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Anna Karenina, 2. Band

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21

Seit der Minute, in welcher Aleksey Aleksandrowitsch aus den Erklärungen mit Betsy und mit Stefan Arkadjewitsch erkannt hatte, daß von ihm nur gefordert wurde, er möge sein Weib in Ruhe lassen, indem er sie nicht mehr mit seiner Gegenwart belästigte, und daß sein Weib selbst dies wünschte, fühlte er sich so verlassen, daß er keinen selbständigen Beschluß mehr zu fassen vermochte, nicht mehr wußte, was er jetzt wollte, und sich in die Hände von Leuten gebend, welche sich mit dem bekannten Vergnügen um seine Angelegenheiten kümmerten, auf alles nur billigende Antworten gab.

Nun nachdem Anna schon sein Haus verlassen hatte, und die Engländerin sandte, um ihn fragen zu lassen, ob sie mit ihm zusammen zu Mittag speisen werde oder allein, da erkannte er zum erstenmale klar seine Lage und erschrak über sie.

Am schwierigsten in dieser Lage war vor allem, daß er in keiner Weise seine Vergangenheit mit ihr so wie sie jetzt war, in Einklang und Harmonie bringen konnte. Nicht jene Vergangenheit, in der er glücklich mit seinem Weibe gelebt hatte, machte ihn ratlos. Den Übergang aus derselben zu der Erkenntnis der Untreue seines Weibes hatte er bereits wie ein Märtyrer durchlebt, der Zustand war schwer, aber er war ihm verständlich gewesen. Wäre sein Weib damals, nachdem sie ihm von ihrer Untreue Mitteilung gemacht, von ihm gegangen, so würde er erbittert, unglücklich gewesen sein, aber er hätte sich dann nicht in jener für ihn selbst unentwirrbaren, unbegreiflichen Lage befunden, in der er sich jetzt fühlte.

Er konnte sich durchaus nicht seine neuerliche Verzeihung vergeben, seine Versöhnlichkeit, seine Liebe zu dem kranken Weibe, und dem fremden Kinde, angesichts dessen, was jetzt war, das heißt, dessen, was er, gleichsam als Belohnung für alles dies, jetzt empfand, vereinsamt, beschimpft, verlacht, niemandem brauchbar und von allen verachtet.

In den ersten zwei Tagen nach der Abreise seines Weibes empfing Aleksey Aleksandrowitsch Bittsteller, den Geschäftsführer, begab sich ins Komitee, und ging zur Mittagstafel nach dem Salon wie gewöhnlich. Ohne sich Rechenschaft, weshalb er dies thue, zu geben, verwandte er alle Kräfte seines Geistes in diesen zwei Tagen nur darauf, ein ruhiges, ja selbst gleichmütiges Aussehen zu behaupten.

Indem er auf die Fragen, wie mit den Sachen und den Räumen der Anna Arkadjewna verfahren werden sollte, antwortete, machte er die gewaltigsten Anstrengungen über sich selbst, um den Anschein eines Mannes zu wahren, für den das stattgehabte Ereignis nicht unvorhergesehen gekommen sei, und nichts in sich trage, was aus der Reihe der gewöhnlichen Vorkommnisse heraustrete; und er erreichte seine Absicht! Niemand vermochte an ihm Anzeichen der Verzweiflung zu finden. Am zweiten Tag nach der Abreise aber, als Korney ihm die Rechnung vom Modewarenmagazin überreichte, welche Anna zu begleichen vergessen hatte, und meldete, der Commis sei selbst da, befahl Aleksey Aleksandrowitsch, diesen hereinkommen zu lassen.

„Entschuldigen Excellenz, daß ich zu stören wage. Aber wenn Excellenz befehlen, daß ich mich an gnädige Frau wende, so geruhen Excellenz wohl, deren Adresse mitzuteilen.“

Aleksey Aleksandrowitsch dachte nach, wenigstens wie es dem Commis schien, und setzte sich, abgewendet, plötzlich an seinen Tisch. Den Kopf in die Hände gestützt, verharrte er lange in dieser Stellung, einige Male zu sprechen versuchend, aber wieder innehaltend.

