Tasuta

Anna Karenina, 2. Band

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Märgi loetuks
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

16

Als Lewin nach oben kam, saß seine Gattin vor dem neusilbernen Ssamowar hinter dem neuen Theegeschirr und las, nachdem sie die alte Agathe Michailowna mit einer ihr kredenzten Tasse Thee mit an das kleine Tischchen gesetzt hatte, einen Brief Dollys, mit welcher sie beide in beständigem und lebhaftem Briefwechsel standen.

„Da seht, Eure Herrin hat mich hierher gesetzt; sie sagte, ich solle auch mit bei ihr sitzen,“ begann Agathe Michailowna, Kity gutmütig zulächelnd.

In diesen Worten Agathe Michailownas sah Lewin die Lösung eines Dramas, welches sich in jüngster Zeit zwischen dieser und Kity abgespielt hatte. Er sah, daß ungeachtet alles Leides, welches der Agathe Michailowna durch die neue Herrin verursacht worden war, die ihr die Zügel des Hausregiments aus der Hand genommen hatte, Kity sie gleichwohl überwunden und gezwungen hatte, sie zu lieben.

„Da habe ich einen Brief an dich gelesen,“ sagte Kity, ihm einen fehlerhaft geschriebenen Brief reichend. „Hier ist einer von jenem Weibe deines Bruders, wie es scheint,“ sagte sie, „ich habe ihn nicht gelesen. Der hier ist von den Meinen und von Dolly. Denke dir, Dolly hat Grischa und Tanja zum Kinderball zu den Sarmatskiy geführt! Tanja hatte dabei eine Marquise gemacht.“

Lewin hörte sie jedoch gar nicht; errötend hatte er das Schreiben von Marja Nikolajewna, der früheren Geliebten Nikolays, ergriffen und es zu lesen begonnen. Es war dies bereits das zweite Schreiben von ihr. Im ersten Briefe hatte sie geschrieben, daß sein Bruder sich ihrer entledigt habe, ohne daß sie sich eine Schuld beizumessen hätte, und mit rührender Naivetät hinzugefügt, daß sie, obwohl sie nun wieder im Elend lebe, um nichts bitte und nichts wünsche, und daß sie nur der Gedanke quäle, Nikolay Dmitrjewitsch könne ohne sie mit seiner schwachen Gesundheit ins Verderben geraten; sie hatte den Bruder gebeten, Sorge für ihn zu tragen. Jetzt schrieb sie einen zweiten Brief. Sie hatte Nikolay Dmitrjewitsch gefunden, sich wieder mit ihm in Moskau vereint, und war mit ihm in eine Gouvernementsstadt gereist, woselbst er ein Amt erhalten hatte. Dort war er indessen mit seinem Vorgesetzten in Differenzen geraten und wieder nach Moskau zurückgekehrt, „und der teure Mann ist nunmehr so krank geworden, daß er wohl schwerlich je wieder aufkommen wird,“ schrieb sie; „er hat fortwährend Eurer gedacht, Geld besitzt er gar nicht mehr.“

„Lies, da schreibt Dolly von dir,“ begann Kity lächelnd, hielt aber plötzlich inne, als sie die Veränderung ihres Gatten gewahrte.

„Was hast du? Was ist da?“

„Sie schreibt mir, daß mein Bruder Nikolay dem Tode nahe ist. Ich muß zu ihm.“

Das Gesicht Kitys veränderte sich plötzlich. Die Gedanken an Tanja als Marquise, an Dolly, alles war verschwunden.

„Wann wirst du fahren?“ sagte sie.

„Morgen.“

„Und ich gehe mit dir, darf ich!“ fuhr sie fort.

„Kity! Was soll das?“ frug er vorwurfsvoll.

„Was das soll?“ erwiderte sie, gekränkt, daß er darüber wie es schien ungern und mit Verdruß ihren Vorschlag entgegennahm. „Weshalb soll ich nicht mit reisen? Ich werde dir nicht hinderlich sein. Ich“ —

„Ich reise, weil mein Bruder stirbt,“ antwortete Lewin. „Weshalb sollst du da“ —

„Weshalb? Eben deshalb, weshalb du reisest“ —

„In einer für mich so ernsten Minute denkt sie nur daran, daß sie sich allein könnte langweilen,“ dachte Lewin, und die Auslegung in der so ernsten Angelegenheit brachte ihn auf. „Es ist aber unmöglich,“ sagte er in strengem Tone.

