterte, und auf deren Gesicht sich Schrecken auspräge, und etwas wie Scham, was der Mutter so gar nicht zu Gesicht stand.

Diese kam zu ihm.

„Mein Liebling,“ sprach sie.

Sie konnte nicht sagen, „lebewohl“, aber der Ausdruck ihres Gesichts sagte es, und er verstand.

„Mein süßer, lieber Kleiner!“ sagte sie zu ihm und nannte ihn mit einem Kosenamen, mit welchem sie ihn als er noch ganz klein gewesen, zu rufen pflegte, „wirst du mich auch nicht vergessen? Du“ – doch weiter vermochte sie nicht zu sprechen.

Soviel Worte sie sich auch später noch ausdachte, die sie ihm hätte sagen können – jetzt wußte und vermochte sie nichts zu sagen. – Sergey aber verstand alles, was sie ihm mitteilen wollte. Er verstand, daß sie unglücklich sei und ihn liebte. Er verstand sogar, was die Amme flüsternd gesprochen hatte. Hörte er doch die Worte: „Stets in der neunten Stunde“; und er begriff, daß damit sein Vater gemeint sei, und die Mutter mit dem Vater nicht zusammentreffen dürfe. Dies verstand er; Eins aber konnte er nicht begreifen: weshalb sich auf ihrem Antlitz Schrecken und Scham gezeigt hatte! Sie war nicht schuldig, und fürchtete ihn doch und empfand Scham über Etwas. Er wollte eine Frage stellen, die ihm diesen Zweifel hätte aufklären können, wagte es aber nicht zu thun. Er sah, daß sie litt, und empfand Mitleid mit ihr. Schweigend schmiegte er sich an sie und sprach flüsternd:

„Geh' noch nicht. Er kommt noch nicht gleich.“

Die Mutter schob ihn von sich, um zu erkennen, ob er auch so denke, wie er gesprochen hatte, und las aus dem erschreckten Ausdruck seines Gesichts, daß er nicht nur von dem Vater gesprochen habe, sondern sie sogar gleichsam frage, wie er wohl über seinen Vater denken solle.

„Sergey, mein Herzblatt,“ sagte sie, „liebe ihn, er ist besser und edler als ich, und ich trage eine Schuld vor ihm. Wenn du einmal groß bist, dann wirst du urteilen können.“

„Bessere Menschen als dich giebt es nicht!“ rief er voll Verzweiflung, durch Thränen hindurch, faßte sie an den Schultern, und begann sie aus allen Kräften an sich zu pressen mit vor Anstrengung bebenden Armen.

„Meine Seele, mein liebes Kind!“ sagte Anna, und begann, hingerissen, so nach Kinderart zu weinen, wie er selber weinte.

Da öffnete sich die Thür und Wasiliy Lukitsch trat ein.

An der anderen Thür wurden Schritte vernehmbar, und entsetzt flüsterte ihr die Amme zu „er kommt“ und reichte Anna den Hut.

Sergey ließ sich auf sein Bett sinken und begann zu schluchzen, das Gesicht mit den Händen bedeckend. Anna nahm diese Hände weg, küßte ihm noch einmal das bethaute Antlitz und ging schnellen Schrittes zur Thür hinaus.

Aleksey Aleksandrowitsch trat ihr in den Weg. Als er sie erblickt hatte, blieb er stehen und beugte den Kopf.

Ungeachtet dessen, daß sie soeben erst gesagt hatte, er sei besser und edler als sie, erfaßten sie bei dem schnellen Blick, den sie auf ihn warf, seine ganze Erscheinung mit allen ihren Einzelheiten umfangend, die Gefühle des Widerwillens gegen ihn; der Wut und des Neides um den Sohn. Mit schneller Bewegung ließ sie den Schleier fallen, und eilte fast, ihren Schritt verdoppelnd, aus dem Zimmer.

