Tasuta

Anna Karenina, 2. Band

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Märgi loetuks
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29

Der enge Saal, in welchem man rauchte und aß, war gefüllt von den Edelleuten. Die Aufregung stieg stetig, und auf allen Gesichtern war die Unruhe bemerkbar. Namentlich waren die Wortführer in Aufregung, da sie alle Einzelverhältnisse und die Berechnung aller Kugeln kannten. Sie waren die Ordner der bevorstehenden Schlacht. Die Übrigen suchten, wie die Krieger vor dem Kampfe, obwohl sie sich zu diesem vorbereiteten, noch Zerstreuungen. Die Einen nahmen am Tische stehend oder sitzend einen Imbiß; die Anderen gingen Cigaretten rauchend, in dem langen Zimmer auf und nieder, und unterhielten sich mit lange nicht gesehenen Freunden.

Lewin verspürte keine Eßlust, er rauchte nicht; zu den Seinigen, mit Sergey Iwanowitsch, Stefan Arkadjewitsch, Swijashskiy und anderen gehen, wollte er nicht, da bei ihnen in lebhaftem Gespräch Wronskiy in Stallmeisteruniform stand. Schon gestern hatte ihn Lewin bei den Wahlen erblickt, und geflissentlich vermieden, da er nicht wünschte ihm zu begegnen. Er trat ans Fenster und setzte sich nieder, auf die Gruppen blickend, und auf das horchend, was um ihn herum gesprochen wurde.

Es bedrückte ihn namentlich, daß alle, wie er sah, aufgeregt, besorgt und geschäftig waren, und nur er allein nebst einem alten, zahnlosen Greis in Marineuniform, der neben ihm saß, ohne Interesse und ohne Beschäftigung war.

„Das ist ein Betrug! Ich habe ihm gesagt, daß es nicht so ist. Gewiß. Er konnte auf drei Jahre nicht wählen,“ sprach energisch ein etwas verwachsener Gutsherr von kleiner Gestalt mit pomadisierten Haaren, die auf dem gestickten Kragen seiner Uniform lagen, stark mit den Absätzen seiner offenbar für die Wahlen neugefertigten Stiefeln aufstampfend, und wandte sich dann, einen mißvergnügten Blick auf Lewin werfend, kurz ab.

„Ja, eine unsaubere Sache, was man auch sagen mag,“ fuhr ein kleiner Gutsherr mit dünner Stimme fort.

Hinter ihnen näherte sich Lewin eilig ein ganzer Trupp von Gutsherrn, einen dicken General umringend. Die Herren suchten offenbar einen Platz, wo sie so sprechen konnten, daß man sie nicht hörte.

„Wie kann er sich unterstehen, zu sagen, ich hätte ihm die Beinkleider entwenden lassen! Er hat sie vertrunken, denke ich! Ich mache mir den Teufel aus ihm und seinem Fürstenrang! Er soll es nicht wagen, das zu äußern. Eine Schweinerei ist es!“

„Aber erlaubt doch! Die berufen sich auf den Gesetzparagraphen,“ sprach man in einer anderen Gruppe, „die Frau muß als Adlige eingetragen werden!“

„Zum Teufel mit dem Paragraphen! Ich spreche wie es mir ums Herz ist! Darauf stützen sich brave Edelleute. Man soll Vertrauen haben!“

„Wollen Ew. Excellenz mitkommen, fine champagne.“

Ein anderer Trupp ging zu einem laut schreienden Edelmann; es war dies Einer der drei Berauschten.

„Ich habe der Marja Ssemionowna stets geraten zu verpachten, weil sie ihren Vorteil nicht zu wahren versteht,“ sagte ein graubärtiger Gutsherr mit angenehmer Stimme, in der Oberstenuniform des alten Generalstabs. Es war dies der nämliche Herr, welchem Lewin bei Swijashskiy begegnet war. Lewin erkannte ihn sofort, auch der Gutsherr schaute nach Lewin, und sie begrüßten sich.

„Sehr angenehm. Gewiß, ich erinnere mich noch recht wohl; wir sahen uns im vergangenen Jahre bei Nikolay Iwanowitsch.“

„Nun, wie steht es mit Eurer Ökonomie?“ frug Lewin.