Agathe Michailowna, welche sah, daß es zum Streit kommen wollte, setzte leise ihre Tasse nieder und ging hinaus. Kity hatte sie gar nicht bemerkt. Der Ton in welchem ihr Mann die letzten Worte gesprochen hatte, hatte sie insofern besonders verletzt, als dieser offenbar dem nicht glaubte, was sie sagte.

„Ich sage dir, daß wenn du reisest, ich mit dir reisen werde; unbedingt mit reisen werde,“ fügte sie eifernd und zürnend hinzu. „Weshalb ist denn das unmöglich? Weshalb sagst du, es sei unmöglich?“

„Weil wir, Gott weiß wohin, auf was für Wegen und mit welchen Gasthäusern zu reisen haben werden. Du wirst mir nur beschwerlich sein,“ sprach Lewin, sich bemühend, kaltblütig zu bleiben.

„Auf keinen Fall! Ich habe keinerlei Bedürfnisse. Wo du bist, kann ich auch sein!“

„Nun dann, schon deshalb kannst du nicht, weil sich dort jenes Weib befindet, dem du dich doch nicht nähern kannst“ —

„Ich weiß nichts und will nicht wissen, wer oder was dort ist! Ich weiß nur, daß der Bruder meines Gatten stirbt und daß mein Gatte zu ihm geht; ich aber mit meinem Gatten gehen will, um“ —

„Kity! Rege dich nicht auf! Bedenke, die Sache ist zu wichtig, so daß es mir schmerzlich ist, zu denken, du könntest die Empfindung einer Schwäche, die Abneigung davor, allein zu bleiben, hereinmengen. Nun, wird es für dich langweilig hier, so fahre nach Moskau.“

„Da haben wirs! Stets schreibst du mir nur schlechte, niedrige Gedanken zu,“ fuhr sie fort, unter den Thränen der Erbitterung und des Zornes. „Ich will nichts; es ist keine Schwäche, nichts; ich fühle nur, daß es meine Pflicht ist, mit meinem Gatten zu sein, wenn er Leid trägt; du aber willst mir absichtlich weh thun, willst mich absichtlich nicht verstehen.“

„Nein; das ist doch zu schrecklich; geradezu ein Sklave zu sein!“ rief Lewin aus, indem er aufstand. Er war nicht fähig, seinen Verdruß noch länger zurückzuhalten. Doch in diesem Augenblick empfand er, daß er sich selbst traf.

„Aber weshalb hast du dann geheiratet? Wärest du doch frei geblieben! Weshalb hast du geheiratet, wenn du es bereust!“ fuhr sie fort, sprang auf und eilte in den Salon.

Als er ihr nachfolgte, brach sie in Schluchzen aus. Er begann ihr zuzureden mit dem Wunsche die Worte zu finden, welche sie, wenn nicht überzeugen, doch wenigstens beschwichtigen könnten. Aber sie hörte ihn nicht und war mit nichts einverstanden. Er beugte sich herab zu ihr, und ergriff ihre abwehrende Hand. Er küßte die Hand, er küßte ihr das Haar und küßte wiederum ihre Hand – sie schwieg beharrlich. – Als er sie aber mit beiden Händen beim Kopfe nahm und „Kity“ sagte, da kam sie plötzlich zur Besinnung, brach in Thränen aus und war beschwichtigt.

Es wurde also bestimmt, daß man morgen vereint reiste. Lewin sagte zu seinem Weibe, daß er wohl glaube, sie wollte nur mitreisen, um ihm nützlich zu sein; er gab auch zu, daß Marja Nikolajewnas Aufenthalt bei dem Bruder nichts Anstößiges habe – reiste aber nichtsdestoweniger, auf dem Grund seiner Seele unzufrieden mit ihr und mit sich selbst.