Sie war nicht dazu gekommen, die Geschenke herauszunehmen, die sie mit so großer Liebe und so großem Schmerz gestern im Laden gekauft hatte, und brachte sie wieder mit nach Hause.

31

So sehr wie Anna auch ein Wiedersehen mit ihrem Sohne gewünscht hatte, so lange sie auch nur hieran gedacht, sich nur hierauf vorbereitet hatte, so hatte sie doch keineswegs erwartet, daß dieses Wiedersehen eine so mächtige Wirkung auf sie ausüben würde.

Zurückgekehrt in ihre einsamen Appartements im Hotel, konnte sie lange nicht fassen, warum sie eigentlich hier sei.

„Ja; das ist alles vorüber und ich bin wieder allein,“ sagte sie zu sich und setzte sich, ohne den Hut abzulegen, auf einen am Kamin stehenden Sessel. Mit unbeweglichen Augen auf die Bronzeuhr blickend, welche auf dem Tische zwischen den Fenstern stand, begann sie zu sinnen.

 

Die französische Zofe, die mit aus dem Auslande gebracht worden war, trat ein, um sie anzukleiden. Verwundert blickte sie dieselbe an und sagte nur „später“. Der Lakai brachte den Kaffee; sie sagte nur „später“. Die italienische Amme, die das kleine Mädchen geputzt hatte, trat mit demselben ein und brachte es Anna. Das dicke, wohlgenährte Kind hob, wie stets, wenn es die Mutter sah, die nackten mit Bändern umspannten Händchen, die Handflächen nach unten, und begann, mit dem noch zahnlosen Mündchen lächelnd, wie ein Fisch an der Angel mit den Händchen zu arbeiten, und mit ihnen an den gesteiften Falten des gestickten Jäckchens zu scheuern.

Man mußte unwillkürlich lächeln und das Kindchen küssen, man mußte ihm einen Finger vorhalten, an dem es anfassen konnte, jauchzend und mit dem ganzen Körper in Bewegung. Man konnte nicht umhin, ihm die Lippe darzubieten, die es anstatt eines Kusses in das Mündchen nahm. Und alles das that Anna, und sie nahm das Kind auf ihre Arme und ließ es hüpfen, und küßte es auf die frische Wange und die entblößten Ärmchen, aber bei dem Anblick dieses Kindes wurde es ihr nur noch klarer, daß das Gefühl, welches sie für dasselbe hegte, nicht einmal Liebe war im Vergleich zu dem, was sie für Sergey fühlte. Alles an diesem kleinen Mädchen war lieblich, aber alles das fand keinen Eingang in ihr Herz. Auf ihrem ersten Kinde – hatte sie es auch gleich von einem ungeliebten Manne – ruhte alle Kraft jener Liebe, die keine Befriedigung gefunden hatte; das Mädchen war unter den schwierigsten Verhältnissen geboren worden, und auf dasselbe war nicht der hundertste Teil der Sorgfalt verwendet worden, wie auf das erste Kind; außerdem war bei diesem Mädchen alles noch Erwartung, Sergey hingegen schon fast wahrhaft Mensch und ein geliebter Mensch; in ihm kämpften bereits Gedanken und Gefühle miteinander. Er begriff und liebte, er beurteilte sie, wie sie meinte, indem sie seiner Worte und Blicke gedachte. Und doch war sie auf immer nicht nur körperlich, sondern auch geistig von ihm getrennt, ließ sich nichts mehr besser gestalten.