Die Empfindungen seines Herrn begreifend, bat Korney den Commis, ein ander Mal wiederzukommen. Nachdem Aleksey Aleksandrowitsch wieder allein war, erkannte er, daß er nicht die Kräfte besitze, die Rolle der Festigkeit und Ruhe noch weiter zu behaupten. Er befahl den auf ihn wartenden Wagen wieder auszuspannen, niemand vorzulassen, und ging auch nicht zur Mittagstafel.

Er fühlte, daß er diesem allgemeinen Andrang von Verachtung und Gefühllosigkeit, wie er beides auf den Zügen des Commis und Korneys und aller ohne Ausnahme, denen er in diesen zwei Tagen begegnet war, offen gesehen hatte, nicht widerstehen könne. Er fühlte, daß er die Gehässigkeit der Menschen nicht werde zurückweisen können, weil diese Gehässigkeit nicht davon herrührte, daß er ein Narr war – in diesem Falle hätte er schon sich bemühen können, als etwas Besseres zu erscheinen – sondern davon, daß er schmachvoll und widerlich unglücklich war.

Er wußte, daß man deswegen – eben deswegen, weil sein Herz zerrissen war – mit ihm mitleidlos sein würde. Er fühlte, daß die Menschen ihn vernichteten, wie man einen zerrissenen Hund, der vor Schmerz winselt, noch erwürgt. Er wußte, daß seine einzige Rettung vor den Menschen die war – seine Wunden vor ihnen zu verbergen – und er hatte dies zwei Tage unbewußt zu thun versucht, fühlte sich aber jetzt nicht mehr bei Kräften, diesen ungleichen Kampf fortzusetzen.

Seine Verzweiflung vergrößerte sich noch in dem Bewußtsein, daß er vollständig vereinsamt dastand mit seinem Leid. Nicht nur in Petersburg besaß er keinen einzigen Menschen, dem er alles hätte anvertrauen können, was er erfahren hatte, der in ihm nicht den hochgestellten Beamten, nicht das Mitglied der guten Gesellschaft bemitleidet hätte, sondern einfach den leidenden Menschen – nein, nirgends hatte er einen solchen Menschen.

Aleksey Aleksandrowitsch war als Waise aufgewachsen; sie waren ihrer zwei Brüder gewesen. Auf den Vater konnten sie sich nicht mehr besinnen, die Mutter war gestorben, als Aleksey Aleksandrowitsch zehn Jahre zählte. Das Vermögen war klein; der Onkel Karenin, ein hoher Beamter und einstiger Günstling des verstorbenen Kaisers, erzog die beiden.

Nachdem Aleksey Aleksandrowitsch das Gymnasium und die Universität mit Prämien absolviert hatte, betrat er sogleich mit Hilfe des Onkels die dienstliche Laufbahn und ergab sich von dieser Zeit an ausschließlich dem amtlichen Strebertum. Weder auf dem Gymnasium noch auf der Universität, oder später im Amte hatte Aleksey Aleksandrowitsch mit irgend jemand freundschaftliche Beziehungen angeknüpft. Sein Bruder war ihm der geistig zunächst stehende Mensch gewesen, doch hatte derselbe im Ministerium der äußeren Angelegenheiten gearbeitet, war stets im Auslande gewesen, und auch bald nach der Verheiratung Aleksey Aleksandrowitschs hier gestorben.