Mit ihr war er unzufrieden, weil sie es nicht hatte über sich gewinnen können, ihn fort zu lassen, obwohl es doch notwendig war. Wie seltsam ward es ihm jetzt bei dem Gedanken, daß er, der ja noch vor kurzem nicht gewagt hatte, an das Glück zu glauben, daß sie ihn lieben könne, sich jetzt darüber unglücklich fühlte, daß sie ihn zu sehr liebte! – Mit sich hingegen war er unzufrieden, daß er seinen Willen nicht durchgesetzt hatte. Noch weniger war er im Grund seiner Seele damit einverstanden, daß sie mit jener Weibsperson, die bei seinem Bruder lebte, etwas zu thun haben sollte, und er dachte mit Schrecken an alle Berührungen, welche stattfinden konnten.

Schon das Eine, daß sein Weib, seine Kity, in einem Raume mit jenem Mädchen leben sollte, machte ihn schaudern vor Ekel und Entsetzen.

17

Das Gasthaus der Gouvernementsstadt, in welcher Nikolay Lewin krank lag, war eines jener Gouvernementshotels, wie sie nach neuen, vervollkommneten Mustern gebaut werden, ausgestattet mit den vorzüglichsten Rücksichtnahmen auf Sauberkeit, Komfort und selbst Eleganz, sich aber infolge des Publikums, das sie besucht, mit außerordentlicher Schnelligkeit in schmutzige Schenken, unter dem Anstrich zeitgemäßer Vervollkommnung, verwandeln, damit aber noch schlimmer werden, als die altmodischen, nur unsauberen Gasthäuser.

Das Hotel war schon in diesen Zustand geraten, und der Soldat in schmutziger Uniform, welcher am Eingang eine Cigarette qualmte, und das Amt eines Portiers versah, sowie die gußeiserne, zugige, düstere und unfreundliche Treppe, der freche Kellner in schmutzigem Frack und der öffentliche Salon mit dem staubbedeckten Bouquet von Wachsblumen, welches den Tisch zierte, der Staub und Schmutz, die Unordnung überall, und dazu noch die eigentümliche gleichzeitig bemerkbare Eisenbahnhast, riefen in dem Lewinschen Ehepaar nach dem jungen Eheleben ein beklemmendes Gefühl hervor; besonders beklemmend dadurch, daß sich der scheinbare Eindruck, den das Gasthaus machte, in keiner Weise mit dem vereinbarte, was beide darin erwartete.

Wie immer, so zeigte es sich auch jetzt, daß, nachdem sie die Frage, zu welchem Preise sie ein Zimmer zu haben wünschten beantwortet hatten, nicht ein einziges in gutem Zustande befindliches da war. Ein gutes Zimmer war von einem Eisenbahnrevisor besetzt, ein zweites von einem Moskauer Advokaten, ein drittes von der Fürstin Astaphjewa, die vom Dorfe gekommen war. Es blieb nur ein schmutziger Raum, neben dem man am Abend noch ein zweites freizumachen versprach.

Voll Verdruß über sein Weib, da es so kam, wie er erwartet hatte, und namentlich, daß er im Augenblick der Ankunft, wo ihm das Herz von Bewegung ergriffen war bei dem Gedanken, wie es mit dem Bruder stehen möge, Sorge für sie zu tragen hatte, anstatt sofort zu dem Bruder eilen zu können, führte Lewin seine Frau in das ihnen zugewiesene Zimmer.

„Geh, geh,“ sagte sie, ihn mit schüchternem, schuldbewußten Blick anschauend.

Schweigend schritt er aus der Thür und traf hier mit Marja Nikolajewna zusammen, die von seiner Ankunft erfahren hatte, aber nicht wagte, bei ihm einzutreten. Sie sah noch geradeso aus, wie er sie in Moskau gesehen hatte, das nämliche wollene Kleid, Arme und Hals nackt, und das nämliche, gutmütig stumpfe, nur etwas voller gewordene, pockennarbige Gesicht.