„Man arbeitet stets mit Schaden,“ antwortete der Gutsherr mit höflichem Lächeln, aber mit einem Ausdruck von Ruhe und der Überzeugtheit, daß es so sein müsse, neben Lewin stehen bleibend; „aber wie kommt Ihr denn in unser Gouvernement?“ frug er dann. „Ihr seid wohl gekommen, um an unserem coup d'état teilzunehmen?“ sagte er, sicher, aber schlecht die französischen Worte aussprechend. „Ganz Rußland ist zusammengekommen; auch die Kammerherren und beinahe selbst die Minister.“ Er wies auf die repräsentierende Gestalt Stefan Arkadjewitschs in den weißen Pantalons und der Kammerherrenuniform, welcher mit einem General ging.

„Ich muß Euch gestehen, daß ich die Bedeutung der Adelswahlen recht wenig verstehe,“ sprach Lewin.

Der Gutsherr schaute ihn an.

„Was giebt es denn da zu verstehen? Eine Bedeutung liegt darin gar nicht. Es ist das eine hinfällige Institution, welche ihr Fortleben nur dem Trägheitsgesetz verdankt. Seht doch hin; die Uniformen sagen Euch das ja schon. Dies ist eine Sobranje von Friedensrichtern, dauernden Mitgliedern und so fort, aber nicht von Edelleuten.“

„Aber weshalb seid Ihr denn gekommen?“ frug Lewin.

„Aus Gewohnheit; das ist das Eine. Ferner, um die Verbindungen aufrecht zu erhalten. Darin liegt eine moralische Verpflichtung in gewisser Hinsicht. Dann aber, wenn ich die Wahrheit sagen soll, auch aus meinem eigenen Interesse. Mein Schwager wünscht als Mitglied gewählt zu werden; die Familie ist arm und man muß sie vorwärts bringen. Weshalb sind wohl diese Herren gekommen?“ sagte er, auf den bissigen Adligen zeigend, welcher hinter dem Gouverneurstisch sprach.

„Das ist ein neues Adelsgeschlecht.“

„Neues hin, neues her; aber kein Adel! Das sind Landleute, während wir Gutsherren sind. Sie legen als Adlige die Hand an sich selbst.“

„Aber Ihr sagt doch, es sei dies eine abgelebte Institution?“

„Abgelebt hin, abgelebt her; man müßte sich aber doch pietätvoller zu ihr stellen. Wäre wenigstens Sjnetkoff – mögen wir gut oder schlecht sein, aber tausend Jahre sind wir doch alt geworden. Wißt Ihr, es kann einmal vorkommen, daß man vor seinem Hause einen Garten anlegt und placiert. Da steht Euch nun aber gerade auf dem Platze ein hundertjähriger Baum. Mag er gleich knorrig und alt sein, für die Blumenbouquets wird man ihn doch wohl nicht umhauen, sondern diese so anlegen, daß sie den Baum umfangen;“ sagte er vorsichtig, und änderte darauf das Thema. „Wie geht es denn mit Eurer Ökonomie?“ frug er.

„Auch nicht gut. Fünf Prozent wirft sie ab.“

„Da rechnet Ihr Euch aber noch nicht mit! Ihr seid doch auch etwas wert! Ich kann auch von mir selbst so reden. Während der Zeit, in der ich nicht Landwirtschaft trieb, habe ich im Dienst dreitausend Rubel gehabt. Jetzt arbeite ich mehr, als im Dienst, und habe ebenso wie Ihr, meine fünf Prozent, und damit ist es gut. Meine Arbeit ist dabei noch umsonst.“

„Aber warum thut Ihr es denn, wenn Ihr nur Verlust habt?“

„Nun, man arbeitet eben. Was wollt Ihr sonst? aus Gewohnheit; und man weiß, daß man so muß. Ich will Euch weiter sagen,“ und der Gutsbesitzer stemmte sich mit den Ellbogen auf das Fenster und fuhr fort, „mein Sohn hat keine Lust zur Landwirtschaft; er wird offenbar einmal ein Gelehrter. Niemand wird somit die Sache einmal fortführen, und doch arbeitet man. Jetzt habe ich einen Garten angelegt.“

„Ja, ja,“ sagte Lewin, „das ist völlig richtig. Ich fühle stets, daß in meiner Ökonomie keine rechte Berechnung liegt, man arbeitet aber – man fühlt gleichsam eine Verpflichtung seinem Lande gegenüber.“