Sie gab das kleine Mädchen der Amme zurück, entließ diese, und öffnete ein Medaillon, in welchem ein Porträt Sergeys war, ihn darstellend, als er noch fast das nämliche Alter hatte, wie das kleine Mädchen jetzt. Sie stand auf und nahm, ihren Hut ablegend, von einem kleinen Tische ein Album, in welchem sich Photographieen ihres Sohnes aus anderen Lebensaltern befanden. Sie wollte diese Photographieen vergleichen, und begann sie aus dem Album herauszunehmen; sie nahm sie alle heraus, nur eine einzige, die letzte und beste, war noch übrig. In weißem Hemd saß er darauf auf einem Stuhle, machte böse Augen und lächelte mit dem Munde. Dies war ein ganz eigentümlicher Ausdruck, der ihm am besten stand. Mit den kleinen, flinken Händen, die sich jetzt besonders angespannt mit ihren weißen, schmalen Fingern bewegten, hatte sie mehrmals an die Ecke des Bildes geklopft, aber das Bild war losgerissen und sie konnte es nicht erlangen. Ein Messer befand sich nicht auf dem Tische, und sie nahm daher eine Photographie, welche daneben stand – es war ein in Rom gefertigtes Bild Wronskiys, welches ihn in rundem Hut und langen Haaren darstellte – und stieß damit das Bild ihres Sohnes heraus.

„Das ist ja er!“ sagte sie, auf das Bild Wronskiys blickend, und sich plötzlich vergegenwärtigend, wer die Ursache ihres jetzigen Harmes sei. Sie hatte noch nicht ein einziges Mal während dieses ganzen Morgens an ihn gedacht. Jetzt aber, als sie dieses männliche, edle, ihr so vertraute und liebe Gesicht wieder erblickte, empfand sie plötzlich eine unerwartete Regung der Liebe zu ihm. „Aber wo bleibt er denn? Läßt er mich allein mit meinem Leiden?“ dachte sie mit einem Gefühl des Vorwurfs, und vergaß dabei, daß sie selbst vor ihm doch alles verborgen hielt, was ihren Sohn betraf. Sie sandte zu ihm mit der Bitte, doch sogleich zu ihr zu kommen; mit stockendem Herzen, sich die Worte vergegenwärtigend, mit denen sie ihm alles sagen wollte, und die Worte seiner Liebe, mit welchen er sie trösten würde, erwartete sie ihn. Der Bote kam mit dem Bescheid zurück, der Herr habe Besuch, würde aber sofort kommen; Wronskiy hatte befohlen, bei ihr anzufragen, ob sie ihn zusammen mit dem Fürsten Jaschwin, der nach Petersburg gekommen sei, empfangen könne.

„Er kommt nicht allein, und hat mich doch seit dem gestrigen Mittag nicht gesehen,“ dachte sie, „er kommt nicht allein, daß ich ihm alles sagen kann, sondern mit Jaschwin.“ Und plötzlich tauchte ein seltsamer Gedanke in ihr auf. „Wie wenn er aufgehört hätte, sie zu lieben?“

Und indem sie die Vorkommnisse der letzten Tage musterte, schien ihr, als ob sie in allem eine Bestätigung dieses entsetzlichen Gedankens sehe; schon darin, daß er gestern nicht zu Haus zu Mittag gespeist hatte, daß er darauf bestanden hatte, sie möchten in Petersburg getrennt logieren, wie darin, daß er jetzt nicht einmal allein zu ihr kam, gerade als ob er einem Wiedersehen Auge in Auge mit ihr aus dem Wege gehen wollte.

„Aber er muß mir dies sagen. Ich muß es wissen; und so bald ich es weiß, dann weiß ich auch, was ich zu thun habe,“ sagte sie zu sich, ohne Fähigkeit, sich die Lage vorzustellen, in welche sie kommen würde, wenn sie sich von seiner Gleichgültigkeit überzeugte. Sie glaubte, er habe aufgehört, sie zu lieben, sie fühlte sich der Verzweiflung nahe, und infolge dessen besonders reizbar. Sie schellte der Zofe und begab sich nach dem Ankleidezimmer. Beim Ankleiden beschäftigte sie sich mehr als während der letztvergangenen Tage mit ihrer Toilette, als ob Wronskiy sie, wenn er sie nicht mehr lieben sollte, deshalb von neuem lieben müsse, weil sie diese Robe und jene Frisur, die ihr besser standen, trug.