 

„Wie geht es? Was macht er? Wie?“

„Sehr schlecht. Er steht gar nicht mehr auf. Er hat Euch schon erwartet. Er – Ihr seid mit Eurer Gattin gekommen?“

Lewin verstand in der ersten Minute nicht, was sie in Verlegenheit setzte, doch klärte sie ihn sogleich auf.

„Ich will gehen – nach der Küche,“ sagte sie; „der Herr wird sich freuen. Er hat schon gehört, und kennt die Dame, und entsinnt sich ihrer noch vom Auslande her.“

Lewin verstand jetzt erst, daß sie seine Frau meine, wußte aber nicht, was er ihr antworten sollte.

„Kommt, kommt!“ sagte er.

Kaum hatte er sich jedoch zum Gehen angeschickt, als sich die Thür seines Zimmers öffnete und Kity herausblickte. Lewin errötete vor Scham und Ärger über sein Weib, das sich selbst und ihn in diese schwierige Situation gebracht hatte; Marja Nikolajewna errötete aber noch mehr. Sie drückte sich seitwärts, bis zum Weinen rot geworden und drehte die Zipfel ihres Tuches, die sie mit beiden Händen ergriffen hatte, in ihren roten Fingern, ohne zu wissen, was sie sagen oder anfangen sollte.

Im ersten Moment sah Lewin den Ausdruck einer lebhaften Neugier in dem Blick, mit welchem Kity auf dieses für sie unbegreifliche, schreckliche Weib schaute, aber dies währte nur einen Augenblick.

„Nun, wie ist es denn, wie ist es denn?“ wandte sie sich an ihren Gatten und an jene. „Was macht er?“ wandte sie sich an ihren Mann und dann an sie.

„Man kann indessen auf dem Korridor nicht sprechen!“ sagte Lewin sich voll Verdruß nach einem Herrn umblickend, welcher dröhnenden Schrittes, als wäre er ganz allein hier, soeben den Korridor hinabging.

„Nun, so kommt doch herein,“ sagte Kity, zu der sich emporrichtenden Marja Nikolajewna gewendet, fügte aber, als sie das erschreckte Gesicht ihres Mannes erblickte, sogleich hinzu, „oder geht, geht, und schickt nach mir,“ und wandte sich wieder in ihr Zimmer zurück.

Lewin ging zu seinem Bruder. Er hatte durchaus nicht erwartet, was er bei dem Bruder sah und empfand. Er hatte erwartet, noch den nämlichen Zustand der Selbsttäuschung zu finden, welcher – er hatte dies gehört – bei Brustleidenden so häufig sein soll, und der ihn während des Besuchs seines Bruders im Herbst so betroffen gemacht hatte. Er hatte erwartet, die physischen Anzeichen des nahenden Todes noch ausgeprägter zu finden, eine größere Schwäche und größere Magerkeit, aber es zeigte sich fast noch immer der nämliche Zustand. Er hatte erwartet, selbst wieder jenes Gefühl des Schmerzes über den Verlust des geliebten Bruders und des Entsetzens vor dessen Tode zu empfinden, welches er damals gehabt hatte, nur in noch höherem Grade. Er hatte sich selbst darauf vorbereitet, aber er fand etwas ganz Anderes.

In einem kleinen, unsauberen Zimmer, deren gemaltes Getäfel an den Wänden bespieen und hinter dessen dünner Zwischenwand Gespräch vernehmbar war, in einer von erstickendem Geruch verunreinigten Luft lag auf einem von der Wand abgerückten Bett ein vom Deckbett verhüllter menschlicher Körper. Ein Arm dieses Körpers lag oben auf der Bettdecke, und die große, wie eine Harke aussehende Hand dieses Armes hing auf unbegreifliche Weise an einer dünnen, langen, von Anfang bis zur Mitte gleichmäßig verlaufenden Spule fest. Der Kopf lag seitwärts gedreht auf dem Kissen. Lewin sah die schweißbedeckten, spärlichen Haare an den Schläfen und über der Stirn.