„Da will ich Euch noch etwas sagen,“ fuhr der Gutsbesitzer fort. „Mein Nachbar, ein Kaufmann, war bei mir. Wir gingen das Land ab, und den Garten. ‚Nein,‘ sagte er da, ‚Stefan Wasiljewitsch, bei Euch ist alles in Ordnung, aber der Garten ist vernachlässigt.‘ Dabei befindet er sich aber in vollständiger Ordnung. ‚Nach meiner Ansicht, würde ich diese Linden anhauen. Man muß nur bis auf den Saft schlagen. Es sind da ihrer tausend Linden, und jede von ihnen giebt zwei gute Schaffe.‘“

„Für den Erlös daraus müßte er Vieh kaufen oder Land und es den Bauern pachtweise verteilen,“ ergänzte Lewin, welcher offenbar schon mehr als einmal mit ähnlichen Überschlägen zu thun gehabt hatte. „Und er wird sich ein Vermögen begründen, während wir, Ihr und ich, wenn Gott es giebt, nur das unsere zusammenhalten und den Kindern zu hinterlassen streben müssen.“

„Ihr seid verheiratet, wie ich hörte?“ sagte der Gutsbesitzer.

„Ja,“ antwortete Lewin mit Stolz und Genugthuung. „Es ist aber etwas Seltsames,“ fuhr er fort, „wir leben zusammen gerade wie die alten Vestalinnen, und hüten unser Herdfeuer.“

Der Gutsbesitzer lächelte unter seinem weißen Bart.

„So ist es auch bei uns, da hat sich unser Freund Nikolay Iwanitsch, oder jetzt Graf Wronskiy seßhaft gemacht, die eine agronomische Industrie einführen wollen; aber das hat nicht weiter, als bis zu Kapitalverlust geführt.“

„Aber weshalb machen wir es nicht, wie die Kaufleute? Warum fällen wir nicht die Bäume im Garten der Rinde halber?“ sagte Lewin, auf den Gedanken zurückgreifend, der ihn frappiert hatte.

„Nun, wie Ihr sagtet, man hütet sein Feuer. Dieses wäre ja auch nicht ein adliges Verfahren. Unsere adlige Thätigkeit vollzieht sich nicht hier, bei den Wahlen, sondern in unserem Winkel. Es giebt auch einen Standesinstinkt bezüglich dessen, was man soll und was man nicht soll. Bei den Bauern ist es ebenso; wenn ein Bauer gut ist, so sucht er soviel Land zu pachten, als er kann. So schlecht dieses nun sein mag, er pflügt es. Gleichfalls ohne Berechnung, und geradezu zu seinem Schaden.“

„Wie wir“ – sagte Lewin. „Es ist nur außerordentlich angenehm, Euch zu treffen,“ fügte er hinzu, indem er Swijashskiy zu ihm herantreten sah.

„Ah, wir begegnen uns wohl zum erstenmal wieder, seit ich bei Euch war,“ begrüßte ihn der Gutsbesitzer, „wir haben uns auch verschworen.“

„Wie, schmäht Ihr neue Einrichtungen?“ frug Swijashskiy lächelnd.

„Ein wenig.“

„Man hat uns den Mut benommen.“

30

Swijashskiy nahm Lewin unter den Arm und ging mit ihm zu seinen Freunden.

Jetzt konnte Lewin Wronskiy nicht mehr vermeiden, welcher bei Stefan Arkadjewitsch und Sergey Iwanowitsch stand und offen dem herankommenden Lewin entgegenblickte.

„Sehr erfreut. Mir scheint, als hätte ich einmal das Vergnügen gehabt, Euch begegnet zu sein – bei der Fürstin Schtscherbazkaja,“ sagte er, Lewin die Hand reichend.

 

„Ja; ich entsinne mich Eurer Begegnung recht wohl,“ sagte Lewin, purpurrot werdend, und wandte sich sogleich, um mit seinem Bruder zu sprechen.

Mit feinem Lächeln unterhielt sich Wronskiy mit Swijashskiy weiter, offenbar ohne den geringsten Wunsch, in ein Gespräch mit Lewin zu geraten; dieser hingegen blickte, mit dem Bruder redend, unverwandt Wronskiy an und überlegte, wovon er wohl mit demselben sprechen könnte, um seine Taktlosigkeit wieder gutzumachen.

„Was verhandelt man jetzt?“ frug Lewin, Swijashskiy und Wronskiy anblickend.