Sie hörte die Glocke, noch bevor sie fertig war. Als sie in den Salon trat, begegnete nicht er, sondern Jaschwin ihrem Blick. Jaschwin betrachtete die Photographieen ihres Sohnes, die sie auf dem Tische vergessen hatte, und er beeilte sich nicht eben, den Blick nach ihr zu wenden.

„Wir sind ja Bekannte,“ sagte sie, ihre kleine Hand in die große Jaschwins legend, der in Verwirrung geraten war – was sich bei dem riesigen Wuchs und dem derben Gesicht desselben sonderbar genug ausnahm. – „Wir sind Bekannte seit dem vorigen Jahre, von den Rennen. Gebt doch her,“ sagte sie, mit schneller Bewegung die Bilder des Sohnes, die er ansah, vor Wronskiy wegnehmend, und ihn bedeutungsvoll mit den blitzenden Augen anschauend. „Waren im gegenwärtigen Jahre die Rennen gut? Anstatt der unsrigen, habe ich die Rennen auf dem Corso in Rom gesehen. Ihr liebt übrigens wohl nicht das Leben im Ausland?“ frug sie mit freundlichem Lächeln. „Ich kenne Euch, und kenne alle Eure Geschmacksrichtungen, obwohl ich Euch wenig begegnet bin.“

„Das thut mir sehr leid, da meine Geschmacksrichtungen immer schlechter werden,“ sagte Jaschwin, sich in seinen linken Schnurrbart beißend.

Nachdem er noch einige Zeit geplaudert und bemerkt hatte, daß Wronskiy nach der Uhr blickte, frug Jaschwin sie, ob sie noch lange in Petersburg bleiben werden und griff, seine mächtige Gestalt einknickend, ans Käppi.

„Wahrscheinlich nicht mehr lange,“ sagte sie voll Verwirrung, auf Wronskiy blickend.

„So sehen wir uns also nicht wieder?“ antwortete Jaschwin, aufstehend und sich an Wronskiy wendend, „wo speisest du?“

„Kommt, mit mir zu dinieren,“ sagte Anna entschlossenen Tones, gleichsam erzürnt über sich selbst wegen ihrer Verlegenheit, aber errötend, wie dies stets bei ihr der Fall war, wenn sie vor einer ihr nicht vertrauten Persönlichkeit ihre Meinung äußerte. „Das Essen ist hier nicht gut, aber Ihr könnt ihn doch wenigstens wiedersehen. Aleksey liebt von allen seinen Kameraden aus dem Regiment keinen so, wie Euch.“

„Sehr erfreut,“ sagte Jaschwin mit einem Lächeln, aus dem Wronskiy ersah, daß ihm Anna sehr gefiel.

Jaschwin empfahl sich und ging, Wronskiy blieb allein zurück.

„Du gehst auch?“ sagte sie.

„Ich habe mich schon verspätet,“ antwortete er, „geh! Ich komme dir sogleich nach!“ rief er Jaschwin nach.

Sie nahm ihn bei der Hand und blickte ihn, ohne das Auge abzuwenden, an, in ihren Gedanken suchend, was sie ihm sagen sollte, um ihn zurückzuhalten.

„Warte, ich habe dir etwas zu sagen,“ seine kleine Hand nehmend, preßte sie dieselbe an ihren Hals, „nicht wahr, es thut nichts, daß ich ihn zum Essen geladen habe?“

„Das hast du ganz recht gemacht,“ sagte er, mit ruhigem Lächeln seine engstehenden Zähne zeigend und ihre Hand küssend.

„Aleksey, du bist nicht anders geworden gegen mich?“ sprach sie, mit beiden Händen seine Rechte drückend. „Aleksey, ich quäle mich hier ab, wann reisen wir?“

„Bald, bald. Du kannst nicht glauben, wie auch mir das Leben hier schwer ist,“ sagte er, seine Hand ausstreckend.