Während er eine Gouverneurstelle bekleidete, hatte die Tante Annas, eine reiche Dame im Gouvernement, den zwar nicht mehr jungen Mann, wohl aber jungen Gouverneur, mit ihrer Nichte bekannt gemacht, und ihn in eine Situation verwickelt, nach welcher er sich entweder erklären oder die Stadt verlassen mußte. Aleksey Aleksandrowitsch schwankte lange. Es gab damals ebenso viel Gründe für diesen Schritt, wie gegen denselben, und es gab keinen entscheidenden Anlaß, der ihn bewogen hätte, seinen Grundsatz, sich im Unentschiedenen zu erhalten, zu ändern. Die Tante Annas indessen hatte ihm bereits durch einen Bekannten zu verstehen geben lassen, daß er das junge Mädchen bereits kompromittiert habe und die Rücksicht auf seine Ehre ihn zwingen müsse, einen Antrag zu machen. Er machte den Antrag, und weihte seiner Braut und Frau alles Gefühl, dessen er fähig war.

Jene Anhänglichkeit, die er für Anna empfand, schloß in seiner Seele auch die letzten Voraussetzungen für eine Unterhaltung herzlicher Beziehungen zu den Menschen aus, und jetzt besaß er unter allen seinen Bekannten keinen Vertrauten. Er besaß wohl viel von dem, was man Verbindungen nennt, Freundschaftsverhältnisse aber hatte er nicht. Aleksey Aleksandrowitsch hatte auch viele, die er zu sich zur Tafel einladen, um Teilnahme in einer ihn interessierenden Sache bitten konnte, um Protektion eines Petenten, mit denen er sich aufrichtig über die Thätigkeit anderer Männer und der höchsten Regierungsstelle äußern konnte – aber seine Beziehungen zu diesen Personen waren in einem durch Sitte und Gewohnheit festbestimmten Bereich begrenzt, aus dem es unmöglich war, herauszutreten. Es war da ein Universitätsfreund, welchem er sich später wieder genähert hatte, und mit dem er über sein persönliches Leid hätte sprechen können, aber dieser Kamerad war Inspizient eines ferngelegenen Lehrbezirks. Unter den Personen, welche in Petersburg waren, standen ihm am nächsten und waren noch die denkbarsten von allen der Kanzleidirektor und sein Arzt.

Michail Wasiljewitsch Sljudin, war ein einfacher, verständiger, guter und moralischer Mensch, und in ihm verspürte Aleksey Aleksandrowitsch eine persönliche Neigung für sich, aber ihre fünfjährige amtliche Thätigkeit hatte zwischen beiden eine Schranke für seelische Beziehungen aufgerichtet.

Aleksey Aleksandrowitsch, die Unterschrift der Papiere beendend, schwieg lange, auf Michail Wasiljewitsch blickend, und versuchte mehrmals zu sprechen, ohne daß er es vermochte. Er hatte schon den Satz vorbereitet „habt ihr von meinem Unglück gehört?“ Aber er vollendete damit, daß er, wie gewöhnlich sagte, „macht mir das also fertig,“ womit er ihn entließ.

Der zweite Mensch war sein Arzt, der gleichfalls freundschaftlich gesinnt für ihn war, aber zwischen ihnen bestand schon seit langem ein schweigendes Einverständnis darüber, daß sie beide mit Geschäften überhäuft wären, und sich beeilen müßten.

An seine weiblichen Freunde, selbst an den nervösesten unter ihnen, die Gräfin Lydia Iwanowna, hatte Aleksey Aleksandrowitsch nicht gedacht. Alle Weiber, schlechtweg als Weiber, waren ihm furchtbar und widerlich.

22

Aleksey Aleksandrowitsch hatte die Gräfin Lydia Iwanowna vergessen, diese aber nicht ihn. In der schwersten Minute seiner Vereinsamung und Verzweiflung gerade kam sie zu ihm und trat ohne Meldung in sein Kabinett. Sie traf ihn in der Stellung, in welcher er gesessen hatte, den Kopf auf beide Arme gestützt.

J'ai forcé la consigne,“ sagte sie, indem sie mit schnellen Schritten und schwer atmend vor Erregung und der schnellen Bewegung eintrat. „Ich habe alles gehört! Aleksey Aleksandrowitsch! – Mein Freund!“ – fuhr sie fort, mit beiden Händen fest die seine drückend und ihm mit ihren schönen, sinnigen Augen ins Auge blickend.