„Sjnetkoff. Er muß abschläglich antworten oder beistimmen,“ antwortete Swijashskiy.

„Nun, hat er denn beigestimmt oder nicht?“

„Darum handelt es sich ja eben; weder dies noch das ist der Fall,“ sagte Wronskiy.

„Und wenn er es verweigert, wer wird dann ballotieren?“ frug Lewin, Wronskiy anschauend.

„Wer da will,“ sagte Swijashskiy.

„Werdet Ihr es thun?“ frug Lewin.

„Nur ich nicht,“ sagte Swijashskiy, in Verlegenheit geratend und einen erschreckten Blick auf den neben ihm mit Sergey Iwanowitsch stehenden, bissigen Herrn werfend.

„Nun wer denn; Njewjedowskiy?“ frug Lewin, im Gefühl, daß er sich verwickelte.

„Dies wäre aber noch schlimmer. Njewjedowskiy und Swijashskiy waren ja die zwei Kandidaten.“

„Ich werde es in keinem Falle thun,“ antwortete der sarkastische Herr. Es war Njewjedowskiy selbst. Swijashskiy machte Lewin mit demselben bekannt.

„Hat es auch deine Achillesferse getroffen?“ sagte Stefan Arkadjewitsch, Wronskiy zublinzelnd, „das ist etwas nach Art der Wettrennen. Man kann da eine Wette machen.“

„Ja; das berührt Einen bei der schwachen Seite,“ sagte Wronskiy. „Und hat man sich einmal mit der Sache abgegeben, so will man sie auch ausführen. Es ist ein Kampf!“ sagte er, stirnrunzelnd und die starken Kinnbacken zusammenbeißend.

„Was für ein Kenner der Swijashskiy ist. Wie klar bei ihm alles ist!“

„Ach ja,“ versetzte Wronskiy zerstreut.

Ein Stillschweigen trat ein, während dessen Wronskiy so wie man eben auf etwas Zufälliges blickt, auf Lewin, auf dessen Füße, Uniform und Gesicht, schaute. Nachdem er die finster auf sich gerichteten Augen bemerkt hatte, äußerte er, um doch wenigstens etwas zu sagen:

„Wie kommt es denn – Ihr seid doch ständiger Dorfbewohner, nicht aber Friedensrichter? Ihr seid ja nicht in der Uniform eines Friedensrichters?“

„Das kommt daher, daß ich glaube, das Friedensgericht repräsentiert eine thörichte Institution,“ antwortete Lewin finster, der schon längst darauf gewartet hatte, mit Wronskiy ins Gespräch zu kommen, um seine Taktlosigkeit bei Gelegenheit wieder auszugleichen.

„Ich glaube dies nicht; im Gegenteil,“ sagte Wronskiy ruhig, aber mit Verwunderung.

„Es ist doch nur eine Spielerei,“ unterbrach ihn Lewin. „Die Friedensrichter sind uns nicht notwendig. Ich habe innerhalb acht Jahren nicht eine einzige Klage gehabt, und was ich gehabt habe, das wurde durch Ersatzleistung ausgeglichen. Der Friedensrichter wohnt in einer Entfernung von vierzig Werst von mir. In einer Sache, in welcher es sich um zwei Rubel handelt, muß ich dann einen Vertrauensmann, welcher mich fünfzehn kostet, schicken.“

Er erzählte nun, wie ein Bauer einem Müller Mehl gestohlen habe, und der Bauer, als der Müller es ihm mitgeteilt, gegen diesen Verleumdungsklage eingereicht hätte. Alles das paßte nicht hierher und war dumm; und Lewin fühlte dies auch, während er sprach.

„O, über dieses Original!“ sagte Stefan Arkadjewitsch mit seinem mandelsüßesten Lächeln, „indessen gehen wir; man scheint zu ballotieren.“

Sie gingen auseinander.