„Es kann nicht sein, daß dieser entsetzliche Körper mein Bruder Nikolay ist,“ dachte Lewin. Doch er trat näher, erblickte das Gesicht und sein Zweifel war schon unmöglich geworden. Trotz der furchtbaren Veränderung dieser Züge, mußte Lewin doch erst noch diese lebhaften, sich auf den Eintretenden richtenden Augen, und diese leichte Bewegung des Mundes unter dem zusammenklebenden Schnurrbart erblicken, wollte er die furchtbare Wahrheit begreifen, daß dieser Totenkörper da sein lebender Bruder war.

Die glänzenden Augen blickten ernst und vorwurfsvoll auf den eintretenden Bruder, und sogleich mit diesem Blicke entstand eine lebhafte Wechselbeziehung unter den Lebenden. Lewin fühlte sofort den Vorwurf in dem auf ihn gerichteten Blick, und Reue über sein eigenes Glück.

Als Konstantin Nikolays Hand ergriff, lächelte dieser. Sein Lächeln war schwach, kaum merklich, und trotz dieses Lächelns schwand der strenge Ausdruck seiner Augen nicht.

„Du hast wohl nicht erwartet, mich so zu finden,“ brachte er mit Anstrengung hervor.

„Ja – nein“ – sprach Lewin, in seinen eigenen Worten irre werdend. „Warum konntest du nicht früher von dir wissen lassen, zur Zeit meiner Verheiratung? Ich habe überall Nachforschungen nach dir angestellt.“

Es mußte gesprochen werden, damit man nicht schwieg, und er wußte doch nicht, was er sagen sollte, um so weniger, als sein Bruder nicht antwortete, sondern nur unverwandt schaute, und offenbar in den Sinn eines jeden Wortes eindringen wollte. Lewin teilte dem Bruder mit, daß auch seine Frau mit ihm gekommen sei. Nikolay drückte sein Vergnügen darüber aus, sagte aber, er fürchte, sie durch seinen Zustand zu erschrecken. Ein Schweigen trat ein. Plötzlich regte sich Nikolay und begann zu sprechen. Lewin erwartete etwas besonders Bedeutendes und Gewichtiges dem Ausdruck seines Gesichts nach, doch sprach Nikolay nur über seine Gesundheit. Er klagte den Doktor an, beklagte, daß er keinen berühmten Moskauer Arzt habe und Lewin erkannte, daß er noch immer Hoffnung hegte.

Die erste Minute des Schweigens benutzend, erhob sich Lewin, im Wunsche, wenigstens für eine Minute von dem peinigenden Gefühl erlöst zu sein, und sagte, daß er gehen wolle, um seine Frau herzuführen.

„Gut, ich will indessen anordnen, daß hier gesäubert wird. Es ist schmutzig hier und riecht übel, glaube ich. Mascha! Räume hier auf,“ sagte der Kranke mit Anstrengung, „und wenn du aufgeräumt hast, kannst du hinausgehen,“ fügte er hinzu, den Blick fragend auf den Bruder richtend.

Lewin antwortete nichts. Als er auf den Korridor hinaustrat, blieb er stehen. Er hatte gesagt, daß er seine Frau herführen wolle, jetzt aber, als er sich Rechenschaft von jenem Gefühl gab, welches er empfunden hatte, beschloß er, im Gegenteil zu versuchen, sie zu überreden, daß sie nicht zu dem Kranken gehe. „Wozu sie peinigen, wie ich mich peinige?“ dachte er.

„Nun? Was ist? Wie steht es?“ frug ihn Kity mit erschrecktem Gesicht.

„Ach, es ist doch entsetzlich, entsetzlich. Warum bist du nur mitgekommen?“ sagte Lewin.

Kity schwieg einige Sekunden, schüchtern und kläglich auf ihren Mann blickend; dann trat sie auf ihn zu und hing sich mit beiden Armen an seinen Ellbogen.

„Mein Konstantin! führe mich zu ihm, es wird uns zu Zweien leichter werden. Führe du mich nur, führe mich, bitte, und komm,“ sagte sie, „begreife doch, daß es mir bei weitem schwerer wird, dich zu sehen und ihn nicht. Dort werde ich vielleicht dir und ihm nützlich werden können. Bitte gestatte es!“ beschwor sie ihren Mann, als ob das Glück ihres Lebens hiervon abhinge.