„Nun so geh, geh,“ sagte sie verletzt und ging schnell von ihm hinweg.

32

Als Wronskiy heimkehrte, war Anna noch nicht wieder da. Bald nach ihm war, wie man ihm sagte, eine Dame angekommen und mit dieser zusammen sei sie weggefahren.

Daß sie weggefahren war, ohne gesagt zu haben wohin, was bei ihr bis jetzt noch nicht der Fall gewesen war, daß sie noch an diesem Morgen ausgefahren, ohne ihm etwas davon zu sagen – alles das, zusammen mit dem seltsam aufgeregten Ausdruck ihres Gesichts heute früh und mit der Erinnerung an die feindselige Haltung, mit welcher sie in Gegenwart Jaschwins die Bilder ihres Sohnes fast seinen Händen entrissen hatte, stimmte ihn nachdenklich.

Er schloß, daß es notwendig sei, sich mit ihr auszusprechen, und er erwartete sie nun in ihrem Salon. Anna kehrte indessen nicht allein zurück, sondern brachte ihre Tante mit sich, eine alte Jungfer, die Fürstin Oblonskaja. Das war die Dame, welche heute früh angekommen und mit welcher Anna Einkäufe zu machen ausgefahren war.

Anna schien den besorgten und fragenden Ausdruck der Züge Wronskiys nicht zu bemerken, und berichtete ihm heiter, was sie heute Morgen gekauft habe. Er sah, daß in ihr etwas Besonderes vorgehe; denn in ihren blitzenden Augen lag, wenn sie sich auf ihn im Vorübergleiten hefteten, eine gespannte Aufmerksamkeit, und in ihrer Rede, in ihren Bewegungen jene nervöse Schnelligkeit und Grazie, die ihn in der ersten Zeit ihrer Bekanntschaft so bestrickt hatte, jetzt aber beunruhigte und erschreckte.

Das Diner wurde für Vier gedeckt. Alle waren bereits versammelt, um in das kleine Speisezimmer zu gehen, als Tuschkjewitsch mit einem Auftrag für Anna von der Fürstin Betsy ankam. Die Fürstin Betsy bat um Entschuldigung, daß sie nicht gekommen sei, um Abschied zu nehmen. Sie fühle sich unwohl, bat aber Anna, zwischen halb acht und neun Uhr zu ihr zu kommen. Wronskiy blickte Anna an bei dieser Zeitbestimmung, welche bewies, daß Maßregeln getroffen waren, sie niemandem begegnen zu lassen, doch schien dies Anna gar nicht zu bemerken.

„Sehr schade, daß ich gerade zwischen halb acht und neun Uhr nicht kann,“ sagte sie mit leisem Lächeln.

„Die Fürstin wird das sehr bedauern.“

„Auch ich.“

„Ihr wollt wahrscheinlich die Patti hören?“ sagte Tuschkjewitsch.

„Die Patti? Ihr gebt mir da einen guten Gedanken ein. Ich würde hinfahren, wenn es möglich wäre, eine Loge zu erhalten.“

„Ich kann sie erhalten,“ brüstete sich Tuschkjewitsch.

„Ach, da würde ich Euch recht sehr dankbar sein,“ antwortete Anna, „aber wollt Ihr nicht mit uns speisen?“