 

Aleksey Aleksandrowitsch verfinsterte sich, erhob sich ein wenig, und schob ihr, seine Hand von ihr losmachend, einen Stuhl zu.

„Nicht gefällig, Gräfin? Ich empfange nicht, weil ich krank bin,“ sagte er und seine Lippen bebten.

„Mein Freund!“ wiederholte die Gräfin Lydia Iwanowna, ohne die Augen von ihm zu verwenden, und plötzlich hoben sich ihre Brauen mit den inneren Seiten, ein Dreieck auf der Stirn bildend, und ihr unschönes gelbes Gesicht wurde noch unschöner; doch Aleksey Aleksandrowitsch empfand, daß sie ihn bemitleide und im Begriff war, zu weinen. Auch ihn überkam eine weiche Stimmung; er ergriff ihre fleischige Hand und küßte sie. „Mein Freund!“ sagte sie mit von Erregung unterbrochener Stimme. „Ihr dürft Euch dem Schmerz nicht so hingeben. Euer Leid ist groß, aber Ihr müßt Trost finden.“

„Ich bin zerschmettert, vernichtet, ich bin kein Mensch mehr,“ sagte Aleksey Aleksandrowitsch, ihre Hand freilassend, aber weiter, in ihre von Thränen gefüllten Augen schauend. „Meine Lage ist furchtbar dadurch, daß ich nirgends, in mir selbst nicht einmal, einen Stützpunkt dafür finde.“

„Ihr werdet eine Stütze finden; sucht sie aber nicht in mir; obwohl ich Euch bitte, an meine Freundschaft zu glauben,“ antwortete sie mit einem Seufzer, „unsere Stütze ist die Liebe, jene Liebe, die der da droben uns gegeben hat. Eine Bürde in ihm ist leicht,“ sagte sie mit jenem verzückten Blick, den Aleksey Aleksandrowitsch so gut kannte, „er wird Euch halten und Euch beistehen!“

Trotzdem, daß in diesen Worten sowohl das Mitleid mit seinen erhabenen Empfindungen, wie auch jene, Aleksey Aleksandrowitsch überflüssig erscheinende, neue verzückte, erst seit kurzem in Petersburg verbreitete, mystische Stimmung lag, war es diesem angenehm, sie jetzt zu vernehmen.

„Ich bin schwach. Ich bin vernichtet. Ich habe nichts vorausgesehen und fasse jetzt nichts.“

„Mein Freund,“ wiederholte Lydia Iwanowna.

„Nicht der Verlust dessen ist es, was jetzt nicht mehr ist, nicht dies!“ fuhr Aleksey Aleksandrowitsch fort, „ich klage um nichts. Aber ich muß mich schämen vor den Menschen wegen der Lage, in der ich mich befinde. Das ist schlimm, aber ich kann nicht, kann nicht anders.“

„Nicht Ihr habt jene erhabene That der Vergebung ausgeführt, von der ich entzückt bin, wie jedermann, sondern der droben, der in Eurem Herzen wohnt,“ sagte die Gräfin Lydia Iwanowna, verzückt die Augen hebend, „und daher dürft Ihr Euch Eurer Handlungsweise nicht schämen.“

Aleksey Aleksandrowitsch verzog das Gesicht und begann, die Hände hinter sich nehmend, mit den Fingern zu knacken.