Lewin mußte einwilligen und begab sich, nachdem er sich etwas erholt hatte, Marja Nikolajewna schon ganz vergessend, mit Kity wieder zu seinem Bruder.

Leisen Schrittes und unverwandt auf ihren Gatten blickend, welchem sie ihr mutiges und doch gefühlvolles Antlitz wies, betrat sie das Zimmer des Kranken und schloß, sich ohne Hast zurückwendend, geräuschlos die Thür. Mit unhörbaren Schritten näherte sie sich rasch dem Lager des Kranken und so herantretend, daß dieser den Kopf nicht zu drehen brauchte, nahm sie sogleich das Skelett seiner großen Hand in ihre frische, jugendliche, drückte sie und begann dann, mit jener, nur den Frauen eigenen, und nicht verletzenden stillen Lebhaftigkeit mit ihm zu sprechen.

„Wir sind uns in Soden begegnet, sind uns aber dort nicht bekannt gewesen,“ sagte sie, „Ihr habt da nicht vermutet, daß ich einmal Eure Schwester werden würde.“

„Ihr solltet Euch nicht nach mir erkundigt haben?“ frug er mit dem Lächeln, welches schon bei ihrem Eintreten aufleuchtete.

„Nein; dann hätte ich ja erfahren. Wie recht Ihr doch gethan habt, uns von Euch Nachricht zu geben! Kein Tag ist vergangen, daß Konstantin nicht Eurer gedacht und sich beunruhigt hätte um Euch.“

Die Lebhaftigkeit des Kranken währte indessen nicht lange. Sie hatte noch nicht aufgehört zu sprechen, als auf seinem Gesicht abermals der strenge vorwurfsvolle Ausdruck des Neides des Sterbenden gegenüber dem Lebenden erschien.

„Ich fürchte, Ihr werdet Euch hier nicht recht wohl befinden,“ sagte sie, sich von seinem starren Blicke abwendend und im Zimmer Umschau haltend. „Man muß bei dem Wirt ein anderes Zimmer erbitten,“ sagte sie zu ihrem Manne, „schon, damit wir näher sind.“

18

Lewin konnte den Bruder nicht ruhig ansehen, nicht natürlich und ruhig unbewegt in seiner Gegenwart sein. Als er bei dem Kranken eingetreten war, hatte sich sein Blick und seine Wahrnehmungskraft unbewußt verdunkelt, und er gewahrte nicht mehr die Einzelheiten des Zustandes seines Bruders. Er hörte von dem entsetzlichen Geruch, sah die Unsauberkeit, Unordnung und die peinvolle Lage, dieses Stöhnen, und fühlte, daß Hilfe nicht mehr möglich war. Es war ihm nicht einmal in den Sinn gekommen, daran zu denken, daß er alle Einzelheiten in dem Zustande des Kranken erfaßte, daß da unter der Decke dieser Körper lag, diese gekrümmten abgezehrten Beine, Brustknochen, dieser Rücken und ob es nicht anginge, das alles besser zu legen, etwas zu thun, was die Lage, wenn nicht besser, so doch weniger mißlich gestaltete. Kalt rieselte es ihm über den Rücken hinab, als er an alle diese Einzelheiten zu denken begann. Er war fest überzeugt, daß hier nichts mehr zu thun war, weder etwas für eine Verlängerung des Lebens, noch für eine Erleichterung der Leiden; doch das Bewußtsein, sich eingestehen zu müssen, jede Hilfe sei unmöglich, machte sich ihm schmerzlich fühlbar und versetzte ihn in Erbitterung. Lewin wurde es infolge dessen noch schwerer ums Herz. Der Aufenthalt in dem Zimmer des Kranken war qualvoll für ihn, nicht darin zu sein aber noch schlimmer. Unter verschiedenen Vorwänden begab er sich daher fortwährend hinaus, da er nicht die Kraft besaß, allein hier zu bleiben.