„Ich begreife nicht,“ sagte Sergey Iwanowitsch, den ungeschickten Gang seines Bruders bemerkend, zu diesem, „ich begreife nicht, wie es möglich ist, bis zu solchem Grade jeglichen politischen Taktes bar zu sein. Das ist es eben, was wir Russen nicht haben. Der Gouvernementsvorsteher ist unser Gegner, und du bist mit ihm ami cochon und bittest ihn, zu ballotieren. Graf Wronskiy – ich mache ihn mir ja auch nicht zum Freunde – hat mich zum Essen eingeladen. Ich werde nicht zu ihm fahren, aber er ist auf unserer Seite, weshalb soll ich uns deshalb einen Feind aus ihm machen? Dann frägst du Njewjedowskiy, ob er ballotieren würde. Das geht doch nicht an.“

„Ach, ich verstehe nichts davon! Alles das ist doch fades Zeug,“ antwortete Lewin mürrisch.

„Du sagst da, daß dies alles fades Zeug sei, befassest du dich aber damit, so verwickelst du dich dennoch.“

Lewin blieb stumm und sie betraten zusammen den großen Saal.

Der Gouvernementsvorsteher hatte sich, obwohl er den ihm bereiteten Verrat in der Luft liegen fühlte, und nicht alle ihn darum gebeten hatten, gleichwohl entschlossen, zu ballotieren. Im Saal wurde alles still, der Sekretär verkündete mit lauter Stimme, daß Rittmeister der Garde, Michail Ljepanowitsch Snjetkoff zum Gouvernementsvorsteher gewählt werden solle.

Die Kreisvorsteher kamen mit Tellern, auf welchen die Kugeln lagen, von ihren Tischen zu dem Gouvernementstisch, und die Wahlen begannen.

„Wirf rechts,“ flüsterte Stefan Arkadjewitsch Lewin zu, als er zusammen mit dessen Bruder hinter dem Vorsteher zu dem Tische schritt.

Lewin hatte indessen jetzt jenes Kalkul vergessen, das man ihm erklärt hatte, und fürchtete, Stefan Arkadjewitsch möchte sich geirrt haben, indem er sagte „rechts“. Sujetkoff war doch offenbar der Gegner. Als er daher zum Kasten gekommen war, hielt er die Kugel in der Rechten, überlegte sich jedoch, daß er irre, und nahm, dicht vor dem Kasten, die Kugel in die linke Hand, um sie dann offenbar links zu legen.

Ein Kenner der Sache, welcher an dem Kasten stand, und an der bloßen Bewegung des Ellbogens erkannte, wohin jeder warf, runzelte unwillig die Stirn. Er hatte keine Lust, seinen Scharfsinn anzustrengen.

Alles war still geworden und man vernahm nur das Zählen der Kugeln. Darauf rief eine einzelne Stimme die Zahl der Wähler und der Nichtwählenden aus.

Der Vorsteher war mit beträchtlicher Majorität wieder gewählt worden. Es erhob sich ein allgemeiner Lärm und man drängte nach der Thür. Sjnetkoff trat ein, und der Adel umringte ihn, unter Beglückwünschungen.

„Nun, jetzt ist es wohl zu Ende?“ frug Lewin Sergey Iwanowitsch.

„Es fängt eben erst an,“ versetzte für Sergey Iwanowitsch lächelnd Swijashskiy; „der Kandidat des Vorstehers kann mehr Kugeln erhalten.“

Lewin hatte dies vollkommen vergessen. Er entsann sich erst jetzt, daß hier eine gewisse Feinheit verborgen lag, doch wurde es ihm zuviel, sich darauf besinnen zu sollen, worin sie bestand. Niedergeschlagenheit überkam ihn und er sehnte sich darnach, von diesem Haufen wegzukommen.

Da ihn niemand beachtete, und er wie es schien, von niemand vermißt wurde, begab er sich leise nach dem kleinen Saal, wo man speiste, und fühlte große Erleichterung, als er die Diener wiederum erblickte. Der alte Diener legte ihm die Speisenkarte vor, und Lewin willigte ein. Nachdem er ein Kotelett mit Fasolen gegessen und sich mit dem Diener über dessen frühere Herrschaft unterhalten hatte, begab sich Lewin, der den Saal nicht wieder zu betreten wünschte, in welchem es ihm so unangenehm war, auf die Tribünen.