„Man muß eben alle Einzelheiten kennen,“ sagte er mit dünner Stimme, „die Kräfte des Menschen haben ihre Grenze, Gräfin, und ich habe die Grenze der meinigen gefunden. Den ganzen Tag jetzt muß ich Verfügungen treffen, Verfügungen über das Hauswesen, die sich für mich ergeben haben“ – er betonte das letztere Wort – „aus meiner neuen, vereinsamten Stellung. Das Gesinde, die Gouvernante, die Rechnungen – dieses Kreuzfeuer hat mich versengt und ich war nicht bei Kräften, es zu ertragen. Bei Tische – ich bin gestern kaum seit der Mittagstafel hinausgekommen. Ich konnte es nicht ertragen, wie mich mein Sohn anblickte. Er frug mich nicht, was das alles bedeuten solle, aber er wollte fragen, und ich konnte diesen Blick nicht ertragen. Er fürchtete, mich anzuschauen, aber das ist noch wenig“ – Aleksey Aleksandrowitsch wollte jener Rechnung Erwähnung thun, die man ihm gebracht hatte, doch seine Stimme begann zu zittern und er hielt inne. An diese Rechnung auf blauem Papier, mit den Hüten und Bändern, konnte er nicht ohne Mitleid mit sich selbst denken.

„Ich verstehe, mein Freund,“ sagte die Gräfin Lydia Iwanowna. „Ich verstehe alles. Hilfe und Trost werdet Ihr nicht in mir finden, aber ich bin dennoch nur deshalb gekommen, Euch beizustehen, wenn ich kann. Wenn ich doch alle diese kleinlichen, erniedrigenden Mühewaltungen von Euch nehmen könnte. Ich verstehe, daß hier ein Frauenwort, ein weibliches Regiment not thut. Vertraut Ihr es mir an?“

Aleksey Aleksandrowitsch drückte ihr schweigend und dankerfüllt die Hand.

„Wir wollen uns mit dem kleinen Sergey beschäftigen. Ich bin nicht stark in praktischen Dingen. Aber ich werde mich nützlich machen und Eure Hausverwalterin sein. Dankt mir nicht. Ich thue das nicht von mir aus.“ —

„Ich muß danken.“

„Aber, mein Freund, überlaßt Euch nicht diesem Gefühl, von welchem Ihr gesprochen habt – daß Ihr Euch dessen schämtet, was das höchste Gebot des Christen ist: Wer sich selbst erniedrigt, der soll erhöht werden. Und danken könnt Ihr nicht mir. Ihm ist zu danken, ihn muß man um Hilfe bitten, in ihm allein finden wir Ruhe, Trost, Heil und Liebe,“ sagte sie, und die Augen zum Himmel emporhebend, begann sie zu beten, wie Aleksey Aleksandrowitsch aus ihrem Schweigen erkannte.

Aleksey Aleksandrowitsch vernahm sie jetzt auch, und jene Ausdrücke, welche ihm früher, wenn nicht unangenehm, so doch überflüssig erschienen waren, kamen ihm jetzt natürlich und tröstlich vor. Aleksey Aleksandrowitsch liebte diesen neuen, verzückten Geist nicht; er war ein religiöser Mensch, der sich für Religion hauptsächlich im politischen Sinne interessierte, aber die neue Lehre, die sich mehrere neue Auslegungen gestattete, war ihm deshalb besonders, weil sie dem Streit und der Analyse Thür und Thor öffnete, grundsätzlich unangenehm. Früher hatte er sich kühl, ja selbst feindselig gegen diese neue Lehre verhalten, und mit der Gräfin Lydia Iwanowna, die von derselben eingenommen worden war, zwar nie gestritten, aber geflissentlich durch Schweigen ihre Herausforderungen umgangen. Jetzt nun zum erstenmal hörte er ihre Worte mit Befriedigung und widersprach ihnen innerlich nicht.

„Ich bin Euch sehr, sehr dankbar, sowohl für Eure Thaten als für Eure Worte,“ sprach er, als sie mit Beten fertig war.

Die Gräfin Lydia Iwanowna drückte ihrem Freunde nochmals beide Hände.

„Jetzt will ich ans Werk gehen,“ sagte sie lächelnd, nachdem sie eine Weile geschwiegen und sich die Spuren der Thränen aus dem Gesicht gewischt hatte. „Ich werde zu Sergey gehen, und mich nur im äußersten Notfall an Euch wenden.“ Sie erhob sich und ging hinaus.