Kity aber dachte, fühlte und handelte durchaus nicht ebenso. Bei dem Anblick des Kranken jammerte es sie um ihn, und das Mitleid in ihrer Frauenseele erweckte durchaus nicht jenes Gefühl des Entsetzens und des Ekels bei ihr, wie es dies bei ihrem Manne hervorgerufen hatte, sondern lediglich die Erkenntnis ihrer Pflicht zu handeln, alle Einzelheiten seines Zustandes kennen zu lernen und ihnen beizukommen. Und da in ihr nicht der geringste Zweifel darüber bestand, daß sie ihm Hilfe leisten müsse, so zweifelte sie auch nicht daran, daß dies möglich sei und begab sich sofort ans Werk.

Alle jene Einzelumstände, deren bloße Vorstellung schon ihren Mann in Schrecken versetzt hatte, lenkten sogleich ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie schickte nach einem Arzt und in die Apotheke, befahl der mit ihr gekommenen Zofe, sowie Marja Nikolajewna, zu fegen, den Staub zu wischen und den Kranken zu waschen, wusch selbst mit ab, und reichte Etwas unter die Bettdecke. Gegenstände wurden herbeigebracht oder aus dem Krankenzimmer hinausgetragen nach ihrer Anordnung, und sie selbst begab sich mehrmals nach ihrem Zimmer, ohne die ihr begegnenden Herren zu bemerken, langte Betttücher und Überzüge, Handtücher und Hemden hervor und brachte sie herbei.

Der Diener, welcher im Gesellschaftssaale ein Essen für Ingenieure auszurichten hatte, erschien mehrere Male mit ärgerlicher Miene auf ihren Ruf, konnte aber nicht umhin, ihre Befehle zu erfüllen, da sie dieselben mit so wohlwollender Bestimmtheit erteilte, daß man sie unmöglich sich selbst überlassen konnte. Lewin hieß dies alles durchaus nicht gut; er glaubte nicht, daß daraus noch irgend ein Nutzen für den Kranken erwüchse, vor allem aber fürchtete er, der Kranke könne dabei noch in Aufregung geraten. Dieser jedoch verhielt sich, wenigstens wie es schien, dem gegenüber gleichgültig und geriet nicht in Erregung, sondern empfand nur eine gewisse Scham, interessierte sich aber im allgemeinen für das, was sie an ihm that. Vom Arzte zurückgekehrt, zu welchem Kity ihn gesandt hatte, fand Lewin, die Thüre öffnend, den Kranken in dem Moment, als man nach Kitys Anordnung seine Wäsche wechselte. Das lange bleiche Skelett des Rückens mit den großen hervorstehenden Schulterblättern, und den starrenden Rippen und Rückgratwirbeln war entblößt; Marja Nikolajewna und der Diener waren mit dem einen Hemdärmel in Unordnung geraten und konnten den langen herabhängenden Arm nicht hineinbringen. Kity, welche geschäftig die Thür hinter Lewin wieder schloß, hatte nicht nach dieser Seite geblickt, aber der Kranke stöhnte auf und sie wandte sich schnell zu ihm hin.

 

„Schneller,“ befahl sie.

„Ihr geht ja nicht,“ sagte der Kranke gereizt, „ich will selber“ —

„Was sagt Ihr?“ frug Marja Nikolajewna dazwischen.

Kity hatte jedoch gehört und verstanden, daß es ihm peinlich und unangenehm war, in ihrer Gegenwart entblößt zu sein.

„Ich sehe nicht hin, sehe nicht hin!“ sagte sie daher, den Arm richtend, „Marja Nikolajewna, tretet von dieser Seite, bringt ihn in Ordnung,“ fügte sie hinzu. – „Geh doch – bitte – in meinem kleinen Reisesack befindet sich ein Riechfläschchen,“ wandte sie sich an ihren Mann, „du weißt ja, in der Seitentasche. Bring es mir doch, während man hier noch vollends Ordnung macht.“