Diese waren angefüllt von geputzten Damen, die sich über das Geländer beugten, im Bemühen, nicht ein einziges Wort von dem zu verlieren, was unten gesprochen wurde. Um die Damen herum saßen und standen elegante Advokaten, Gymnasialschüler mit Augengläsern, und Offiziere. Überall wurde von den Wahlen gesprochen, und davon, wie der Vorsteher erschöpft sei, und wie vortrefflich die Debatten gegangen wären; in der einen Gruppe vernahm Lewin das Lob seines Bruders. Eine Dame sagte zu einem Advokaten:

„Wie freue ich mich, daß ich Koznyscheff gehört habe! Da ist es schon der Mühe wert, ein wenig zu hungern. Es war reizend! Wie klar und verständlich alles! Bei uns im Gericht spricht niemand so. Nur Maydel, und selbst der ist noch bei weitem nicht so redegewandt.“

Als Lewin einen freien Platz an dem Geländer gefunden hatte, beugte er sich darüber und begann Umschau zu halten und zu lauschen.

Alle Adligen saßen in Spalieren, in ihren Kreisabteilungen. In der Mitte des Saales stand ein Mann in Uniform, welcher mit klingender lauter Stimme rief:

„Es wird ballotiert für die Kandidaten des Gouvernementsvorstehers des Adels, Stabrittmeisters Evgeniy Iwanowitsch Apuchtin!“

Totenstille trat ein, und man vernahm eine schwache Greisenstimme:

„Ich verzichte!“

„Es wird ballotiert der Hofrat Peter Petrowitsch Bolj,“ begann wiederum die Stimme.

„Ich verzichte!“ ertönte eine jugendliche pfeifende Stimme.

Nochmals ertönte das Gleiche und wieder erschallte das „ich verzichte“; und so ging es eine Stunde lang fort. Auf das Geländer gestemmt, schaute und lauschte Lewin. Anfangs wunderte er sich und suchte zu erfassen, was dies alles bedeute; dann aber, nachdem er sich überzeugt hatte, er könne nichts verstehen, fing er an, sich zu langweilen. Als er sich hierauf all die Aufregung und Erbitterung, die er auf den Gesichtern aller wahrgenommen, vergegenwärtigte, wurde es ihm schwer ums Herz; er beschloß abzureisen, und ging hinab.

Als er durch die Vorhalle der Tribünen schritt, begegnete er einem auf- und niederschreitenden, bedrückt aussehenden Gymnasiasten mit thränenschwimmenden Augen. Auf der Treppe begegnete ihm ein Paar. Eine Dame, welche eilig auf den Absätzen lief, war es und der gewandte Genosse des Prokurators.

„Ich habe Euch gesagt, daß Ihr nicht zu spät kommt,“ sagte der Prokurator, gerade, als Lewin zur Seite trat, um die Dame vorüberzulassen.

Lewin war schon auf der Ausgangstreppe und zog soeben aus der Westentasche die Nummer seines Pelzes hervor, als ihn der Sekretär abfing.

„Gestattet, Konstantin Dmitritsch, man ballotiert!“

Zum Kandidaten war Njewjedowskiy, der sich so entschieden geweigert hatte, gewählt worden.

Lewin schritt zur Saalthür; sie war verschlossen. Der Sekretär pochte, die Thür öffnete sich und er befand sich zwei Gutsbesitzern mit geröteten Gesichtern gegenüber.

„In meiner Macht liegt es nicht,“ sagte der eine rotaussehende Gutsbesitzer.

Hinter den beiden hob sich das Gesicht des Gouvernementsvorstehers hervor. Dieses Gesicht erschien furchterweckend mit seinem Ausdruck von Erschöpfung und Angst.

„Ich habe dir befohlen, niemand hinauszulassen!“ schrie er den Thürhüter an.

„Ich habe nur eingelassen, Ew. Excellenz!“

„Mein Gott!“ schwer seufzend ging der Gouvernementsvorsteher, müde in seinen weißen Pantalons, den Kopf gesenkt, dahinschreitend, durch die Mitte des Saales nach dem großen Tische.

Man hatte das Amt Njewjedowskiy übertragen, wie es auch vorher geplant worden war, und dieser war jetzt Gouvernementsvorsteher. Viele befanden sich in heiterer Stimmung, viele waren zufrieden und glücklich, viele entzückt, viele unzufrieden und unglücklich. Der Gouvernementsvorsteher war in einer Verzweiflung, die er nicht verbergen konnte. Als Njewjedowskiy den Saal verließ, umringte ihn die Menge, und folgte ihm begeistert nach, so, wie sie am ersten Tage dem Gouvernementsvorsteher gefolgt war, als derselbe die Wahlen eröffnet hatte, so, wie sie Sjnetkoff gefolgt war, als dieser gewählt wurde.