Die Gräfin Lydia Iwanowna begab sich zu Sergey und erzählte dem erschreckten Knaben, ihm die Wangen mit Thränen bethauend, daß sein Vater ein Heiliger und seine Mutter gestorben sei.

Die Gräfin Lydia Iwanowna erfüllte ihr Versprechen. Sie nahm in der That alle Sorgen und das Arrangement und die Hausverwaltung Aleksey Aleksandrowitschs auf sich, hatte aber nicht übertrieben, wenn sie sagte, daß sie in praktischen Dingen nicht stark sei. Alle ihre Anordnungen mußten abgeändert werden, da sie unausführbar waren, und sie wurden abgeändert durch Korney, den Kammerdiener Aleksey Aleksandrowitschs, der jetzt, ohne daß dies jemand merkte, das ganze Haus Karenins leitete, und ruhig und schonungsvoll während des Ankleidens seinem Herrn berichtete, was notwendig war. Gleichwohl aber blieb die Hilfe Lydia Iwanownas im höchsten Grade wesentlich: sie verlieh Aleksey Aleksandrowitsch eine moralische Stütze in der Erkenntnis ihrer Liebe und Achtung für ihn, und insbesondere darin, daß sie ihn, – es war ihr dies ein tröstlicher Gedanke – fast zum Christentum bekehrte, das heißt, aus einem gleichgültig und träg Religiösgesinnten zum eifrigen und festüberzeugten Parteigänger jener neuen Offenbarung der christlichen Lehre machte, welche sich in der jüngsten Zeit in Petersburg verbreitet hatte.

Aleksey Aleksandrowitsch wurde es leicht, sich von dieser Lehre überzeugen zu lassen. Er ebenso wie Lydia Iwanowna und andere Leute, die ihre Anschauungen zersplitterten, war einer wahrhaft vertieften Vorstellungskraft, jener geistigen Fähigkeit, dank welcher die Vorstellungen, welche von der Phantasie so hervorgerufen sind, ja thatsächlich werden, daß sie mit den anderen Vorstellungen und mit der Wirklichkeit einen Einklang fordern, völlig beraubt. Er erblickte nichts Unmögliches und Ungestaltes in der Vorstellung, daß der Tod, für die Ungläubigen wirklich vorhanden, für ihn aber nicht da sei, und daß, da er den wahrsten Glauben besitze, über den er selbst Richter wäre, auch keine Sünde mehr in seiner Seele sei, und er schon hier auf Erden ein volles Seelenheil kennen lerne.

Allerdings wurde die Leichtfertigkeit und Fehlerhaftigkeit dieser Vorstellung von seinem eignen Glauben Aleksey Aleksandrowitsch dunkel fühlbar, und er wußte, daß er, wenn er ohne daran zu denken, daß seine Verzeihung die Wirkung einer höheren Kraft gewesen war, sich diesem Gefühl unmittelbar hingab, mehr Glück verspürte, als wenn er, wie jetzt, jede Minute dachte, daß Christus in seiner Seele sei und er, wenn er Akten unterschrieb, damit nur dessen Willen erfülle. Aleksey Aleksandrowitsch war es indessen so unumgänglich notwendig, so zu denken, es war ihm so notwendig, in seiner Herabwürdigung eine, wenn auch nur erklügelte, Erhabenheit zu besitzen, mit welcher er, von allen sonst verachtet, auch alle selbst verachten konnte, daß er sich, wie an eine Rettung, an sein vermeintliches Seelenheil anklammerte.

23

Die Gräfin Lydia Iwanowna war noch als sehr junges, exaltiertes Mädchen an einen reichen, vornehmen, sehr gutmütigen und sehr ausschweifenden Lebemann verheiratet worden.

Im zweiten Monat schon vernachlässigte sie ihr Gatte und antwortete auf die exaltierten Versicherungen ihrer zärtlichen Gesinnung für ihn nur mit Spott, ja selbst Feindseligkeit, welche sich diejenigen, die das gute Herz des Grafen kannten, und keinerlei Fehler in der verzückten Lydia wahrnahmen, nicht erklären konnten.