Wronskiy zuckte kaum merklich die Achsel; er verstand absolut nicht, was Anna that. Weshalb brachte sie diese alte Fürstin mit, weshalb veranlaßte sie Tuschkjewitsch, mitzuspeisen, und, was am wunderbarsten war, weshalb schickte sie ihn nach einer Loge? War es denn denkbar, daß sie in ihrer Lage in das Abonnement der Patti fuhr, wo die gesamte, ihr bekannte Welt zugegen sein würde? Mit ernstem Blick schaute er sie an, doch sie antwortete ihm mit jenem herausfordernden, weniger heiteren, als verzweifelten Blick, dessen Bedeutung er nicht verstehen konnte. Bei Tische war sie provozierend heiter, sie kokettierte fast mit Tuschkjewitsch und Jaschwin. Als man vom Tische aufstand und Tuschkjewitsch wegfuhr, um die Loge zu bestellen, während Jaschwin ging, um zu rauchen, begab sich Wronskiy mit letzterem zusammen hinweg in seine Zimmer. Nachdem er einige Zeit hier verweilt hatte, eilte er wieder nach oben. Anna hatte sich schon in eine hellseidene Toilette mit Samt geworfen, die für sie in Paris gefertigt worden war, mit offener Brust und kostbaren weißen Spitzen auf dem Kopfe, die ihr Gesicht einrahmten, und ihre blendende Schönheit besonders vorteilhaft hervorhob.

 

„Ihr fahrt bestimmt zum Theater?“ sagte er, sie geflissentlich nicht ansehend.

„Weshalb fragt Ihr so voll Furcht?“ antwortete sie, aufs neue verletzt davon, daß er sie nicht anblickte, „weshalb sollte ich nicht?“ —

Sie schien den Sinn seiner Worte gar nicht zu verstehen.

„Natürlich, nicht die geringste Ursache, warum man es nicht thun sollte,“ antwortete er finster werdend.

„Das sage ich eben auch,“ versetzte sie, mit Absicht keine Ironie in ihren Ton legend, und ruhig den schmalen, duftenden Handschuh umwendend.

„Anna, um Gott! Was ist mit Euch?“ frug er, sie zur Besinnung bringend, ganz ebenso, wie einst ihr Mann zu ihr gesprochen hatte.

„Ich verstehe nicht, wonach Ihr fragt.“

„Ihr wißt, es ist unmöglich ins Theater zu fahren.“

„Warum? Ich fahre ja nicht allein. Die Fürstin Barbara geht, um sich anzukleiden, sie wird mit mir fahren.“

Er zuckte die Schultern mit dem Ausdruck der Unentschlossenheit und Verzweiflung.

„Aber wißt Ihr denn nicht“ – begann er.

„Ich will nichts wissen!“ schrie sie fast auf. „Ich will nicht! Bereue ich denn, was ich gethan habe? Nein, nein, und aber nein! Und geschähe wieder das Nämliche, von Anfang an, so wäre es wieder so. Für uns, für mich und Euch ist nur Eines von Wichtigkeit: ob wir uns gegenseitig lieben! – Andere Erwägungen giebt es nicht! Wozu wohnen wir hier gesondert und sehen uns nicht? Warum kann ich nicht ins Theater fahren? Ich liebe dich und mir ist alles gleich,“ sprach sie russisch, mit jenem eigenartigen, unverständlichen Glanz der Augen auf ihn blickend, „wenn du dich nicht verändert hast. Warum schaust du mich nicht an?“

Er blickte sie an. Er sah die ganze Schönheit ihres Gesichts, dieser Toilette, die ihr stets so gut zu Gesicht stand. Aber jetzt war gerade ihre Schönheit und Eleganz das, was ihn betroffen machte.

„Meine Empfindungen können sich nicht ändern; Ihr wißt es, aber ich bitte Euch, nicht dorthin zu fahren, ich beschwöre Euch,“ sprach er, wieder auf französisch, und mit zärtlicher Bitte in der Stimme, aber Kälte im Blick.

Sie hörte seine Worte nicht, sondern sah nur die Kälte des Blicks und antwortete gereizt:

„Ich bitte Euch nur, mir zu erklären, warum ich nicht fahren soll.“

„Weil es Euch Ursache werden könnte zu“ – er blieb stecken.

„Ich verstehe nichts. Jaschwin n'est pas compromettant und die Fürstin Barbara ist in nichts schlechter, als die anderen. – Da ist sie ja!“ —