Als Lewin mit dem Riechfläschchen zurückkehrte, fand er den Kranken bereits wieder zurecht gelegt, und alles in seiner Umgebung völlig verwandelt. Der drückende üble Geruch war mit einer Atmosphäre von Essig und Parfüms vertauscht worden, welche Kity mit gespitzten Lippen und aufgeblasenen roten Wangen durch das Flacon umhersprengte. Von Staub war nichts mehr zu sehen und vor dem Bett lag ein Teppich. Aus dem Tische standen geordnet Flacons und Caraffen, lag auch die nötige Wäsche, sowie eine Arbeit in broderie anglaise von Kity. Auf einem andern Tische am Bett des Kranken, stand Getränk, ein Licht und Arzneipulver. Der Kranke selbst, gesäubert und gekämmt, lag in frischen Überzügen, auf hochgemachten Kissen und in weißem Hemd mit einem weißen Kragen um den unnatürlich dünnen Hals, und blickte mit einem Ausdruck von Hoffnung unverwandt auf Kity.

Der von Lewin herbeigebrachte, erst im Klub aufgefundene Arzt, war nicht der nämliche, welcher Nikolay Lewin sonst behandelte und mit welchem dieser unzufrieden war. Der neue Arzt langte ein Hörrohr hervor und behorchte den Kranken, schüttelte den Kopf, verschrieb eine Arznei, und erklärte mit großer Ausführlichkeit zunächst, wie die Arznei zu nehmen sei, und dann, welche Diät beobachtet werden sollte. Er empfahl rohe oder nur weichgekochte Eier, und Selterswasser mit warmer Milch von bestimmter Temperatur.

Nachdem der Arzt gegangen war, sagte der Kranke etwas zu seinem Bruder, allein Lewin vernahm nur die letzten Worte „deine Katja“; an dem Blicke jedoch, mit welchem jener sie anschaute, erkannte Lewin, daß sie gelobt worden sei. Er rief nun auch Katja, wie Nikolay sie genannt hatte.

„Mir ist schon bei weitem besser,“ sagte er, „bei Euch wäre ich freilich schon längst wieder gesund geworden. Wie wohl mir ist!“ Er ergriff ihre Hand und zog sie an seine Lippen, gab aber, wie in der Furcht, es möchte ihr dies unangenehm sein, seine Absicht auf, ließ die Hand sinken und streichelte sie nur. Kity faßte diese Hand mit ihren beiden Händen und drückte sie. „Jetzt legt mich auf die linke Seite und geht schlafen,“ fuhr er fort.

Niemand hatte verstanden, was er sprach, nur Kity hatte es erfaßt. Sie hatte es verstanden, weil sie fortwährend in Gedanken beobachtete, was er wünschen möchte.

„Auf die andere Seite,“ sagte sie zu ihrem Manne, „er schläft stets auf jener. Lege du ihn um, ich möchte nicht gern die Dienerschaft dazu rufen. Ich aber kann es nicht. Ihr könnt es auch nicht?“ wandte sie sich an Marja Nikolajewna.

„Ich fürchte mich,“ versetzte diese.

So entsetzlich es Lewin auch sein mochte, diesen grauenhaften Körper mit beiden Armen umfassen zu müssen und Stellen unter der Bettdecke zu berühren, von denen er nichts wissen mochte, machte Lewin, dem Einflusse seines Weibes nachgebend, das energische Gesicht, das dieses schon an ihm kannte und schickte sich dazu an, indem er die Arme vorstreckte, war aber bei aller seiner Kraft, von der seltsamen Schwere dieser ausgemergelten Glieder überrascht.

Während er ihn wandte, seinen Hals von dem abgezehrten, langen Arme umfaßt fühlend, drehte Kity schnell und leise das Kopfkissen um und schob es wieder unter, legte den Kopf des Kranken zurecht und ordnete ihm das spärliche Haar, welches wieder an den Schläfen klebte.

Der Kranke hielt des Bruders Hand in der seinen. Lewin fühlte, daß er etwas mit dieser Hand zu thun wünsche und dieselbe mit sich zog; erstarrend folgte er derselben. Nikolay führte seine Hand an die Lippen und küßte sie und Lewin erschauerte in Schluchzen und verließ, nicht fähig zu reden, das Gemach.