Seit jener Zeit lebten beide, wenn auch nicht getrennt, so doch gesondert, und wenn der Gatte seiner Frau begegnete, dann trug er gegen sie einen sich stets gleichbleibenden beißenden Sarkasmus zur Schau, dessen Ursache man nicht begreifen konnte.

Die Gräfin Lydia Iwanowna hatte schon längst aufgehört, in ihren Mann verliebt zu sein, hörte aber von da an nie mehr auf, in irgend jemand sonst verliebt zu sein. Sie war in Mehrere zugleich verliebt, in Männer wie in Frauen; sie war in fast alle Menschen verliebt, die irgendwie besonders hervortraten. Sie war verliebt in alle neuen Prinzessinnen und Prinzen, die mit der Familie des Zaren in Verwandtschaft traten, sie war verliebt in einen Metropoliten, einen Vizegeistlichen und einen Kapellan. Sie war verliebt in einen Journalisten, drei Slovenen und in Komissaroff, in einen Minister, einen Arzt, einen englischen Missionär und in Karenin. Alle diese Liebesverhältnisse, bald sich abschwächend, bald stärker werdend, behinderten sie nicht in der Unterhaltung der verzweigtesten und verwickeltsten Beziehungen mit dem Hof und der Gesellschaft, aber seit der Zeit, da sie nach dem Verhängnis, welches Karenin betroffen, diesen unter ihre Fürsorge genommen hatte, seit der Zeit, da sie im Hause Karenins waltete, in der Sorge um dessen Wohlergehen, empfand sie, daß alle die übrigen Liebesverhältnisse keine echten gewesen waren, und sie jetzt wahrhaft nur in Karenin allein verliebt war.

Das Gefühl, welches sie jetzt für diesen empfand, erschien ihr stärker, als alle früheren Gefühle, und indem sie dasselbe untersuchte und es mit diesen verglich, erkannte sie klar, daß sie in Komissaroff nicht verliebt gewesen sein würde, wenn er nicht das Leben des Zaren gerettet hätte, daß sie in Ristitsch-Kudschizkiy nicht verliebt gewesen sein würde, wenn es keine slavische Frage gäbe, daß sie aber Karenin um seiner selbst willen liebte, um seines hohen, nicht zu erfassenden Geistes, des milden, für sie so zarten Klanges seiner Stimme mit ihren gedehnten Accenten, um seines matten Blickes, seines Charakters, seiner weichen weißen Hände mit den aufgetretenen Adern willen.

Sie freute sich nicht nur der Begegnung mit ihm, sie suchte auch auf seinem Gesicht Kennzeichen des Eindruckes, den sie auf ihn machte. Sie wollte ihm nicht nur in ihren Reden gefallen, sondern mit ihrer ganzen Persönlichkeit. Ihm zu Liebe beschäftigte sie sich jetzt mehr mit ihrer Toilette, als je zuvor. Sie ertappte sich auf Träumereien, was wohl geschehen könne, wenn sie nicht verheiratet und er frei wäre. Sie errötete vor Vergnügen, wenn er in das Zimmer trat, und konnte ein Lächeln des Entzückens nicht unterdrücken, wenn er ihr etwas Angenehmes sagte.

Schon mehrere Tage befand sich die Gräfin Lydia Iwanowna in einer sehr starken Aufregung. Sie hatte erfahren, daß Anna und Wronskiy wieder in Petersburg seien. Man mußte Aleksey Aleksandrowitsch vor dem Wiedersehen mit ihr bewahren, man mußte ihn bewahren selbst vor der qualvollen Kenntnisnahme davon, daß dieses furchtbare Weib in ein und derselben Stadt mit ihm sei und er ihr jeden Augenblick begegnen könne.

 

Lydia Iwanowna erforschte durch ihre Bekannten, was jene „widerlichen Menschen“, wie sie Anna und Wronskiy nannte, zu thun beabsichtigten, und bemühte sich nun während dieser Tage, alle Bewegungen ihres Freundes zu leiten, damit er ihnen nicht begegnen könnte.

Ein junger Adjutant, ein Freund Wronskiys, durch welchen sie ihre Nachrichten empfangen hatte, und der durch die Gräfin Lydia Iwanowna eine Konzession zu erhalten hoffte, teilte ihr mit, daß die beiden ihre Angelegenheiten ordneten und am nächsten Tage abreisen würden.

Lydia Iwanowna war schon ruhiger geworden, als man ihr am andern Morgen ein Billet brachte, dessen Handschrift sie mit Entsetzen erkannte.

Es war die Handschrift Anna Kareninas. Das Couvert bestand aus dickem, rindenartigem Papier, war länglich und von gelber Farbe und trug ein großes Monogramm, während das Schreiben selbst Wohlgerüche ausströmte.

„Wer hat das gebracht?“

„Ein Beauftragter aus dem Hotel.“

Die Gräfin Lydia Iwanowna vermochte lange nicht, sich zu setzen und den Brief zu lesen. Sie bekam vor Aufregung einen Anfall von Atemnot, an der sie litt. Nachdem sie sich indes beruhigt hatte, las sie folgendes, französisch abgefaßte Schreiben:

Madame la Comtesse! Die christlichen Gefühle, welche Ihr Herz erfüllen, verleihen mir die, ich fühle es, unverzeihliche Kühnheit, Ihnen zu schreiben. Ich bin unglücklich über die Trennung von meinem Sohne. Ich flehe Sie um die Erlaubnis an, ihn nur ein einziges Mal sehen zu dürfen vor meiner Abreise. Verzeihen Sie mir, daß ich Ihnen mich selbst in Erinnerung bringe, ich habe mich an Sie, und nicht an Aleksey Aleksandrowitsch nur deshalb gewandt, weil ich diesen hochherzigen Mann nicht veranlassen will, in der Erinnerung an mich, zu leiden. Da ich Ihre freundschaftliche Gesinnung für ihn kenne, werden Sie mich verstehen. Senden Sie Sergey zu mir, oder soll ich ins Haus kommen zu der üblichen, festgesetzten Stunde – oder würden Sie mich wissen lassen, wann und wo ich ihn außerhalb des Hauses sehen kann? Ich versehe mich nicht einer Verweigerung, da ich die Großmut dessen kenne, von dem dies abhängt. Sie können sich die heiße Sehnsucht ihn zu sehen nicht vorstellen, die ich empfinde, und daher auch nicht die Dankbarkeit, die Ihr Beistand in mir hervorrufen würde.

Anna.“

Alles in diesem Briefe versetzte die Gräfin Lydia Iwanowna in Zorn; sowohl der Inhalt im allgemeinen, als der Hinweis auf Großmut und insbesondere der, wie ihr schien, frivole Ton.

„Sag', es gebe keine Antwort,“ sprach die Gräfin Lydia Iwanowna, und schrieb sogleich an Aleksey Aleksandrowitsch, sie hoffe, ihn um ein Uhr zur Hofcour zu sehen.

„Ich habe mit Euch über eine wichtige und traurige Angelegenheit zu sprechen, und dort wollen wir verabreden, wo dies geschehen kann. Am besten wohl bei mir, wo ich den Thee so wie Ihr ihn ja liebt, bereiten lassen werde. Es ist unbedingt notwendig. Gott legt uns das Kreuz auf, aber er giebt uns auch die Kraft,“ fügte sie hinzu, um ihn doch wenigstens in Etwas vorzubereiten.

Die Gräfin Lydia Iwanowna schrieb gewöhnlich zwei oder drei Briefe täglich an Aleksey Aleksandrowitsch. Sie liebte diese Verkehrsweise mit ihm, da sie an sich Eleganz und Diskretion besaß, wie sie sich ihr in persönlichen Beziehungen nicht bot.